Zwischen Pathos und Peinlichkeit

IM KINO "Mein Stern" von Valeska Grisebach zeigt die ›erste Liebe‹ als Gratwanderung von Wunsch und Möglichkeit

Die Regisseurin Valeska Grisebach sagt im Presseheft zu ihrem Debütfilm Mein Stern, sie habe keine Milieustudie über die erste Liebe von Berliner Jugendlichen im Jahre 2001 drehen wollen, sondern einen allgemeinen Film über die Liebe. Das mag man zu Beginn des Filmes vielleicht noch nicht recht glauben: Eine Gruppe 15-Jähriger, an denen sofort die Markenklamotten auffallen, steht auf einem Spielplatz im Kreis und gibt von Mund zu Mund eine Spielkarte weiter - wie bei dem Spiel ›Stille Post‹ die geflüsterte Nachricht. Wer die Karte fallen lässt, muss sich küssen. Zweimal fällt sie bei dem gleichen Paar herunter, prompt folgt der Kommentar: "Dit macht ihr doch extra!" In der nächsten Szene sieht man dieses Paar auf einer Bank beieinander sitzen: "Schönet Wetta hoite", sagt er; sie nickt unsicher, ein Lächeln streift über ihr Gesicht. "Sa´ ma, wie finsten mich ejentlisch?" "Jut", sagt sie. Dann fragt er weiter: "Willste mit mir jehn?"; "Joa", sagt sie. Vor einem Hauseingang liegen sie sich in den Armen; irgendwann lösen sie sich ungeschickt voneinander, stehen sich gegenüber; in die Pause hinein fragt er bemüht: "Kann ich dich morgen wieder sehn?" Sie zuckt mit den Schultern, "nee, ich kann nich." - "Aba dit hat doch allet so jut anjefang", fleht er. Es folgt noch eine lange Stille, aber sie ändert ihre Meinung nicht. Resigniert wendet er sich schließlich ab, sie sagen "Tschüss" und gehen für immer auseinander. Wie in einem Popsong haben wir in nur drei Minuten eine ›erste Liebe‹ entstehen und vergehen sehen, vom tastenden Sich-Kennenlernen über die Werbung, den Antrag, die Beziehung bis hin zu Krise und Trennung.

Gleich in den folgenden Szenen wiederholt sich dieser Reigen. Diesmal aber wird die unmögliche Liebesgeschichte von Monique, der 13-jährigen Schwester der Protagonistin Nicole, erzählt. Die beiden kuscheln zu Hause zusammen mit ihrer jüngsten Schwester im Mädchenzimmer unterm N´Sync-Kissen. Monique erzählt die Geschichte vom Prinzen, der dahergeritten kommt, sich in das ›einfache, unschuldige‹ Mädchen Nicole verliebt, sie auf sein Schloss mitnimmt, wo sie sich näher kommen, bis sie sich ihre Liebe gestehen und - bevor sie im Liebesrausch verschmelzen - sagt Monique einfach "Plopp!" und lacht. "Wie Plopp?" fragt Nicole sichtlich enttäuscht, doch sie weiß schon, dass das Märchen eine Wunschphantasie ist. Zwischen verdichteter Liebeszene (zu Beginn) und der Endlosigkeit des Wunschtraums also inszeniert der Film die spezifische Zeit der Liebe.

Tatsächlich sind der Berliner Dialekt, die Kleidung und das coole Auftreten der Jugendlichen keine Versatzstücke einer folgenden Milieustudie. Sie bilden lediglich die Erdung, auf deren Grundlage der Film die im Märchen Moniques formulierte Frage nach der Liebe entfalten kann. In den meist großen, nahen oder halbnahen Aufnahmen sind es die unbestimmbaren, häufig sprachlosen Gesichter der jugendlichen Protagonisten, die das ständige Hin- und Hergerissensein zwischen Milieu und Wunschtraum markieren. Durch die lange Dauer und Wiederholung der Unbestimmtheit ihres Gesichtsausdrucks angesichts der widersprüchlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit einerseits und sexuellen Erfahrungen andererseits, verliert sich der Zuschauer fast selbst in eine Märchenwelt und hofft schließlich ganz bürgerlich auf die Einlösung des Versprechens des großen Glücks, der wahren, ewigen Liebe. "Allgemein" an diesem Film ist nicht das Milieu, sondern der unendliche Raum des Phantasmas der Liebe, weil es der eines jeden Zuschauers ist.

Auf der Leinwand beginnt unterdessen die nächste große, einzige Liebe: Nicole lernt den gleichaltrigen Schöps kennen, er besucht sie zu Hause, im Reich von vier Frauen, denn die Mutter erzieht ihre drei Töchter allein. "Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du so schön bist wie das 7. Weltwunder?", eröffnet Schöps bei Eierlikör auf der Couch mit aufgesetzter Souveränität das erotische Spiel und meint doch eigentlich das nie gesehene, das 8. Weltwunder. Mit dem Bewusstsein für die Peinlichkeit solcher ›Versprecher‹ verstrickt sich der Betrachter mehr und mehr in die Wünsche der jugendlichen Helden. Umstandslos spielen die Figuren alle Stereotypen des Theaters des Begehrens durch: Schöps wird vom Werbenden zur (bis dahin fehlenden) Vaterfigur im Frauenhaushalt, agiert als eifersüchtiger Liebhaber und cooler Frauenheld; Nicole wandelt sich von der unschuldigen Geliebten zur begehrenden Frau, zur ›liebenden Mutter‹ und schließlich zur ›Ehebrecherin‹. Ihre Schwestern assistieren ihr dabei: Monique spielt, selbst irgendwann ›verheiratet‹, die vermittelnde ›beste Freundin‹ und die jüngste Schwester gibt die ›eifersüchtige Verräterin‹, die das Liebesglück des jungen Paares zu zerstören droht, indem sie Schöps einen ›Seitensprung‹ Nicoles petzt.

Das Alter der Darsteller ist keinesfalls beliebig ausgewählt: Die blühende Pubertät ist die Zeit, in der die Verbote der Eltern zum Projektionsraum der eigenen Wünsche werden. Die Probe auf das eigene Begehren ist umso ernster, je überlebensgrößer es erscheint, je kläglicher damit seine Realisierung werden kann. (Jacques Doillon hat aus dieser Konstellation sein Lebenswerk gemacht.) So wirken die gefühlsgeladenen Gebärden und Posen der Laiendarsteller wie ausgestanzt, pathetische Sätze wie "Ich liebe dich", "Ich sterbe, wenn ich dich nicht sehe", "Wenn du das noch mal machst, bringe ich dich um" oder "Ich will dich nie mehr verlieren" wirken grotesk, weil der Ewigkeitsanspruch des Gesagten buchstäblich über die jugendlichen Figuren hinauswächst. Aber Gebärden und Sätze orchestrieren gerade im Auseinanderklaffen von Realität und Wunsch das stereotype Schauspiel der Liebe.

Im Kontrast zum Dunkel dieser endlosen sentimentalen Räume steht die steril ausgeleuchtete Welt der Erwachsenen. Sei es der Praktikumsplatz Nicoles in der Bäckerei, sei es die Lehrstelle als Gas-Wasserinstallateur von Schöps: Wo das Licht dem Unbestimmten keinen Raum mehr lässt, entschwindet das Phantasma der ewigen Liebe. Ein Abschied, der den Zuschauer nicht weniger schmerzhaft am Ende im grellen Licht des Kinofoyers erreicht.

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