Maria Tyson

IM KINO "Petites frères" von Jacques Doillon eröffnet eine ungewöhnliche Sicht auf das Leben Jugendlicher in den Pariser Vorstädten

Leck mich doch am Arsch!" sagte Alduccio zu ihr. "Tu du's doch, du verfressenes Dreckschwein, wie de's bisher ja auch immer getan hast!" schrie die Mutter. - Alduccio sah rot. Er bückte sich und griff nach dem Messer, das vor seine Füße auf den schmutzigen Boden gefallen war." Das könnte ein Dialog aus der ersten Sequenz der Petitesfréres des französischen Regisseurs Jacques Doillon sein. Aber anders als der 1955 erschienene Roman Ragazzi di vita des italienischen Schriftstellers und Regisseurs Pier Paolo Pasolini, aus dem dieses Zitat stammt, streitet sich in Doillons neuestem Film zu Beginn ein Mädchen mit seinem eben aus dem Knast gekommenen Stiefvater; schnell wird klar, dass es sich hier um einen Streit bis aufs Messer handelt. Während Alduccio seine Mutter mit dem Messer fast umbringt, hält Talia, so heißt das Mädchen, ihren Stiefvater mit der Pistole in Schach und zeigt ihn schließlich, weil auch ihre Mutter schweigt, wegen Missbrauchs an ihrer Freundin und ihrer jüngeren Stiefschwester an. Den einzigen Erwachsenen gegenüber, die in diesem Film außer den "Bullen" auftauchen, ist sie rächende Mutter und gerächtes Kind zugleich.

Die Rückkehr des Stiefvaters ist Grund für Talias Flucht in die asozialen Vororte von Paris, wo sie mit ihrem zahmen Pitbull Kim zu Gérald, ihrem Freund will. Dort angekommen, auf der Suche nach Gérald, trifft sie auf ein paar Jungs, die ihr helfen, weil sie ein schnelles Geschäft durch den Verkauf des Hundes wittern. Sie klauen den Hund, Talia muss bleiben, um ihn mit allen Mitteln zu suchen, und befreundet sich mit den Jungs. Von da an steht das dramatische Grundgerüst des Films; zu sehen sind danach, das macht seine Leichtigkeit aus, Variationen, Wiederholungen, Nuancierungen dieser Formation: Prügeleien und Fußball, abhängen und Sprüche machen, fluchen, lügen, klauen und Witze reißen. Dafür haben die schwarzen und arabischen Jugendlichen eigene Gesten und eine ganz eigene Sprache, das Französisch der Banlieues, Verlan genannt. Deshalb ist diese Welt asozial, weil sie zu dem, was als sozial gilt, nicht gehört. Bis in die einzelnen Motive hinein haben Pasolinis Protagonisten den gleichen Gestus, die einzigartige Sprache, den römischen Dialekt. Seine Romane und Filme über das römische Subproletariat der fünfziger Jahre produzieren Figuren, deren Hoffnung die Hoffnungslosigkeit und deren Motor die Gewissheit ist, dass sie nichts zu verlieren haben. Deshalb wird ihnen alles zum Spiel, zur Aufführung.

Noch ihr Name, Talia, Tochter des Zeus und Muse der Komödie, zeugt auch bei Doillons Figur(en) von dieser Haltung. Aber hat sich nichts geändert zwischen 1950 und 2000? Pasolini konstatierte schon seit Beginn der siebziger Jahre den totalen Sieg des Kapitalismus. Und in dem Maße, in dem zum Beispiel Marken eine Rolle spielen in Petitesfrères, scheint diese Diagnose gültig zu sein. Denn die französischen Jugendlichen sind keine Hungerleider mehr, die manchmal tagelang nichts zu beißen haben. Sie leben in einer Welt, die nicht mal wissen will, ob sie sie wollen würden oder nicht. Und so spielen diese 13-14-Jährigen ihre großen Brüder und Schwestern nach, die wiederum Neureiche spielen. Es ist die Vagheit dieses Spiels, die Doillon seit je interessiert, bei proletarischen Jugendlichen zuletzt in Le petitcriminel von 1990. Bei Doillon gibt es aber, anders als in Pasolinis exclusiver Männerwelt, immer auch die Kehrseite des unbestimmten, erwachsen spielenden Lebens: Die Suche nach Schutz und Geborgenheit, nach einer community. Die zeigt sich zum Schluss des Films, in der aus einem Esels- und Kleidklau plötzlich entstehenden Hochzeitszeremonie zwischen Talia und Iliès, einem beur aus der Gruppe. Das Paradox besteht darin, dass die ihren Hund rächende "Mutter", Talia, die wegen ihres "Killerblicks" "Tyson" genannt wird, Schutz und Nähe bei den Hundeklauern erfährt. So kann sie wieder Kind sein spielen. Auf dem Esel ist sie plötzlich die Jungfrau Maria (wie die in Pasolinis Il vangelo secondo matteo von 1965) und anschließend im Hochzeitskleid nur ein verkleidetes Mädchen, das die Rede des Bräutigams hält. Sie hat eine Familie gefunden, in der es endlich keine Erwachsenen mehr gibt. So ist sie rein.

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