Am Ende von Brucio nel vento (Ich brenne im Wind), dem italienischen Wettbewerbsbeitrag von Silvio Soldini (Brot und Tulpen), ist Italien ein weiteres Mal das Land der Verheißung - nicht einer biblischen wie in Tom Tykwers Heaven, sondern einer ganz realen. Der Tscheche Tobias war einst als Junge aus seinem Heimatland geflohen, weil er vermeintlich seinen Vater umgebracht hatte, den verheirateten Liebhaber seiner Mutter, der Dorfhure. Im schweizerischen Exil findet er nach 25 Jahren die Liebe seiner Kindheit wieder. Line, wie er sie nennt, war seine Banknachbarin in der ersten Klasse und die Tochter des Dorfschullehrers, des Liebhabers von Tobias Mutter. In der Schlusssequenz liegen beide, nach ihrer Flucht aus der Schweiz, an einem italienischen Strand. Von einer Sprachkassette lernt sie den Unterschied zwischen Stangen- und Kugeleis. Sie haben für den Traum ihrer Liebe einen Ort und in Italien eine neue Heimat gefunden.
Das müsste dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi gefallen, wären Line und Tobias nicht Emigranten, noch dazu aus Osteuropa und obendrein Intellektuelle. Tobias ist Schriftsteller, Line Literaturwissenschaftlerin. Während Berlusconi den Rassismus lieber den Kollegen Fini und Bossi überlässt, liegt sein innenpolitisches Hauptaktionsfeld nämlich im Schüren der Verachtung von Intellektuellen und Künstlern. Der viel geschmähte Kleinbürger und Parvenü Berlusconi, die These ist nicht neu, dürfte vor allem wegen seines Intellektuellenhasses der kleinbürgerlichen italienischen Gesellschaft aus dem Herzen gesprochen haben, die ihn dafür 2001 erneut wählte: Es ist die Intelligenz des "furbo", des merkantilen Schlaufuchses, für die Berlusconi steht und die, so scheint es, ein italienischer Traum ist.
Das Gegenteil des "furbo" ist der Intellektuelle. Dass diesem aber von der linksliberalen Opposition, dem sogenannten "Olivenbündnis" und seinen Führern Massimo d´Alema und Francesco Rutelli eine ebensolche Verachtung entgegenschlägt, zeigte sich kürzlich bei einer Protestveranstaltung gegen Berlusconi in Rom, bei der der Filmemacher Nanni Moretti (Das Zimmer meines Sohnes) der Leitung der Opposition Unfähigkeit vorwarf und dafür prompt verächtlich als "Künstler" abgestraft wurde.
Dieses Klima der Verachtung scheint kein rein italienisches Phänomen zu sein. Im Rahmen des Friedensfilmpreises auf der Berlinale wurde am vergangenen Samstag der Film Un mondo diverso è possibile (Eine andere Welt ist möglich) eines italienischen Autorenkollektivs vorgeführt (siehe Freitag vom 8.2.), um anschließend auf dem Podium die italienischen Verhältnisse seit den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua im Juli letzten Jahres (die der Film dokumentiert) zu diskutieren. Auch bei dieser Veranstaltung fanden sich, in Abwandlung des Schimpfwortes des Jahres, "Intellektualitätsallergiker". Das ist nicht Einzelnen zuzuschreiben, sondern betrifft eher die Stimmung während der Veranstaltung.
So waren es in erster Linie die zahlreichen jüngeren Leute im Publikum, darunter auch Mitglieder der deutschen Sektion von Attac, und von den Verhaftungen der italienischen Polizei direkt Betroffene, die eher leise als laut ihren Unmut über die salbungsvolle Eröffnungsrede und dann den Film zum Ausdruck brachten. Ihrem Veränderungswillen, ihrer Handlungsbereitschaft und auch ihren Erfahrungen stand die eher impressionistische Betrachtungsweise des Films entgegen. Die 33 beteiligten Regisseure, unter ihnen so große Namen wie die Brüder Taviani oder Ettore Scola, die die Glanzzeiten des italienischen Kinos der sechziger und siebziger Jahre repräsentieren, scheinen das Projekt als Verjüngungskur empfunden zu haben. So schwärmte der ehemalige Leiter der Filmfestspiele von Venedig, Gillo Pontecorvo auf dem Podium von der "Schönheit der Jugend" und deren "Lebendigkeit im friedlichen und unideologischen Protest gegen die Globalisierung". Allein, mit seinen dokumentarischen Bildern von "fröhlichen, phantasievollen Demonstranten" und mit der aufdringlichen Einspielung von Revolutionsfolklore wie der Musik von Bob Marley oder Manu Chao, verwischt der Film die Differenz zwischen Teilnehmern und Beobachtern, zwischen "Jung und Alt", zwischen Akteuren und Reflektierenden, zwischen Realität und Film.
Besonders deutlich wird dieses Einebnen vorhandener Unterschiede an den im letzten Drittel des Films gezeigten, hilflosen, weil in nichts von der gescholtenen medialen Sensationsdarstellung zu unterscheidenden Bildern der Polizeiübergriffe und dem Tod Carlo Giulianis. Einzig in den zu Beginn mehrmals eingeschnittenen Szenen, die im hermetisch abgeriegelten Teil der Stadt aufgenommen wurden, wo kein Demonstrant hinkam, entwickelt der Film einen eigenen Blick. Die gespenstische Ruhe und Menschenlosigkeit der Straßen und Plätze wirkt verstörend, als sähe man eine Stadt nach einem Neutronenbombenangriff. Im Gegensatz dazu wirken die Bilder der Demonstrationen tatsächlich wie aus einer anderen Welt.
Akademische Bilder, akademisches Gequatsche - wichtig ist die Erfahrung des Agierens, so könnte man böse den Aufruf eines jungen Mannes zu Spenden für die Verhaftungsopfer von Genua während der Veranstaltung zuspitzen. Entsprechend erntete ein Vertreter der Zeitschrift Lettre International dann höhnisches Gelächter, als er die Nobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin Rigoberta Menchú nicht erkannte und nach "der Frau im Wohnzimmer" fragte, die im Film ebenso zu sehen war wie gegen das Regime protestierende Exiliraner, die der Mann als "islamische Extremisten" bezeichnete.
So scheint das auch in Deutschland zu bemerkende anti-intellektuelle Klima (für das zum Beispiel der Machertypus Gerhard Schröder steht), vor allem auf der Unvermittelbarkeit von Erfahrung und Denken, von Handlung und Reflektion zu beruhen. Anders als noch in den sechziger und siebziger Jahren im Falle von Pier Paolo Pasolini in Italien oder Hans Magnus Enzensberger in Westdeutschland wird den Intellektuellen heute die Notwendigkeit eines Möglichkeitsdenkens - und damit die Existenzberechtigung - und die Kompetenz dazu abgesprochen. Un mondo diverso è possibile beispielsweise verwechselt die Praxis des (kinematografischen) Denkens mit der Praxis des Protests, so wie umgekehrt die "Protestierer" im Publikum der Veranstaltung den Film nur als Vehikel ihrer eigenen Erfahrung gelten lassen wollten. So krankt die neue Intellektuellenverachtung an der Unfähigkeit, Denken und Handeln anders als in der Opposition von Theorie und Praxis zu begreifen.
Die junge italienische Regisseurin Nina di Majo hat in ihrem Debütfilm L´inverno (Winter), den sie auf der Berlinale vorstellte, das Prinzip dieser anti-intellektuellen Haltung in einem paradoxen Beziehungsdrama inszeniert. Marta (Valeria Bruni Tedeschi) und Leo (Fabrizio Gifuni), beide um die 30, leben seit Jahren in friedlicher Entfremdung zusammen. Er ist erfolgreicher Schriftsteller in einer Schreibkrise, sie eine ebenso erfolgreiche Galeristin. Er liebt die Literatur, sie die bildende Kunst. Er aber sieht sich keine Bilder an und sie liest keine Bücher. So ist ganz äußerlich das Paradox dieser Beziehung und zugleich das der Intellektuellen beschrieben. Die Sprachlosigkeit der Beziehung findet ihren Ausdruck in der anti-intellektuellen Haltung noch unter dem intellektuellen Paar. Mit einer Distanz, die nie in die Psychologie der Figuren eindringen mag, zeigt der Film dieses Drama. Er inszeniert die hilflosen Gesten der Verständigungsversuche als scheiternde narzisstische Posen, die von außen betrachtet fast pathologisch wirken. Die ausgestellte Vereinzelung des Schweigens und Sprechens, untermalt von niederfrequenter Musik, führt einen künstlichen Raum der Seele vor und macht zugleich ihre Realität erfahrbar.
Im Sinne solcher Inszenierung von Erfahrung ist L´inverno ein intellektueller, aber eben kein akademischer Film. Er steht damit in einer Reihe von Filmen jüngerer italienischer Regisseure wie Francesca Archibugi, Carola Spadoni, Pappi Corsicati oder eben Silvio Soldini. Sie haben sich von den in den neunziger Jahren in Italien vorherrschenden extrem stilisierten oder unendlich konventionellen Filmen gelöst und wieder ein Kino auf den Weg gebracht, dass die große italienische Tradition des Neorealismus nicht als Bürde leugnet, sondern dessen kinematografische Formen mit der Inszenierung zeitgenössischer Erfahrungen verbindet; und sie werden beschützt von der älteren Generation, denn, so sagten bei der Diskussion übereinstimmend Pontecorvo und der leitende Regisseur von Un mondo diverso è possibile, Francesco Maselli, "solange wir da sind, wird dem italienischen Film nichts passieren!"
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