Eine Berufsgruppe kann auf jeden Fall glücklich sein über die heftige Debatte zur Europäischen Verfassung. Die Pariser Buchhändler haben über das Mammutwerk zwischenzeitlich neun Titel, die Ende April teilweise die französischen Bestsellerlisten anführten, in ihrem Angebot. In den Pariser Kulturkaufhäusern der FNAC-Kette musste vorübergehend sogar das Themenregal »Gesundheit, Wohlbefinden, Wellness« dem Sortiment »EU-Verfassung« weichen. Dennoch sollen jüngsten Befragungen zufolge weniger als fünf Prozent der Franzosen den Verfassungstext vollständig oder zumindest abschnittsweise gelesen haben. Das dürfte sich auch dann kaum ändern, wenn die Regierung bis Mitte des Monats jedem der über 43 Millionen Stimmberechtigten ein eigenes Exemplar der Verfassung in den Briefkasten wirft.
Deren umstrittener Text umfasst nicht nur 448, teils äußerst langatmig verfasste Artikel, er ist auch in einer Sprache gehalten, die selbst Juristen wegen mangelnder Verständlichkeit verzweifeln lässt. Dies gilt besonders für Teil III und den darin niedergelegten wirtschaftspolitischen Extrakt künftiger EU-Politik. »Dieser Abschnitt meißelt für die nächsten 50 Jahre eine wirtschaftsliberale Politik in den Marmor einer so genannten Verfassung und wird demzufolge erheblich schwerer abzuändern sein als ein gewöhnlicher zwischenstaatlicher Vertrag«, meint Yves Salesse, einst ein gehobener Beamter im Verkehrsministerium, heute ein Mentor der »Kopernikus-Stiftung«, jenem überparteilichen, kapitalismuskritischen Think Tank, dessen Analysen sich respekvoller Beachtung erfreuen. Die Fondation Copernic lancierte 2004 unter anderem den »Aufruf der 200«, der zur Abgabe eines dezidiert nicht nationalistischen »Nein zu dieser EU-Verfassung« aufforderte.
Das Votum der 999.999
Ähnlich wie Yves Salesse ist auch Senator Jean-Luc Mélenchon vom linken Parteiflügel des Parti Socialiste (PS) der Auffassung, dass im Kapitel III des Verfassungsvertrags aus ideologischen Motiven ein neoliberales Wirtschaftsmodell dekretiert werden soll. »Das gab es bis 1991 nur in der Verfassung der UdSSR, die deswegen im Westen als totalitär verschrieen war. Die französische Verfassung jedenfalls lässt die Frage der Sozial- und Wirtschaftsordnung bewusst offen und bindet sie an die Entscheidung der politischen Mehrheit.«
Tatsächlich ist in der EU-Konstitution vom »Recht zu arbeiten und eine Arbeit zu suchen« die Rede, während in der Präambel der französischen Verfassung klar vom »Recht auf Arbeit« gesprochen wird. Dies gilt zwar nicht als vor Gericht einklagbares Recht, aber bindet die Exekutive an eine Wirtschaftspolitik, die sich dem Staatsziel der Vollbeschäftigung verpflichtet fühlt. Verletzt ein Gesetzesvorhaben diese Norm in grober Weise, kann mit einiger Aussicht auf Erfolg vor dem Pariser Verfassungsgericht dagegen geklagt werden. Ähnlich steht es um das den Franzosen zugesicherte »Recht auf Zugang zu gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen«, das eben nicht gleichbedeutend mit einem »Recht auf Gesundheit« ist, wie es in der EU-Verfassung heißt.
Bis vor kurzem argumentierten die Parteigänger des »Ja« gern mit dem Petitionsrecht: Angeblich, so behauptete die ehemalige EU-Kommissarin Nicole Fontaine vor wenigen Wochen, könnten die EU-Bürger ein ihnen nicht genehmes EU-Projekt verhindern, sofern »nur eine Million Europäer eine Petition dagegen unterschreiben«. Bei einer Fernsehdebatte zwischen dem früheren sozialistischen Europaminister Pierre Moscovici und Olivier Besancenot, 2002 Präsidentschaftskandidat des trotzkistischen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), forderte letzterer den Ex-Minister dazu auf, doch den fraglichen Artikel aus der Verfassung vorzulesen. Es war peinlich, wie Moscovici vor laufenden Kameras damit konfrontiert wurde, was die famose Petitions-Klausel tatsächlich enthält: Lediglich das Recht, sich zusammen mit 999.999 anderen EU-Bürgern an die EU-Kommission mit der Bitte zu wenden, diese oder jene Frage noch einmal zu behandeln. Was die Kommissare letzten Endes entscheiden, bleibt allein ihnen überlassen. »Früher hatten alle Bürger das Recht, ihren Politikern einen Brief zu schreiben, jetzt muss schon eine Million zusammen kommen, um gehört zu werden«, meinte der hauptberufliche Briefträger Besancenot sarkastisch.
Zwielichtige Mobilmachung
Bekanntlich sind die Sozialisten über die Verfassung zerstritten wie selten zuvor: Eine Urabstimmung im Dezember ging mit 58 zu 42 Prozent zugunsten der Befürworter aus, was aber die Gemüter erst recht erregte. Während es zunächst so aussah, als würden die Gewinner des internen Votums nunmehr allein den Ton angeben, haben die Vertragskritiker längst ihre eigene Kampagne inszeniert. Für viel böses Blut an der sozialistischen Basis hat dabei der gemeinsame Fototermin von Parteichef François Hollande mit dem Vorsitzenden der konservativen UMP, Nicolas Sarkozy, dem neuen Shooting Star der gaullistischen Rechten, gesorgt. Beide ließen sich im März auf der Titelseite von Paris Match abbilden, um für die Verfassung zu werben: Gleicher Anzug, fast gleiche Krawatte, gleicher Gesichtsausdruck. Immerhin hatte die Sozialistische Partei bis dahin stets Wert auf die Feststellung gelegt, es sei eine der Lehren des 21. April 2002, nie wieder zu riskieren, dass die eigenen Positionen nicht mehr von der anderer Parteien unterscheidbar sind. An jenem Aprilsonntag vor drei Jahren hatte Jean-Marie Le Pen als Kandidat des rechtsextremen Front National (FN) in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl den damaligen sozialistischen Premier Lionel Jospin auf Platz drei verwiesen und sich für die Stichwahl gegen Amtsinhaber Chirac qualifiziert.
Ein Teil des Establishments hämmert derzeit in die Köpfe, ein »Nein« am 29. Mai wäre »eine Neuauflage« oder gar »ein Nachbeben« jenes 21. April, ein französisches Veto gegen Europa komme einem Sieg der Nationalisten und Rechtsextremen gleich. Ein unzutreffendes, zum Teil demagogisches Argument, denn die Mehrheit der Wortführer des »Nein« rekrutiert sich aus Sozialisten, Kommunisten und Trotzkisten sowie Gewerkschaftern. In diesem Spektrum wird Europa keineswegs vorsätzlich demontiert, sondern wie durch den zitierten Sozialisten Mélenchon, der ein energischer Anwalt des Maastricht-Vertrages war das Bedürfnis artikuliert, supranationaler EU-Politik eine andere Richtung zu geben.
Im Übrigen, auch wenn die beiden Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen und Graf Philippe de Villiers ihren aggressiven Feldzug gegen den Verfassungsvertrag führen, so argumentieren sie dabei aus durchsichtigen Motiven klar am Thema vorbei. Graf de Villiers will aus nationalistischem Ressentiment um jeden Preis eine Aufnahme der Türkei in die EU verhindern, nicht viel anders als Le Pen, der schon das »trojanische Pferd des Islam« durch Europa ziehen sieht. Die Verfassungsdebatte gilt ihnen als Vehikel dieser Kampagne.
Aber es zeichnet sich ab, dass die Regierung während der letzten 14 Tage vor dem Referendum mit einer erpresserischen Alternative aufwartet: »Entweder seid ihr für die Verfassung oder ihr seid für Le Pen«. Die Regierung von Jean-Pierre Raffarin hat jene Parteien, denen es erlaubt ist, mit staatlich subventionierten Fernsehspots ihre Optionen öffentlich kundzutun, entsprechend ausgewählt. Vier Parteien, die Sozialisten, Gaullisten, die christdemokratische UDF und die Grünen werden für das »Ja« werben, vier andere für das »Non« drei davon gehören zum rechtskonservativen beziehungsweise rechtsextremen Spektrum, bei der vierten handelt es sich um die KP. Ob dieses Kalkül, das Millionen Verfassungsgegner quasi stigmatisiert, im Sinne der Regierung aufgeht, bleibt abzuwarten.
Während im Februar noch von einer problemlosen Annahme der EU-Verfassung durch eine Mehrheit der Franzosen ausgegangen wurde, zeigten die Werte im März und April ein deutliches Übergewicht des »Nein«. Seit Anfang Mai nun gibt es ein Patt, da die Zahl der Befürworter in vorzugsweise konservativen Wählerschichten bei Unternehmern, Selbstständigen und leitenden Angestellten erkennbar zugenommen hat. Umfragen aus der ersten Maiwoche schwanken zwischen 52 Prozent für das »Nein« und 53 Prozent für ein »Ja«. Dagegen bleiben Widerwille und Skepsis bei der linken Wählerschaft (60 Prozent bei den Anhängern der Sozialisten, 95 bei denen der Kommunisten) unter Arbeitern, Landwirten und mittleren Angestellten ungebrochen.
In einem Gastbeitrag für die Zeitung Le Monde vom 3. Mai beschwört ein Dutzend deutscher Schriftsteller, darunter Günter Grass und Jürgen Habermas, die Franzosen, nicht der »populistischen Versuchung« zu erliegen, mit »Nein« zu stimmen und »sich in dem gemeinsamen Bunker rechter Nationalisten und linker Nationalisten zu verkriechen«. Die Franzosen sollten nicht die »Verrücktheit« begehen, ihre Regierung abstrafen zu wollen und »die europäische Verfassung die Konsequenzen erleiden zu lassen«. Denn »Europa kann Eure Regierung, Eure Parteien, Eure Unternehmer und Eure Gewerkschaften dazu zwingen, auf konstruktivere Weise zu denken und zu handeln.« Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen.
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