90 Meilen - ein Frontverlauf

Kalter Krieg zwischen Washington, Miami und Havanna Die USA blockieren das Migrationsabkommen von 1994. Derweil steigen die Flüchtlingszahlen wieder an

Havanna liegt näher an Miami als Leipzig an Bonn. 90 Meilen trennen Kuba von der Südküste Floridas. Von den ersten Tagen der Revolution vor bald 45 Jahren bis heute ist die Emigration, die über diese Distanz stattfindet, eines der großen Schlachtfelder im Kalten Krieg zwischen den USA und Kuba. Und eben dieses Terrain - die Migrationsfrage - bearbeiten jetzt die Hardliner der Bush-Regierung, um den Status quo der amerikanisch-kubanischen Beziehungen herauszufordern.

Auch in Kuba selbst ist die Flüchtlingsfrage 2003 wieder auf dramatische Weise akut. Die Zahl derer, die in Schnellbooten oder auf improvisierten Flößen die Insel verlassen, hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Zudem gab es in den vergangenen zwölf Monaten nicht weniger als 13 Fälle, bei denen auf gewaltsamem Wege versucht wurde, Boote, Fähren oder Flugzeuge zu entführen und mit ihnen in die USA zu fliehen. Die Regierung Castro reagierte auf martialische Weise: Nach Schnellverfahren verfügte sie die Hinrichtung von drei Kubanern, die mit Gewalt eine Fähre entführen wollten. Die Vollstreckung des Urteils sandte Schockwellen durch die kubanische Gesellschaft - vermutlich weit mehr als die fast zeitgleich erfolgte Verhaftung von Dissidenten, gerade weil es "Unpolitische" traf. Die Regierung argumentierte, man befinde sich im Quasi-Kriegszustand mit den USA, illegale Emigration sei als Teil dieser Schlacht quasi-militärisch zu behandeln.

In der Tat haben die Hardliner in Washington den Ton gegenüber Kuba wieder verschärft. In der Rhetorik mit grotesken Vorwürfen wie: Kuba unterstütze den internationalen Terrorismus und verbreite Bio-Waffen; in der Praxis mit der de facto-Aufkündigung jenes Migrationsabkommens, das seit 1994 galt und die USA verpflichtete, jährlich mindestens 20.000 Kubanern die Einreise auf legalem Wege zu ermöglichen. Dieser Schritt wurde nie öffentlich bekannt gegeben, die USA haben schlichtweg nur so gut wie keine Visa mehr erteilt: in fünf Monaten ganze 505, statt, wie nötig, etwa 8.000 oder 9.000. Wenn Emigration als Ventil für politische Unzufriedenheit wirkt - so das strategische Kalkül - dann hilft das Verhindern von Emigration, den Druck von innen zu erhöhen.

In Kuba versteht man diese Sprache nur zu gut - schließlich ist die Ventil-Funktion von Auswanderung eines der Erfolgsgeheimnisse der Revolution. Ein Blick zurück ist angebracht: Dass nach 1959 ein derart radikaler Umbruch der Gesellschaft derart schnell und mit einem vergleichsweise geringen Niveau gewaltsamer Konflikte vonstatten ging, das lag zum einen an der Euphorie und Unterstützung durch breite Teile der Bevölkerung, zum anderen aber auch daran - und darüber war und ist sich Fidel Castro zweifellos sehr bewusst -, dass die von der Revolution entmachtete Elite den Kampf gar nicht aufnahm, sondern ging. Zwischen 1959 und 1962 verließen 230.000 Kubaner, zumeist aus der Ober- und Mittelschicht, die Insel. Und Castro ließ sie gehen. Der tiefe soziale Konflikt, den die Revolution in einer ohnehin polarisierten Gesellschaft unweigerlich auslöste, wurde ausgelagert und damit Teil der Konfrontation "Kuba versus USA".

Während Anfang der sechziger Jahre die DDR-Führung eine Mauer bauen ließ, um einen ähnlich gelagerten Aderlass ihrer Bevölkerung zu unterbinden, tat die Regierung in Havanna das genaue Gegenteil: sie etablierte eine regelrechte Luftbrücke in die USA, über die seit 1962 330.000 Kubaner der Insel den Rücken kehren konnten.

Der derzeitige Konflikt zwischen Kuba und den USA greift zurück auf die letzte spektakuläre Emigrationswelle: Als es 1994, auf dem Tiefpunkt der Wirtschaftskrise, erstmals zu offenen Unruhen im Zentrum Havannas gekommen war, trat Fidel Castro die Flucht nach vorn an und gab erneut die Emigration über den Seeweg frei. Mehr als 35.000 Kubaner verließen innerhalb weniger Wochen ihre Heimat auf selbstgezimmerten Flößen.

Die deprimierende Massenflucht der balseros (balsa - Floß) 1994 blieb in Kuba als nachwirkendes Trauma zurück. Im Tauziehen mit den USA konnte Fidel Castro diese Krise allerdings als vollen Sieg verbuchen. Denn für die kubanische Regierung ist Abwanderung mehr als nur ein soziales Ventil; sie lässt sich auch als taktische Waffe gegen die USA nutzen. Mit dem chaotischen Zustrom von täglich fast 1.000 Flüchtlingen - verbunden mit der Drohung, dass dies noch monatelang weitergehen könne - zwang Castro Clinton an den Verhandlungstisch.

Das Ergebnis war jenes Migrationsabkommen von 1994, das die Bush-Regierung jetzt aushebeln will. Havannas zentraler Vorwurf: die USA schaffen Anreize zur illegalen Emigration, indem sie die legale Einwanderung einschränken, aber zugleich all jenen, denen die Flucht über See gelingt, Heldenstatus und - auf der Basis des 1966 verabschiedeten Cuban Adjustment Act - automatisches Bleiberecht gewähren. Das mit Clinton ausgehandelte Abkommen markierte auf beiden Ebenen gewichtige Änderungen: durch eine feste Quote von mindestens 20.000 Visa pro Jahr für die legale Einwanderung (sehr viel höher als sie den meisten anderen Ländern Lateinamerikas zugestanden wird); und durch die Vereinbarung, dass alle Flüchtlinge, die auf offenem Meer aufgegriffen werden, nach Kuba zurück gebracht würden - ein Bruch mit der bisherigen Vorzugsbehandlung der Kubaner, denen nun die gleiche rigide Ausschaffungspolitik zuteil wurde wie Flüchtlingen aus Haiti oder Jamaika.

Weil das Migrationsabkommen ein substanzielles Moment der Entspannung war, galt es den Hardlinern als weichliches Kuschen vor dem kubanischen Regime. 1996 konterten sie mit dem Helms-Burton-Gesetz, das nicht nur die Wirtschaftsblockade verschärfte und den Besitzanspruch der nach 1959 Enteigneten untermauerte. Es formulierte auch eine massive Drohung hinsichtlich der kubanischen Emigration. Mit bis heute bindender Gesetzeskraft heißt es da in § 101, 4, B, "jegliche neuerliche politische Manipulation des Willens der Kubaner zu fliehen, die zu einer Massenmigration in die Vereinigten Staaten führt, wird als Akt der Aggression betrachtet und eine entsprechende Antwort erfahren". Gegen Castros Drohung mit der "Flüchtlingswaffe" wurde unverhohlen die Drohung mit der Militärmacht der USA gesetzt.

Ein Schlupfloch für kubanische Bootsflüchtlinge ließ allerdings auch das Migrationsabkommen von 1994 offen, und eben hierum tobt seitdem ein erbitterter Streit zwischen Havanna, Washington und Miami. Dem Abkommen zufolge schieben die USA nur jene Flüchtlinge nach Kuba ab, die auf hoher See aufgegriffen werden; jene aber, die amerikanisches Festland erreichen, erhalten nach dem Cuban Adjustment Act weiterhin ein Bleiberecht. Diese Unterscheidung führt bizarrer Weise dazu, dass diejenigen, denen es gelingt, Sicherheitskräfte der USA erfolgreich auszumanövrieren, dafür noch belohnt werden.

Die Regierung in Havanna wirft daher den USA vor, die illegale Flucht fortgesetzt zu stimulieren. Seit einen Jahr werden Hunderttausende auf der Insel zu Kundgebungen gegen den Cuban Adjustment Act mobilisiert - das "Mördergesetz" (ley asesina), so die offizielle Sprachregelung.

Spätestens hier ist ein Wort zur Größenordnung des Emigrationsproblems für Kuba nötig. Mehr als eine Million Menschen sind seit 1959 ausgewandert, etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Daten sagen nichts aus über die Zahl derer, die auswandern würden, wenn sie könnten. Dramatischer ist so eine andere Zahl: Als 1996 die Interessenvertretung der USA in Havanna bekannt gab, ein paar Tausend Visa per Lotterie zu vergeben, stellten nicht weniger als 436.277 Kubaner umgehend einen Antrag auf Einwanderung in die USA, obgleich man hierfür stunden- und teils tagelang vor der US-Vertretung warten musste und die Erfolgsaussicht denkbar gering war.

Nun sind auch in anderen Ländern der Region die Emigrationszahlen ausgesprochen hoch. In Jamaika etwa hat in den neunziger Jahren jeder zwölfte Einwohner seine Heimat gen USA verlassen. Wenn in Kuba argumentiert wird, die Abwanderung sei nichts Besonderes, sondern eine Konsequenz der Kluft zwischen armen und reichen Ländern, dann unterschlägt das doch: Kuba ist kein Land wie alle anderen. Derart massive Auswanderungsbestrebungen in die USA haben mit Sicherheit andere politische Implikationen in einem System, das sich just über seine Gegnerschaft zu den USA legitimiert und dafür fortwährend "das einige Volk" als Zeugen reklamiert. Die Regierung hatte in diesem Jahr ein Referendum anberaumt, bei dem sich offiziell sage und schreibe 99,37 Prozent der Kubaner dafür aussprachen, dass der Sozialismus in Kuba für alle Zeit unantastbar ist. Jeder weiß aber, dass auch all jene Kubaner brav votiert haben, die schon morgen ihr Leben in Miami fortsetzen würden, sollte ihnen das Glück bei der Visa-Lotterie hold sein. Wenn also die Zahlen der Bootsflüchtlinge derzeit wieder steil in die Höhe gehen, dann liegt dies nicht nur daran, dass die Bush-Regierung den alternativen Weg der legalen Einreise weitgehend gekappt hat und auch nicht nur an der kritischen Versorgungslage, es liegt auch an einer Sklerose des politischen Systems und einer so massiv wie lange nicht mehr erlebten Re-Ideologisierung des Alltagslebens auf der Insel.

Parallel zum Konflikt zwischen Washington und Havanna ist in den zurückliegenden Wochen auch ein Streit zwischen dem kubanischen Exil und der US-Regierung entbrannt. Wo die Strategen um Bush das Migrationsabkommen auf der Ebene des zugesagten Visa-Kontingents aushebeln, setzen die Hardliner in Miami beim zweiten Punkt an: Der Rückführung auf See aufgegriffener Flüchtlinge - seit 1990 waren das mehr als 1.000 Kubaner. Human Touch-Stories über gescheiterte Fluchtversuche füllen die Medien in Florida. Natürlich nur, wenn es kubanische Boat people sind, zurückgeführte Haitianer sorgen für eine Erfolgsmeldung über die effiziente Arbeit der Küstenwache. So muss bei den kubanischen Flüchtlingen das humanitäre Anliegen, um mit größtmöglicher moralischer Emphase vorgetragen werden zu können, ideologisch aufgerüstet sein: "Niemand ist jemals über die Berliner Mauer zurückgeworfen worden!", so Lincoln Díaz-Balart, cubano-amerikanischer Kongressabgeordneter. Andere Exil-Größen haben mit Austritt aus der Republikanischen Partei gedroht, sollte Bush seine "Ausschaffungs-Kollaboration mit dem kubanischen Diktator" fortsetzen.

Politisch zeigt das Wirkung. In Florida stehen Gouverneurswahlen an und damit in einem Schlüsselstaat für die Politarithmetik der USA. Die Stimmen der kubanischen Community sind oft das Zünglein an der Waage. Im Jahr 2000, nachdem die Clinton/Gore-Regierung in einer spektakulären Aktion den Flüchtlingsjungen Elián nach Kuba zurückbringen ließ, erhielt Gore in Florida nur 18 Prozent der Cubano-Stimmen und verlor so möglicherweise die Präsidentenwahl.

Jeb Bush, Bruder des Präsidenten und um seine Wiederwahl kämpfender Gouverneur, hat nun sogar einen medialen Bruderzwist inszeniert und das Weiße Haus wegen seiner Rückführungspolitik attackiert. Doch die Rückkehr zu einer Politik, kubanische Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen, hat auch in den konservativsten Kreisen des US-Establishments keine Chance. Mit seiner aggressiven Außenpolitik will Washington nicht Zehntausende bettelarmer Immigranten an den Stränden von Florida haben, sondern in Havanna die Exit-Option erschweren, auf dass der innere Druck gegen die Regierung Castros wachse.

Bert Hoffmann arbeitet als Politikwissenschaftler am Lateinamerika-Institut der FU Berlin und am Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.


Auswanderung aus Kuba 1959-2000


Jahrungefähre Zahl
der Immigranten

195930.000

1962/196380.000

197045.000

197510.000

1980/1981120.000

19854.000

19903.000

199415.000

199816.000

200020.000

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