Das erste Buch, das ich mir in meinem Leben selbst gekauft habe, war Unter Geiern von Karl May. Es kostete 50 Schillinge, das war – in Oberösterreich, Anfang der siebziger Jahre – genau der Betrag, den ich damals von unserer Nachbarin dafür bekommen hatte, dass ich gemeinsam mit ihren Kindern ein paar Tage lang eine Wiese von Steinen gesäubert hatte. Viele Jahre später erfuhr ich, dass Unter Geiern vom Karl-May-Verlag in Radebeul offiziell als Einstieg in das Universum des sächsischen Weltenschöpfers empfohlen wird – das Universum, das so viele begeistert hat. Von Einstein bis Liebknecht, von Heinrich Mann bis Harry Rowohlt, von Roman Herzog bis Claudia Roth.
In Unter Geiern ist in optimaler Verdichtung alles da, was den Reiz dieser Abenteuergeschichten auf junge Leser ausmacht: eine besondere Landschaft (der Llano Estakado im nördlichen Texas, in dem man als bleiches Gerippe endet, wenn man sich nicht vorsieht), ein geheimnisvoller Held (der „Geist“ des Llano Estakado ist natürlich auf der Seite der Guten), das übliche Personal an schrulligen Nebenfiguren (untere anderem der dicke Jemmy), und natürlich die Blutsbrüder Winnetou und Old Shatterhand.
Der Westmann aus Ostdeutschland vollbringt in Unter Geiern sogar ein Naturwunder: Er legt Feuer und sorgt dadurch für Regen. Das konnte sich fast mit den Brotvermehrungswundern des Propheten aus Palästina messen, von dem wir damals auch viel zu lesen bekamen. Aber Old Shatterhand hatte Jesus eine Reihe von Vorzügen voraus: Er war ebenso friedfertig, beherrschte aber bei Bedarf den K.O.-Schlag; er legte ebenso wenig Wert auf einen festen Wohnsitz, hatte aber einen deutlich größeren Aktionsradius. Nämlich die ganze Welt, aber in den Grenzen der 74 Bände, die als Liste in jedem der grünen Bücher aus Radebeul am Ende stand – als Ansporn und Verheißung, es irgendwann bis zu so klingenden Titeln wie Von Ardistan nach Dschinnistan, Der Löwe der Blutrache oder Professor Vitzliputzli zu schaffen. Von einem Buch der Liebe, das heute als Band 87 von insgesamt inzwischen 93 vorliegt, war damals noch keine Rede. Für mich endete Mayistan damals mit Der verlorene Sohn, also auf einer weiteren biblischen Note.
Und plötzlich sagte er „Ich“
Ziemlich genau in der Mitte der Liste stand der Titel, der einige Jahre später die erste Irritation mit sich brachte: „Ich“. Ich muss zwölf gewesen sein, als ich dort ankam, und war damit noch ein wenig zu jung für eine Durchdringung des Problems der Fiktionalität. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen Grund zur Annahme, dass dieser Karl May, der mit stechendem Blick und imposantem Schnurrbart über seine Gesamtausgabe wachte, nicht höchstselbst in Amerika Old Shatterhand und in der Wüste Kara Ben Nemsi gewesen war. Wie auch, er sprach ja ständig von sich selbst, und nun sagte er plötzlich „Ich“ auf eine Weise, dass auch dem Heranwachsenden dämmerte, dass hier ein Hase im Pfeffer und vielleicht auch schon eine Flinte im Korn lag. Darauf deutete vor allem die Tatsache, dass der erste Text den Titel „Meine Beichte“ trug.
Old Shatterhand aber konnte nichts zu beichten haben, er machte doch immer alles richtig (erst später fiel mir auf, wie fad er dadurch wurde). Aus den autobiografischen Texten von Karl May ging aber nun jedenfalls eindeutig hervor, dass Ardistan in der Nähe von Zwickau lag, und dass der Verfasser nie bei den Apachen gewesen war. Schlimmer noch: Er hatte sich als junger Mann eine Menge zuschulden kommen lassen, saß eine Weile im Gefängnis, begann spätestens dort seine rege Phantasieproduktion zu verschriftlichen und gelangte so aus problematischen sozialen Umständen „empor ins Reich der Edelmenschen!“ So heißt ein weiterer Text in „Ich“, mit dessen Spannungskurve ich damals nichts anfangen konnte.
Damit endete im Grunde meine erste Phase mit Karl May, ein Reclambändchen von E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi öffnete ganz neue Bereiche seriöser Literatur. Mit dem gänzlich unschuldigen Lesen war es bald vorbei.
Die meisten Leser von Karl May haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Man wächst irgendwann über ihn hinaus. Dazu kommt noch ein generationeller Aspekt: nur in einer Welt mit bloß zwei oder drei Fersehprogrammen konnte man noch diese naive Erfahrung von Globalisierung machen. Wenige Jahre nach der berüchtigen „Kongokonferenz“ 1885 in Berlin, als die westeuropäischen Mächte Afrika unter sich aufteilten, fügte May die Welt nämlich wieder zusammen als homogenen Aktionsraum für seine Helden. Wo immer sie hinkommen, drehen sie der Weltgeschichte eine Nase. Kara Ben Nemsi tut sich im Osmanischen Reich um (Allah il Allah), Old Shatterhand durchkreuzt die Indianerkriege im amerikanischen Westen (Winnetou), Karl Sternau kämpft in Mexiko gegen Kaiser Maximilian (Das Waldröschen), und in China bekommt es ein Ich-Erzähler namens „Charley“ mit Flusspiraten zu tun (Am Stillen Ozean). Bei all dem schrieb Karl May aus allen Quellen ab, die er kriegen konnte, und entwarf so ein Weltgebäude als Schatzkästlein des deutschen Hausfreundes.
Und gerade so wurde er zum Klassiker einer Kulturnation, die zwischen den großen Kolonialmächten ihres Platzes in der Welt nie so richtig sicher war. In Karl Mays Expeditionsberichten Von Bagdad nach Stambul und generell Auf fremden Pfaden findet sich allerdings auch vorweggenommen, was heute geopolitische Grundtatsache ist: Großmächte beherrschen nicht mehr, sie intervenieren. Charley ben Nemsi al Shatterhand mag die exekutiven Potenzen eines James Bond haben, im Grunde aber ist er der Emissär einer Weltgesellschaft, die Karl May vom frommen Vereinigungsende her dachte: Mit der Bekehrung Winnetous zum Christentum hub eine große Ökumene an, die bald auch die Muselmanen (so sagte man damals noch) zu Marienverehrern machen sollte (Maria oder Fatima) und am Ende eben eine UN der Edelmenschen vorsah, gebaut auf eine synkretistische Weltreligion mit den heiligen Bergen Dschebel Marah Durimeh und Mount Winnetou. Wo es mit dieser Entwicklung haperte, da bedurfte es eben gelegentlich eines Schläfenhiebs.
Hier sind wir nun wohl sehr nahe an der „Central-Heizung“ des Werks von Karl. Diese liegt nicht so sehr in der grundlegenden (Homo-) Erotisierung der Landschaften und Verhältnisse, wie Arno Schmidt meinte, sondern in deren konsequenter Umwidmung ins Edle. Karl May war ein gebeutelter Idealist, und das zuvorderst hat ihn zu einem deutschen Klassiker disponiert. Einem Klassiker auf Abruf allerdings, der in der Regel über die Hürden der Aufklärung (angefangen mit der sexuellen) nicht drüberkommt. Die grünen Bände bleiben irgendwann zurück, und nur Kindsköpfe, Lebensverweigerer, Privatmythologen und andere Sonderlinge (wie das mit den Mädchen ist, wäre eine eigene Untersuchung wert) lesen noch als Erwachsene weiter auf den Bowie-Pater (Band 84) zu.
So dachte ich zumindest als junger Student, tief beeindruckt von den akademischen Aufklärungslawinen, die in Form von Literaturlisten über mich hereinbrachen. Doch dann tauchte Karl May plötzlich in diesen Literaturlisten auf. 1987 wurde eine „Historisch-kritische Ausgabe“ seiner Schriften angekündigt, sie sollte 99 Bände umfassen, und damit stand der sächsische Fabulierer einer zweiten, anderen Lektüre offen – einer aufgeklärten, analytischen, reflexiven.
Dieses Mal musste ich keine Agrarfläche urbar machen, um mir sofort Die Juweleninsel zu besorgen, in der Taschenbuchausgabe von Franz Greno, schön gesetzt, ein prächtiges Buch, allerdings mit einem spärlichen Apparat. Doch die Enttäuschung kam bald, und sie war eine mehrfache: Die Lektüre erwies sich als zäh. Ich wusste wohl schon zu viel über die Welt, als dass ich den fiktiven Staat Norland darin einordnen wollte, und doch noch viel zu wenig, um diesen neuen Karl May in ein Verhältnis etwa zu Gottfried Keller setzen zu können, dessen Grünen Heinrich ich damals als viel tiefer empfunden und viel genauer geschrieben empfand. Ohnehin kam die Historisch-kritische Ausgabe nicht weit, inzwischen ist sie übrigens längst in den Karl-May-Verlag eingemeindet, gegen den sie damals durchaus polemisch konzipiert worden war. Diesen Schritt habe ich nicht mehr mitvollzogen, meine zweite Phase mit Karl May blieb ein Intermezzo.
Das Epische in Serie
Wird es eine dritte geben? Zu seinem 100. Todestag verspüre ich wieder dieses Ziehen in meiner Imagination, ein Ziehen, das ganz buchstäblich zu nehmen ist: Noch immer geht von diesen Namen, Orten, Taten eine Faszination aus, die integriert werden will – integriert in den größeren Zusammenhang (wie war das noch einmal mit Klekih-petra und 1848?), integriert aber auch in einen persönlichen Bildungsroman, der uns doch gerade beigebracht hat, uns für die Lust am Populären nicht zu schämen, sondern vielleicht aus dem Genießen etwas zu lernen.
Karl May wurde für seine Lügengeschichten übel gepiesackt, und er glaubte, sich selbst zum Helden einer Läuterungsgeschichte machen zu müssen, mit Old Shatterhand als „Menschheits-Ich“. Auch das ist interessant, doch wesentlich interessanter ist Ernst Blochs Feststellung, dass an den Lügen „etwas dran sein muss“, was noch nicht abgegolten ist. Der Denker des Utopischen mochte Winnetou lieber als Babel und Bibel, er zog den Phantasten May dem Esoteriker vor, und bereitete so einer Lektüre den Weg, die viel mit der heutigen Begeisterung für Mehrfach-Codierungen in Fernsehserien und für neue Formen des Epischen im Seriellen zu tun hat, und bei der mir gerade das Wasser im Mund zusammenläuft.
Ich habe mir also den ersten Band aus dem Kolportage-Zyklus Das Waldröschen gekauft. Die Abenteuer des deutschen Arztes Karl Sternau erschienen mir bei der ersten Lektüre als der Inbegriff des Kolportage-Genres (mehr Geheimgänge, mehr doppelte Identitäten, mehr Weltpolitik im Privaten schien undenkbar), das müsste doch mit dem Teufel zu tun haben, wenn das heute wirkungslos bliebe. Und wenn das mit dem Waldröschen klappt, dann bin ich vielleicht bereit für das größte Abenteuer, von dem die Kenner als einem Höhepunkt der literarischen Romantik raunen: Für die Wiederbegegnung mit Old Surehand, der im Llano estakado seinen verschollenen Bruder Apanatschka trifft, einen Komantschenhäuptling mit dem bürgerlichen Namen Fred Bender. Einer Welt, in der deutschen Ausgewanderten so etwas zustoßen kann, ist mit der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Bewusstsein nicht beizukommen. Sie beruht auf Spannungen, die auch noch die unseren sind.
Bert Rebhandl, Jahrgang 1964, ist Filmkritiker und Sachbuchautor
Zwischen Dichtung und Wahrheit
Karl May gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern der Welt. Bis heute wurden 2 Millionen Bände seiner Werke verkauft, Hörbücher und Kassetten nicht eingerechnet. Übertroffen wird er nur von Agatha Christie und der Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling.
Am 25. Februar 1842 im sächsischen Ernstthal in einer armen Weberfamilie geboren, fiel May schon als Kind wegen seiner großen Fantasie auf. Noch nutzte er sein Talent aber nicht für das Schreiben. Nachdem seine Karriere als Lehrer 1861 abrupt beendet wurde, weil er eine Taschenuhr gestohlen hatte, verlegte er sich auf Diebstähle und Hochstapeleien. Das brachte ihm mehrere Gefängnisaufenthalte ein.
Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim 1874 begann May Erzählungen für den neu entstehenden Markt an Unterhaltungsblättern zu schreiben. Bis zu seinem Tode erschienen in Fortsetzung über hundert seiner Geschichten. Der entscheidende Durchbruch kam 1891. Der Jungverleger Friedrich Ernst Fehsenfeld bot ihm an, die Erzählungen in Buchform herauszubringen. 1892 erschien der erste Band von Carl Mays Gesammelten Reiseromanen. Damit begann der Welterfolg.
Die Orte seiner Erzählungen besuchte May erst Jahre später. 1899 brach er zu einer Orientreise auf, 1908 folgte ein Amerika-Besuch. Sehen zu müssen, wie sehr Dichtung und Realität auseinanderklafften, machte ihm schwer zu schaffen. Auf der Orientreise erlitt er mehrmals Nervenzusammenbrüche.
May starb mit 70 Jahren am 30. März 1912 in der Villa Shatterhand in Radebeul.
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