Der Freidenker

Ideale Freiheit war für Günter Gaus ohne soziale Sicherheit nicht denkbar
Ausgabe 19/2014

Natürlich hat es viele Situationen gegeben, in denen ich mich gefragt habe, was mein vor zehn Jahren verstorbener Vater Günter Gaus wohl dazu gesagt hätte. Manchmal habe ich bedauert, dass er etwas nicht mehr erlebt hat, manchmal war ich froh darüber – und gelegentlich wusste ich einfach nicht, wie er eine Lage wohl eingeschätzt hätte. So gut kennt man niemanden, nicht einmal den eigenen Vater, dass man sich ein Urteil darüber anmaßen dürfte, wie er jede nur vorstellbare Entwicklung bewertet hätte.

Keinerlei Zweifel habe ich aber hinsichtlich seiner Reaktion auf die Krise in der Ukraine und das Verhalten aller Beteiligten. Wütend wäre er gewesen und sogar traurig, allerdings nicht überrascht.

Besonders erbittert hätte ihn das abfällig gemeinte Wort „Russlandversteher“. Lebenslang hielt er es für eine Voraussetzung konstruktiver Verhandlungen, die Position der Gegenseite nachvollziehen zu können. Es war ihm unbegreiflich, dass Verständnis häufig mit Billigung gleichgesetzt wurde.

Mit dieser Unterstellung war ja auch er als westdeutscher Regierungsvertreter, der mit der DDR verhandelte, oft konfrontiert gewesen. Er hat darunter gelitten. Mein Vater war gegenüber Kränkungen nicht unempfindlich. Aber kein Angriff hätte ihn je von seiner Überzeugung abbringen können, dass es vor allem in Zeiten wachsender Spannungen wichtig ist, alle Kanäle offen zu halten und einander zuzuhören.

Die Verbannung Moskaus aus der Runde der wichtigsten Industrienationen hätte er deshalb sicher für abwegig gehalten. Alles, nur keine Sprachlosigkeit! Je größer das gegenseitige Misstrauen, desto wichtiger war es aus seiner Sicht, im Gespräch zu bleiben. Dahinter stand ein Credo, das er mit vielen Landsleuten seiner Generation teilte: Nie wieder Krieg.

Mein Vater wusste um die begrenzte Haltbarkeitsdauer dieses Grundsatzes. Ihm und seinen Altersgenossen sei das Glück vergönnt gewesen, an einer „Pause mitgewirkt“ zu haben: „An jener Spanne Zeit, die der Mensch als historisches Wesen nach einem tiefen Sturz braucht, bis er sich wieder reckt und ein weiteres Mal die metaphorische Morgenluft wittert.“ Niemals hatte in Deutschland so lange ununterbrochen Frieden geherrscht wie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Aber das Wort Pause beinhaltet die Rückkehr zu vorherigen Verhältnissen. Er hat es noch erlebt, dass Leitartikler in der Diskussion über den Kosovo-Krieg von älteren Kriegsgegnern als der „Jalta-Generation“ schrieben und das verächtlich meinten. Und er hat erlebt, dass behauptet wurde, Friede sei kein Wert an sich. Das hat ihn deprimiert. Aber eben nicht gewundert. Die Pause war vorbei. Kein Schock über historische Ereignisse, und seien sie noch so furchtbar, währt ewig. Nein, auch die Entwicklung der Ukraine-Krise hätte ihn nicht überrascht.

Kohl klaute bei Gaus

Mein Vater, Jahrgang 1929, wurde in Braunschweig als einziger Sohn des Kaufmanns Willi Gaus und seiner Frau Hedwig geboren, die ein kleines Gemüsegeschäft betrieben. Er war und blieb sowohl ein Kind seiner Zeit als auch seiner sozialen Schicht. Wer 1929 geboren wurde, war alt genug, um den Krieg und seine Schrecken bewusst erlebt zu haben – und doch zu jung, um als Soldat an die Ostfront geschickt zu werden. Oder um Schuld auf sich zu laden.

„Die Gnade der späten Geburt“ hat mein Vater das genannt, und er hat das in den 70er Jahren – lange, bevor er es niederschrieb – so häufig gesagt, dass er mir als Teenager damit fürchterlich auf die Nerven gegangen ist. Als Bundeskanzler Helmut Kohl 1984 in Israel dieselbe Wendung benutzte und in Westdeutschland eine wütende Kontroverse auslöste, war ich verwirrt: Anstößig schien mir die Formulierung nicht zu sein. Aber sie stammte doch nicht von Kohl – oder?

Nein, das tat sie nicht. „Gestohlen“ habe sie der Bundeskanzler oder sein Redenschreiber, schrieb mein Vater später. Es war ihm daran gelegen, Unterschiede deutlich zu machen: Kohl habe „seinen Geburtsjahrgang und alle jüngeren mit dem entwendeten Wort freisprechen wollen von deutscher Schuld“. Er selbst habe hingegen ausdrücken wollen, „wie zerbrechlich die Barriere immer ist, die uns damals, gnädig, vom Dienst an der Rampe in Auschwitz bewahrt hat“.

Er hat das sehr ernst gemeint. Seine Definition von der „Gnade der späten Geburt“ war demütig. Es ist schade, dass viele die Demut in diesem streitbaren Mann nicht erkannt haben. Denn letztlich, so glaube ich, war dies die tragende Säule seines Weltbildes. Demut und Dankbarkeit gegenüber Umständen, die es ihm ermöglichten, ein Leben zu führen, das ihm so nicht an der Wiege gesungen worden war. Natürlich brauchte er dafür Talent, Glück, die Unterstützung seiner Eltern und anderer, die ihn förderten. Aber all das hätte nicht gereicht, wären die Verhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht so gewesen, dass es möglich war, soziale Grenzen zu überschreiten. Vermutlich leichter als heute. So erfolgreich er auch gewesen ist: Niemals hat mein Vater vergessen, woher er kam – und wie gefährdet die Existenz derjenigen ist, die nicht zu den Privilegierten zählen.

Deshalb hat er dem Begriff der Freiheit stets misstraut, wenn er nicht mit der Frage nach sozialer Sicherheit verknüpft war. Was nütze es jemandem, nach Mallorca reisen zu dürfen, wenn er oder sie nicht einmal die Miete bezahlen könne? Das fragte er oft. Beliebt macht man sich mit derlei Fragen im siegreichen Kapitalismus nicht. Also wurden auch solche Äußerungen oft missverstanden. Gelegentlich böswillig, etwa als Rechtfertigung einer Einschränkung der Reisefreiheit. Oder gar generell als Freibrief für autoritäre Regierungen, die bürgerliche Freiheitsrechte missachteten.

Das war infam. Mein Vater war selbst allzu freiheitsliebend, um staatliche Gebote und Verbote für hinnehmbar zu halten, deren Notwendigkeit ihm nicht einleuchtete. Wahr ist allerdings: Er hat keine individuelle Freiheit je losgelöst von der sozialen Situation sehen können. Wenn es um die Güterabwägung zwischen Freiheit und Sicherheit ging, dann setzte er andere Prioritäten als die Mehrheit derjenigen, die in Westdeutschland den Ton angaben.

Er hatte ja auch ein anderes Leben geführt. Bis er neun Jahre alt war, wohnte er mit seinen Eltern in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Er war das erste und blieb lange das einzige Kind der weitläufigen Verwandtschaft, das ein Gymnasium besuchte. Auf dem er natürlich auch nicht „dazu“ gehörte. Was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein, musste man meinem Vater nicht erzählen. Wahrscheinlich hat er deshalb lebenslang Partei für die Schwächeren ergriffen – oder wen er dafür hielt. Das Recht auf Anpassung hat er in den Rang eines Menschenrechts erhoben, er war es, der in einem seiner Bücher für die DDR den Begriff der „Nischengesellschaft“ prägte.

Die Sehnsucht nach dem stillen Glück im Winkel: Mein Vater hat diese Sehnsucht nicht geteilt, aber verstanden. Der Wunsch nach einem Leben im Frieden und in gesicherten sozialen Verhältnissen ist ja vermutlich weltweit die am weitesten verbreitete Vorstellung von Glück.

Weltweit? Darüber hätte mein Vater wohl kein Urteil fällen mögen – oder können. Dass ihm Nationalismus so fern lag wie Kriegslüsternheit, ist angesichts seiner Biografie nicht erstaunlich. Umso überraschender fand ich stets, dass sein politisches Augenmerk sich lebenslang fast ausschließlich auf Deutschland richtete. Andere Länder, die er privat gerne bereiste, interessierten ihn vor allem im Zusammenhang mit der Frage, was sie für seine Heimat bedeuteten.

Perspektive Deutschland

Diese Haltung war frei von jedem Gefühl der Überheblichkeit. Mein Vater hielt Deutschland nicht für wichtiger oder gar besser als andere Teile der Welt – im Gegenteil: Ich glaube, dass sich sein Patriotismus vor allem daraus speiste, dass ihn die Auseinandersetzung mit der historischen deutschen Schuld nie losgelassen hat.

Die Konzentration auf Deutschland prägte sein Weltbild. Die immer stärkere Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union blieb ihm fremd. Er sah darin keine Garantie für Frieden, sondern eine Bedrohung der Demokratie und der sozialen Sicherheit. Die Finanzkrise hat er nicht mehr erlebt. Er hätte sich vermutlich in seinen Ansichten bestätigt gesehen.

Bedrohung der Demokratie? Wenige Monate vor seinem Tod veröffentlichte mein Vater den Aufsatz: „Warum ich kein Demokrat mehr bin“. Darin heißt es: „Ich bin vor allem deswegen kein Demokrat mehr, weil aus dem gesellschaftlichen Zusammenwirken von Wählern und Gewählten mehr und mehr eine Schauveranstaltung geworden ist. Stars, aus dem Fernsehen bekannt und ausgewählt nach dem Gelingen ihrer Auftritte, buhlen von Zeit zu Zeit um die Gunst des Publikums, das einst seinem Anspruch nach der demokratische Souverän gewesen ist. Unter Wahrung der demokratischen Formen ist der Inhalt dieses politischen Systems gegen wechselnde Events ausgetauscht worden.“

Die Analyse fand ich großartig, die Schlussfolgerung frivol – zumal er deutlich machte, dass ihm kein anderes System besser gefiel. Wir haben mehrfach lange über diesen Text gesprochen, und ich glaube, er hatte Verständnis für meine Kritik. Aber die Enttäuschung saß zu tief über das, was aus der politischen Kultur dieses Landes geworden war, als dass er seine Worte – und sei es im privaten Rahmen – hätte zurücknehmen mögen.

Die Enttäuschung meines Vaters lässt sich nicht mehr mildern. Dafür ist es zu spät. Noch ist es allerdings nicht zu spät, ihn posthum zu widerlegen. In dieser Hinsicht ist jedoch in den letzten zehn Jahren meinem Eindruck nach wenig geschehen.

Bettina Gaus, 57, ist das einzige Kind von Günter Gaus. Sie wurde selbst Journalistin, ist politische Korrespondentin der taz und Autorin mehrerer Bücher

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