Ich lehre euch den Übermenschen ...

Wunderkinder Fasziniert von den Ideen der Entwick­lungs­psychologie formte László Polgár seine drei Töchter zu Wunderkindern – in der Männerdomäne Schach

Die Frage, inwiefern Fähigkeiten eines Menschen angeboren oder erworben sind bzw. werden können, ist eine alte und zugleich weitestgehend ungeklärte Frage der Humanwissenschaften. Die beiden Extremstandpunkte, der Mensch sei entweder vollständig eine strukturlose Tabula Rasa oder aber ein rein genetisches Ablaufprogramm, werden nicht (mehr) ernsthaft vertreten.

Während etwa die Psychologie diese Fragen als für ihre Disziplin weitestgehend unbeantwortbar von sich weist – nur um sich umso intensiver mit ihnen zu beschäftigen – ist sie zum Beispiel für die Pädagogik existenziell. Ohne einerseits die Überzeugung, einwirken zu können und andererseits den Glauben, auch die Mechanismen einer effektiven Einwirkung herauszuarbeiten, wäre die Pädagogik kaum sinnvoll.

Die abgeleitete Frage, ob man etwa „Talent“ eher züchten oder doch besser lehren sollte, hat nun bekanntermaßen zu den übelsten Experimenten Anlass gegeben.

Als László Polgár geboren wurde, lag die Welt in Trümmern. Polgárs Großeltern waren in Auschwitz ermordet worden, seine Mutter hatte überlebt, emigrierte aber bald. Irgendwo zwischen einer Handwerkerlehre, jüdischem Religionsunterricht und weitgehend autodidaktischer Annäherung an die Wissenschaften entwickelte Polgár die Überzeugung – er beschäftigte sich unter anderem mit musikalischen Wunderkindern aus der Geschichte –, dass Talent nichts mit dem Erbgut zu tun habe, sondern ausschließlich auf die Förderung in der Kindheit zurückzuführen sei.

„Eure Hoffnung heiße: ‚möge ich den Übermenschen gebären!‘“

Er fasste einen Plan, wie er diese Hypothese testen wollte. Dafür brauchte er allerdings eine Frau. Er „rekrutierte“ die von seiner Idee begeisterte Klára per Briefkorrespondenz.

Höchstwahrscheinlich hatte Polgár während seines Abendstudiums der Psychologie auch die methodisch-wissenschaftlich umstrittene, aber für die Entwicklungspsychologie unschätzbar wertvolle Pionierarbeit Jean Piagets rezipiert. Piaget begründete die Entwicklungspsychologie vollständig auf dem Fundament von ziemlich genau drei Versuchspersonen – seinen drei Kindern.

Ein Jahr, nachdem Piaget Die Psychologie der Intelligenz veröffentlichte, heirateten László und Klára und produzierten ihre drei Versuchspersonen. Polgárs Ziel war allerdings weniger allumfassend als das Piagets: Er wollte nur zeigen, dass es unter entsprechender Förderung möglich war, aus jedem Menschen ein außerordentliches Talent zu formen.

Er entschied sich dazu, als Talent-Dimension das Schachspiel zu wählen, weil dieses durch seinen sehr gut quantifizierbaren Fortschritt eine perfekte Metrik mitlieferte.

Er entwickelte sukzessive ein entsprechendes Trainingsprogramm, mit ebenfalls eingeplanten Erholungen, welche z.B. Sprachen lernen und Witzeerzählen umfassten. Außerdem musste er lange um die Erlaubnis kämpfen, seine Kinder von der Schulpflicht zu befreien – er hielt die schulische Unterrichtung für Zeitverschwendung.

Begabung wird antrainiert

Allerdings hatte er etwas Pech: Seine Frau gebar ihm drei Töchter. Nun war gegen Ende der Sechziger nicht nur bei Schachspielern bekannt, dass Frauen nicht Schachspielen können. Zwar schickte sich gerade Nona Gaprindaschwili, die georgische Dauerweltmeisterin im Frauenschach, an, eine ernsthafte Bedrohung für den ein oder anderen Mann zu werden, aber sie war da eher die regelbestätigende Ausnahme und für einen „echten“ Schachspieler keine Bedrohung.

Bobby Fischer, die spätere Schachlegende, äußerte seine Ansichten über weibliche Schachspieler sehr deutlich: „Ich könnte jeder Frau einen Springer vorgeben und trotzdem leicht gewinnen – selbst gegen die Weltmeisterin.“ Oder: „Frauen sind furchtbare Schachspieler, [...] vermutlich sind sie einfach nicht intelligent genug.“

Das war allerdings 1963, bevor László Polgár sein „Experiment“ umzusetzen in der Lage war. Das „falsche“ Geschlecht seiner Versuchspersonen interessierte Polgár nicht besonders, denn es spielte in seineHypothese keine Rolle.

Die älteste Tochter Zsuzsa kam 1969 zur Welt. Sie sprach auf die Experimentalbedingungen nicht nur an, sondern entwickelte sich sehr früh ziemlich außergewöhnlich. Mit vier Jahren spielte sie auf jugendlichem Wettkampfniveau.

1974 wurde ihre Schwester Zsófia geboren, 1976 folgte dann Judit. Trotz der unterschiedlichen Temperamente der drei Töchter entwickelten alle tatsächlich die intendierte Schach-Leidenschaft in sehr frühem Alter.

Zsuzsa wurde 1982, mit 12 Jahren, U16-Weltmeisterin. Zsófia spielte zu diesem Zeitpunkt sogar deutlich stärker als ihre ältere Schwester in ihrem Alter – sie gewann mit fünf Jahren bereits die ungarischen U11-Meisterschaften. Und Judit war zwar etwas langsamer, hatte allerdings ein ausgezeichnetes Gedächtnis und einen ungewöhnlichen Killerinstinkt – für ein Mädchen.

1983 fand die Weltmeisterschaft im Mikro­computerschach in Budapest statt, und die Polgárs machten einen kleinen Familienausflug. Der Schachjournalist Frederic Friedel arrangierte ein Match zwischen den beiden jüngeren Schwestern und dem Weltmeisterprogramm. Die den Computer bedienende Programmiererin fasste das Ergebnis auf die Frage, ob die Mädchen gewonnen hätten, so zusammen: „Natürlich nicht, sie haben es nicht geschlagen. Wo denken Sie hin? Das sind nur Babys. Sie haben es nicht geschlagen, sie haben es ermordet, in kleine Stücke zerhackt, zerkaut und ausgespuckt. Ein Massaker!“

1984 führte Zsusza schließlich die Weltrangliste der Frauen an – mit 15 Jahren. Die Schachwelt war darauf allerdings nur unzureichend vorbereitet. Zsusza versuchte, an den Turnieren der Männer teilzunehmen, um würdige Gegner zu finden. Sie war jung und brauchte die Erfahrung. Allerdings war ihr etwa die Teilnahme bei den Weltmeisterschaften verwehrt worden. Die FIDE änderte später ihre Statuten und benannte die „Männer-Schachweltmeisterschaften“ Zsusza zu Ehren schlicht in „Schachweltmeisterschaften“ um.

Zsófia profitierte davon und nahm 1986 an den U14-Weltmeisterschaften teil. Sie gewann den Titel der Mädchen und holte bei der „geschlechtsoffenen“ Klasse die Silbermedaille.

Während die Schachkarrieren der drei Töchter einigem Gegenwind ausgesetzt waren – die Männer wollten lieber nicht gegen Frauen, noch viel weniger gegen kleine Mädchen spielen; die Sowjetunion wollte keine Ungarn an der Spitze der Rangliste; und in Ungarn war das unweibliche Betragen der Polgár-Töchter ebenfalls nicht gerne gesehen – gelang der Durchbruch 1988. Bei der Schach-Olympiade trat die ungarische Mannschaft mit den drei Polgár-Schwestern an – Judit war 12! – und errang den Titel und Ruhm und Akzeptanz im eigenen Land. Auch beim Wettkampf zwei Jahre später deklassierte „Polgárien“ erneut die Sowjetunion, woraufhin die jüngste Polgár-Schwester sich nicht mehr mit der unterklassigen Konkurrenz auf den dezidierten Frauenturnieren abgeben wollte.

Zsuzsa wurde 1991, mit 21 Jahren, die erste Frau, die regulär den („Männer-“)Großmeistertitel erhielt. Kurz danach gelang dies auch ihrer 15-jährigen jüngsten Schwester, die damit Bobby Fischers Rekord um zwei Monate unterbot. Dies hielt Garry Kasparow nicht davon ab, sie als „Schach-Talent, [...] aber eben auch eine Frau“ zu bezeichnen, die mit der „Unvollkommenheit der weiblichen Psyche“ zu kämpfen habe.

Ungedenk solcher Defizite schlug sie den möglicherweise besten Schachspieler aller Zeiten später. Bereits 1994, als 17-Jährige, gewann sie beinahe gegen den Russen. Doch Kasparow nahm einen desaströsen Zug regelwidrig zurück, Judit hatte ohne Zeugen keine Möglichkeit, dagegen zu protestieren, und verlor unkonzentriert.

Mit 19 Jahren erreichte sie die Top 10 der (geschlechtsoffenen) Weltrangliste, natürlich als erste Frau überhaupt. Bis zur Geburt ihres ersten Kindes blieb sie in der absoluten Weltspitze. Auch nach der Babypause kam sie trotz zahlreicher Unkenrufe einiger männlicher Konkurrenten zurück und qualifizierte sich als erste Frau überhaupt für die Weltmeisterschaft.

Training zahlt sich aus

Ihr überragender Erfolg führte allerdings auch dazu, dass sich ihre älteren Schwestern aus dem professionellen Schach zurückzogen. Zsófias Passion für schönes Schach stand den Anforderungen der Mühen der Ebene des Wettkampfes leider entgegen, die im Kindesalter stärkste der Schwestern wurde „nur“ eine der besten weiblichen Schachspielerinnen der Welt. Die analytischere und weniger verspielte Zsuzsa dominierte das Frauenschach (sofern Judit nicht teilnahm), aber die innerfamiliäre Dominanz der jüngeren Schwester und Schwangerschaften unterbrachen ihre Karriere immer wieder. Sie konzentrierte sich stärker auf Schachdidaktik und entwickelte die Methoden ihres Vaters zum ­Lehren von Schach weiter, veröffentlichte Lehrbücher und arbeitete als Schachjournalistin. Judit ist bis heute die beste Schachspielerin der Welt.

László Polgárs ethisch zweifelhaftes Experiment muss trotz seines auch methodisch fragwürdigen Charakters als Erfolg bezeichnet werden. Polgár sieht seine These, Begabungen seien erworben und eben nicht ererbt, als bestätigt. Der häufig von den Gläubigen der gegenläufigen Schule vorgebrachte Einwand, er könne ja nicht ausschließen, dass er und seine Frau nicht eine überragende Anlage zum Schachspiel hätten, die sie nur selbst nie nutzten, machte ihm nicht viel zu schaffen. Er erwog allerdings, das Experiment mit drei randomisiert adoptierten Kindern zu wiederholen – was seine Frau glücklicherweise verhindern konnte.

Frauen spielten nur deshalb weniger erfolgreich als Männer, weil eben dieses Vorurteil den Frauen und ihren Lehrern die Motivation raube: Diese These sieht Polgár ebenfalls als weitgehend bestätigt an. Seine Töchter bekräftigen, ihnen sei dank der Überzeugung ihrer Eltern nicht in den Sinn gekommen, ihnen würde irgend eine Voraussetzung für Schach oder eine andere Fähigkeit im Leben fehlen. Allerdings sei das Leben als professioneller Schachspieler für Frauen durchaus schwierig, denn mehrmonatige Trainingspausen durch Schwangerschaften oder wechselnde Ausdauerfähigkeiten an verschiedenen Tagen eines Monats seien dem Erfolg im Schach nicht sehr zuträglich.

Bernhard Pietsch bloggt als

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