IM KINO Kenneth Lonergans Regiedebüt "You can count on me" zeigt ein Geschwisterpaar, das sich gegenseitig Vater wie Mutter, Onkel wie Tante ersetzt und doch nicht zusammen kommt
Gegen Ende der neunziger Jahre wurden die selbstreflexiven, sogenannten postmodernen Filme des amerikanischen Kinos abgelöst von ideologiekritisch gesehen restaurativen Filmen. Gemeinsames Sujet ist diesen Filmen der ganz unironische Bezug auf die Familie: als Kern und Schmelze aller privaten und öffentlichen Beziehungen, als Halte- und Fluchtpunkt, als Ort der Ordnung und deren Auflösung. Dies bestimmt so unterschiedliche Filme wie American Beauty, Magnolia, oder jüngst Traffic und das Regiedebüt You can count on me von Kenneth Lonergan. Sie stellen ganz ernsthaft die nur aufgeschrieben banale Frage: Was ist die Familie heute, nach ihrem moralischen und sozialen Aus?
Das Besondere ist nun, dass sie diese Frage als Entfaltung ihrer Bilder in allen Facetten durchden
hrer Bilder in allen Facetten durchdenken. Im Strom der Filmbilder zeigt sie sich als Wunsch, als Verstellung und Verschiebung, immer insistierend, hartnäckig und nicht als Bebilderung einer Idee. An die fehlende Distanzierung der Filme von ihrem Thema kann sich die Emotion des Zuschauers anlagern.Auch das Kammerspiel You can count on me berührt, weil es die Familie nicht mehr als übergeordnete Metapher zeigt für eine Gemeinschaft, die den Kern des Übels aller Progression, aller gesellschaftlichen Utopie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bürgerliche Kleinfamilie, überwinden sollte. Sondern weil es sich mit eben dieser Kleinfamilie beschäftigt, und zwar auf Augenhöhe, mit ihrer Kleinheit. Klein ist das Leben von Sammy (Laura Linney) schon räumlich, weil es sich abspielt zwischen ihrer Arbeit als Kreditberaterin in der kleinen Bank einer kleinen amerikanischen Stadt, der Bushaltestelle, von der sie ihren Sohn täglich nach der Schule mit dem Auto abholt und ihrem Elternhaus, in dem sie mit dem vaterlosen achtjährigen Rudy (Rory Culkin) lebt. Klein sind auch ihre Ausflüchte aus diesem genau abgezirkelten Leben; sie bestehen aus Affären, die einen Schwebezustand nie überschreiten. Ihr weitester Weg führt sie hinauf zu dem großzügig an einem Hang angelegten Friedhof der Stadt, wo ihre Eltern begraben sind. Auch das Leben ihres Bruders Terry (Mark Ruffalo) ist klein, obwohl er im Gegensatz zu seiner Schwester immer größere Kreise gezogen hat. Denn sein Vagabundieren bis hinauf nach Alaska ist die verzweifelte Flucht vor dem größten Verlust, der in der Kleinstadt liegt.Groß nämlich ist die Spanne zwischen diesem Leben und jenem Tag vor vielen Jahren, da die Geschwister, kaum älter als Sammys Sohn heute, durch einen Autounfall zu Vollwaisen wurden. In der Eingangssequenz sehen wir den Unfall, der im geräuschlosen Schwarzbild endet und von den Eltern nichts als eine Frage zur Zahnspange ihrer Tochter preisgibt. Es folgen die unausgesprochene Todesnachricht und die Trauerfeier in der Kirche. Von diesen dürren Bildern aus springt der Film in das erwachsene Leben der Geschwister, ohne dass, bis auf einen kurzen Dialog zwischen Terry und Rudy, noch einmal von diesem Unfall oder von den Eltern die Rede sein wird und doch besteht die Bewegung des Films darin, seine Bilder mit diesem Trauma zu imprägnieren. Es durchzieht als Blackout, den der Film zeigt, wie eine physische Erinnerung an den Verlust der kindlichen Weltordnung, die Gesten und Handlungen der Erwachsenen Sammy und Terry und spiegelt sich noch in dem Verhalten des Sohnes Rudy. Der Verlust der Eltern setzt das kleine Leben in einen großen leeren Raum, den die Protagonisten füllen, als sie zusammentreffen. Sie springen für das Fehlen von Vater und Mutter ein, indem sie sich nicht nur Bruder und Schwester, Mutter und Onkel, Sohn und Neffe sind, sondern zugleich auch Vater und Mutter, Opa und Oma, Partner und Kumpel. Buchstäblich stellen sie diesen Verlust dar, erfährt vor allem das Miteinander der Figuren im Schauspiel dessen immer neue Modulation: Als Terry nach Jahren zu Besuch in seine Heimatstadt zurückkehrt, eigentlich nur, um sich von seiner Schwester Geld zu leihen, verdrängt er ganz schnell den Selbstmordversuch seiner Freundin, von dem er noch am Abend seiner Ankunft am Telefon erfährt. Umstandslos drückt seine Schwester ihn in die Vaterrolle, denn scheinbar pragmatisch löst sie so das Problem, Rudy nicht mehr vom Schulbus abholen zu können, weil ihr neuer Chef in der Bank die mittägliche Abwesenheit verbietet. So kann sie sich, von der Mutterrolle ein Stück weit entlastet, einen Liebhaber nehmen. Terry changiert zwischen der Vaterrolle für Rudy und der des kindlichen Kumpels oder der des ebenso kindlichen Konkurrenten, nimmt Rudy einerseits mit zum abendlichen Billard, weist ihn andererseits beleidigt darauf hin, dass der in seinem Zimmer lebt, und dass die toten Eltern nicht nur die von Rudys Mutter, sondern auch die seinen sind: Terry beansprucht dann den Platz des traumatisierten Sohnes, für den er nur "zu Hause" Raum hat. Es kommt zu einer ganzen Verkettung des Rollentauschs: Rudy wiederum fühlt sich gerade als Kumpel und Konkurrent von Terry gleichberechtigt, und kann so gegen seine Mutter rebellieren. Die wiederum verschiebt durch dieses "erwachsene" Verhalten ihres Sohnes ihr mütterliches Verhalten auf ihren Bruder, dem sie, ob seines haltlosen Lebens, ein Gespräch mit dem "Patriarchen" der Stadt, dem Pfarrer, vermittelt. Zum Bruch kommt es schließlich, als Terry, scheinbar in der Rolle des väterlichen Bruders und zugleich der konkurrierende Onkel, Rudy mitnimmt zu dessen leiblichem Vater. So verschafft er ihm seinen Teil des familiären Traumas. Terry muss abreisen, nachdem er noch ganz am Ende seines Aufenthalts das Grab seiner Eltern aufgesucht und starr ein letztes Mal den steingewordenen Verlust vor Augen hat. Es ist der Verlust der Darstellbarkeit des Verlusts, um den der Zuschauer am Ende mitweint.Im Licht des Kinofoyers will dieses Weinen um die Familie zum ethnografischen Problem schrumpfen. Aber haben wir diese Kleinfamilie als unentrinnbar traumatischen Ort nicht auch erst jüngst in dem deutschen Film Die innere Sicherheit oder dem französischen Tout va bien (on s´en va) gesehen? Haben wir also den Amerikanern nicht längst geglaubt, dass der ärgste Feind von innen kommt?
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