Zwischen Rhône und Seine sind anscheinend über 100.000 Personen spurlos verschollen. Jedenfalls verschwanden seit Juni 2005 150.000 Erwerbslose aus der Statistik, die Arbeitslosenquote sank dementsprechend von offiziell 10,1 auf nunmehr 9,5 Prozent. Dennoch weiß offenbar niemand, wo diese Personen abgeblieben sind; denn im Vergleich zum Vorjahr sind nicht mehr, sondern weniger neue Arbeitsplätze geschaffen worden. "Wie schafft es die Regierung, 150.000 Arbeitslose weniger zu verkünden, wenn nur 50.000 neue Erwerbsarbeitsplätze gezählt wurden?", zitiert die Wochenzeitung Le Canard enchaîné in ihrer Ausgabe vom 4. Januar den wirtschaftsliberalen Chefökonomen von Natexis, Marc Touati.
Bereits Anfang November begab sich die wöchentliche Wirtschaftsbeilage von Le Monde "auf die verwischten Spuren von 108.000 Arbeitslosen" (so viele waren bis dato unauffindbar). Das Pariser Blatt prüfte mehrere denkbare Erklärungen: Befinden sich die Erwerbslosen etwa wieder in Lohn und Brot? Dem steht die abnehmende Zahl geschaffener Stellen entgegen. Rutschten die Betroffenen von der Arbeitslosen- in die Sozialhilfe ab? Auch dies trifft es nur zum Teil: 20.000 zusätzliche Sozialhilfeempfänger wurden im zweiten gegenüber dem ersten Halbjahr 2005 verzeichnet. Im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum stieg ihre Zahl gar um 6,6 Prozent. Aber auch das erklärt das mysteriöse Verschwinden von über 100.000 Personen nicht restlos.
Ein weiteres Indiz lieferte Premierminister Dominique de Villepin: "100.000 Neueinstellungsverträge" (Contrats de nouvelle embauche, CNE ) seien "seit August dieses Jahres" bis Anfang November unterzeichnet worden. Bei diesen Kontrakten handelt es sich um eine Erfindung der rechten Regierung aus dem Hochsommer 2005: Die Verträge gestatten es kleineren Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten - eine Ausdehnung auf größere Unternehmen wird "geprüft" -, neue Mitarbeiter einzustellen, die während der ersten beiden Jahre ihres Arbeitsverhältnisses keinen Kündigungsschutz genießen. Die große Koalition in Deutschland hat sich davon anscheinend einige Zeit später inspirieren lassen.
Gérard Filoche, beruflich als Arbeitsinspektor tätig und dezidierter Parteilinker bei den französischen Sozialisten, schildert, was passiert, ist der Kündigungsschutz erst derart ramponiert: "Verweigert ein abhängig Beschäftigter unbezahlte Überstunden, kann er gefeuert werden. Stellt er sich vor Ablauf der zwei Jahre zur Wahl der betrieblichen Vertrauensleute, riskiert er ebenfalls, entlassen zu werden. Missfällt er seinem Patron, kann er von heute auf morgen ´rausfliegen, ohne dagegen klagen zu dürfen. Missfallen erregt man aus allen möglichen Gründen - aber in den meisten Fällen, weil man seine Rechte geltend macht, auf den Tarifvertrag hinweist, auf den gesetzlichen Arbeitsbedingungen besteht, auf seiner Würde insistiert, nicht Gewehr bei Fuß steht. Der Villepin-Vertrag eröffnet eine rechtsfreie Zone, da der Beschäftigte während zwei Jahren, zwei mal 365 Tagen, jeden Abend beim Zu-Bett-Gehen nicht weiß, ob er am nächsten Abend noch eine Arbeit hat. Und am Vorabend des 730. Tages wird er erst recht zittern: Selbst wenn er sich zwei Jahre lang mächtig ins Zeug gelegt hat, kann der Arbeitgeber ihn feuern und einen anderen einstellen."
In Zweifel gezogen wird überdies, ob tatsächlich 100.000 Arbeitslose neu eingestellt wurden. Die entsprechenden Daten der Sozialversicherungsagentur ACOSS beziehen sich lediglich auf erklärte "Einstellungsabsichten" und geben keine Auskunft über tatsächlich geschaffene Beschäftigungsverhältnisse. Kurz nach Inkrafttreten der "Neueinstellungsverträge" (CNE) erfolgte zudem eine größere Zahl von Falschregistrierungen. Alle Meldeformulare der Arbeitgeber, auf denen der Vertragstyp nicht näher präzisiert war, wurden einige Wochen lang automatisch als CNE verbucht. Allein im August 2005 wurden aber angeblich bereits 30.000 solcher Kontrakte abgeschlossen.
Andererseits führte auch der vermeintliche Boom von CNE nicht zu vermehrten Neueinstellungen. Vielmehr verdrängten diese Kontrakte vor allem andere prekäre Arbeitsformen wie befristete Verträge oder Zeitarbeit. Die günstigeren Arbeitslosenstatistiken lassen sich also auch nicht allein auf zunehmend angewandte CNE zurückführen.
Eine andere Erklärung drängt sich auf: Arbeitslosen wird vermehrt die Unterstützung gesperrt, wodurch sie auch nicht mehr in der offiziellen Statistik erscheinen. Die amtliche Arbeitslosenkurve sinkt seit Juni 2005. In diesem Monat ging die Zahl der registrierten Erwerbslosen um 35.200 oder 1,4 Prozent zurück. Doch im selben Zeitraum fiel auch die Zahl der wieder in Lohn und Brot stehenden Ex-Arbeitslosen von 86.545 (im Mai 2005) auf nur noch 81.838. Einen Anstieg verzeichnete dagegen die Zahl der "administrativen Streichungen".
Seitdem die Regierung am 2. August neue Verordnungen über den Umgang mit Erwerbslosen verabschiedet hat, wächst der Druck auf die Betroffenen. Statt wie bisher alle sechs Monate sollen die Arbeitslosen nunmehr ein bis zwei mal pro Monat aufs Amt bestellt werden. Dabei haben die Arbeitsämter gar nicht genügend Mittel und Personal, um dies in die Tat umzusetzen: In Paris etwa kommen 11.000 Arbeitslose auf einen Mitarbeiter der Arbeitsagentur ANPE. Dafür bieten die Dekrete vom 2. August den Filialen der ANPE ein abgestuftes Sanktionsinstrumentarium; so kann den Betroffenen beispielsweise aus einer Reihe von Gründen die Unterstützung für die Dauer von zwei Monaten gestrichen werden.
Die Wochenzeitung Le Canard enchaîné macht in ihrer jüngsten Ausgabe diese einfache Rechnung auf: "Von Juni ... bis November ist die offizielle Arbeitslosenzahl um 119.000 zurückgegangen. Im selben Zeitraum stiegen die administrativen Streichungen um 109.000 gegenüber dem Vergleichszeitraum des vorangegangenen Jahres." So leicht kann man spurlos aus der Statistik verschwinden.
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