Berlin ist eine Wissenschaftsmetropole. 135.000 Studenten studieren hier derzeit, aber das soll sich bald ändern. Der Berliner Wissenschaftsrat hat Mitte 2000 eine Reduzierung auf 85.000 gefordert. Das entspräche, so wird argumentiert, dem Bevölkerungs- und Abiturientenanteil der Region. Bis zum Jahr 2003 soll so auch eine Milliarde Mark eingespart werden. Ein prominentes Opfer dieser Kürzungspolitik ist das Otto-Suhr-Institut, der politikwissenschaftliche Fachbereich der Freien Universität, einer der größten in Deutschland. Wo einmal 50 Professoren lehrten, sollen es bald nur noch zwölf sein. Eigentlich Anlass, dass Berlin langsam Angst um seine Lehr- und Forschungsvielfalt haben müsste.
Die Frittenbude vor dem Otto-Suhr-Institut ist geschlossen. Ein eindeutiges Anzeichen, dass Semesterferien sind. Um diese Zeit ist es beschaulich, fast besinnlich hier draußen am politikwissenschaftlichen Institut der Freien Universität (FU) Berlin im feinen Ortsteil Dahlem: Nur wenige Studierende büffeln in der Bibliothek, viel Straßenverkehr herrscht sowieso nie. Die Krokusse treiben langsam aus.
Von den heißen Debatten um die Zukunft des größten Instituts für Politikwissenschaft in Deutschland, die das vergangene Semester geprägt haben, künden noch die Stellwände im Foyer mit Zeitungsausschnitten von FAZ bis taz und Briefen und Gegenbriefen einiger Professoren und des FU-Präsidenten. Keine Spur findet sich jedoch mehr von der eintägigen Besetzung des Instituts im Dezember durch Studenten, keine gesprühten Sprüche leuchten an den Fassaden. Das renovierte Hauptgebäude des Otto-Suhr-Instituts strahlt in frischem weiß-blauen Glanz.
Dieses Bild trügt: Die Stimmung an dem von Studenten, Professoren kurz und prägnant "OSI" genannten Institut ist zehneinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung keineswegs glänzend. Wie die "große Mutter", die Freie Universität insgesamt, hat das OSI noch immer mit den strukturellen Veränderungen nach 1989 zu kämpfen, weitaus heftiger als heute wurde es damals in die politischen Strudel Berlins nach der Wiedervereinigung hineingezogen. "Das, was die Besonderheit des OSI und der FU ausmachte, war zutiefst mit der deutschen Teilung verbunden", meint Martin Wildermuth, der sich als wissenschaftlicher Assistent am OSI fünf Jahre lang intensiv mit dessen Geschichte befasst hat.
Die Freie Universität hat sich seit ihrer Gründung 1948 explizit als Gegenpol zur Humboldt-Universität (HU) im Ostteil der Stadt verstanden. Knapp ein Jahr nach der FU wurde die Deutsche Hochschule für Politik, die bereits in der Weimarer Republik bestanden hatte, in Berlin wiedergegründet. 1959 wurde sie unter dem Namen Otto-Suhr-Institut der FU angegliedert. Damals konnte man etwa 700 Studenten und elf Lehrstühle am OSI zählen, denen lediglich 19 Professuren in Westdeutschland gegenüber standen. Mitte der siebziger Jahre unterrichteten an dem inzwischen eigenständigen Fachbereich fast 50 Professoren, 1993 waren es, trotz erster Strukturreformen und Sparmaßnahmen, immer noch 42. In Deutschland existierte kein politikwissenschaftliches Institut, das die Bandbreite des Faches so umfassend abdeckte. Das war auch der Anspruch am OSI: Man verstand Politikwissenschaft, geprägt von Ernst Fraenkel, als Integrationswissenschaft - heute hieße das Interdisziplinarität.
Die - ironischerweise von der Disziplin nicht vorausgeahnte - Wiedervereinigung beendete die Sonderstellung. Heftige Konkurrenz, nicht nur um finanzielle Mittel, erwuchs dem OSI plötzlich vor der eigenen Institutstür: Der Berliner Senat entschied 1991, die Humboldt-Universität zur zentralen Universität in Berlin mit einer gut ausgestatteten Politikwissenschaft aufzubauen. Auch an der Universität Potsdam etablierte sich das Fach. Das Otto-Suhr-Institut wurde in der Folge vom Platzhirschen der deutschen Politikwissenschaft zum Gejagten im Berliner Revier, das auf Regionalmaß zurechtgestutzt werden soll. Die finanziellen Streichungen nahmen seitdem immer neue Dimensionen an.
Mit der jetzt akut drohenden Reduzierung auf 12 Professuren wäre - zumindest numerisch - fast der Stand von 1959 wieder erreicht, allerdings bei einer Zahl von gegenwärtig rund 3.800 Studenten. Dieser Vergleich hinkt jedoch, wie Gerhard Göhler, seit 1978 Professor am OSI und Kenner der Geschichte des Instituts, zu bedenken gibt. Die Lehrvielfalt werde damit nicht auf das damalige Niveau heruntergefahren: Immer noch gebe es zahlreiche Privatdozenten am Institut. Ohne sie ginge jedoch überhaupt nichts mehr. Die meisten von ihnen bekommen allerdings kein Geld: Die finanziellen Löcher am OSI sind größer, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Rückblickend auf die Weichen stellende Entscheidung zur Erweiterung der HU glaubt Göhler, dass den politisch Verantwortlichen "damals wohl gar nicht klar war, dass ihre Entscheidung solche Konsequenzen haben würde". Und niemand habe damals eine Zusammenarbeit der verschiedenen Institute initiiert. "Man war wohl der Meinung, das vernetzt sich alles irgendwie", seufzt der Politikprofessor. Dazu kam es bis heute jedoch nur in geringen Maße. Zwar seien die Beziehungen zu den Kollegen an der HU "problemlos". Angesichts der beschränkten Finanzlage der Stadt gerate der dortige Wiederaufbau der Politikwissenschaft allerdings zu einem Nullsummenspiel für die Disziplin in Berlin: Was die Humboldt-Universität gewinne, verliere die FU.
Die Entscheidung für die den Aufbau einer Politikwissenschaft an der HU war auch eine politische Entscheidung gegen das OSI. Letzteres war seit den siebziger Jahren zum Feindbild geworden "für gesellschaftliche Gruppen, die am Status Quo interessiert waren", wie Wildermuth vorsichtig formuliert. Gründe dafür könnten die Besonderheiten des Instituts gewesen sein: Der "normative Bezug zur politischen Praxis", der über alle politischen Lagergrenzen hinweg bestanden habe; die "hochemotionalisierte Art", in der am OSI viele Konflikte ausgetragen wurden, und die Tatsache, dass das Institut die erste Hochschulinstitution in Deutschland war, die sich 1968 eine Mitbestimmung aller beteiligten Gruppen satzungsgemäß festschrieb.
Das sind zumindest die Legenden, die sich um das Institut ranken, aber nur noch von geringer praktischer Bedeutung sind. "Die schlichte Beschwörung der OSI-Vergangenheit ist Nostalgie", sagt Göhler bestimmt. Inzwischen sei selbst der Anspruch als Integrationswissenschaft fast zum Mythos geworden. Dabei handele es sich um ein Vorbild für die Wissenschaftsauffassung jedes einzelnen Dozenten im Haus. "Mit der Anzahl der Professoren hat das wenig zu tun", stimmt Wildermuth zu. Interdisziplinarität funktioniere nur dort, wo wissenschaftliche Konkurrenz weitgehend ausgeschlossen ist. In der Politikwissenschaft in Berlin ist dies weniger denn je der Fall.
Göhler gibt sich dennoch zuversichtlich, vielleicht auch nur zweckoptimistisch: "Ich versuche nicht nur zu jammern, auch wenn einem manchmal zum Jammern zu Mute ist". Noch immer besitze das Institut eine "exzellente Infrastruktur" wie die Bibliothek; die Arbeitsmöglichkeiten seien gut und das OSI für die Studenten attraktiv: Allein ihre Zahl spreche für sich. Kommt es zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den anderen Instituten in Berlin und Potsdam, bestünde seiner Ansicht nach durchaus die Chance, dass das OSI auch in Zukunft eine "wichtige Rolle" in der Politikwissenschaft spielt.
Die Betreiber der Frittenbude vor dem Otto-Suhr-Institut haben die Hoffnung auch nicht aufgegeben: Vor wenigen Monaten tauschten sie ihren alten Stand gegen einen weiß glänzenden neuen aus.
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