Werkgenetische Isolierung

Widerrede Céline war ein herausragender Schriftsteller – und Antisemit. Daran lässt sich nichts beschönigen, auch wenn Philippe Muray das versucht
Louis Ferdinand Celine
Louis Ferdinand Celine

Foto: Süddeutsche Zeitung / Rue des Archives

Louis-Ferdinand Céline ist einer der problematischsten Fälle der französischen Literatur: An ihm diskutieren unsere europäischen Nachbarn seit Jahrzehnten die Frage, ob ein Schriftsteller nach rein ästhetischen Kriterien beurteilt werden sollte, oder auch nach seinem Charakter, seiner Lebensführung und den von ihm geäußerten Ansichten. Die Frage also nach Leben und Kunst, Ästhetik und Moral.

Wie Knut Hamsun, Carl Schmitt, Ezra Pound, Martin Heidegger und Ernst Jünger, gehört Céline zu den politisch kontaminierten Autoren. Sein Erstling Reise ans Ende der Nacht ist 1932 ein durchschlagender Erfolg. Céline erfindet darin ein neues Französisch, aus Bettlerjargon und Hochfranzösisch verschmolzen, mit Wortschöpfungen und Lautmalereien gespickt, den Satzbau zerhackt in einem Gestus von Hysterie und Paranoia, in dem sich die Brutalität, der Nihilismus, die Anarchie, die Angst von einem spiegelt, der durch die Hölle des Ersten Weltkriegs gegangen ist. Auf diesen Roman jedoch folgen zwischen 1937 und 1941 drei Pamphlete, Bagatelles pour un massacre, L’École des cadavres und Les Beaux Draps, die durch ihren extremen Antisemitismus und Rassismus schockieren.

Die Tragödie als Farce

Es folgt die Kollaboration mit den Deutschen während der Okkupation. 1944 flieht Céline nach Deutschland, dann nach Dänemark, um dem absehbaren Todesurteil zu entkommen. Jede Beschäftigung mit Céline, und sei es eine rein werkimmanente, sieht sich daher zu einer Positionierung gezwungen; selbst die Edition seiner Werke, über Jahrzehnte lückenhaft, zeugt von den Schwierigkeiten, jenseits des Entsetzens, ja Ekels, eine Form zu finden, die Rezeption zulässt. Die meisten Kritiker und Exegeten ziehen sich damit aus der Affäre, dass sie die verstörenden Fakten kurz erwähnen, die Pamphlete ästhetisch abwerten und das Werk auf die Romane reduzieren. Bevorzugt auf die Reise ans Ende der Nacht, das Werk „davor“, das man als noch unproblematisch sieht – eine Auffassung, die erst der französische Kulturkritiker Philippe Muray 1981 in seinem gut 260 Seiten starken Essay Céline demontiert.

Jetzt, 31 Jahre später, ist diese umfangreiche Analyse auch auf Deutsch erhältlich. Muray unternimmt darin den Versuch, Werk, Werkphasen und Autor nicht auseinander zu dividieren, sondern zu fragen, welche Linien sich durch all das ziehen und ob Céline vor den Pamphleten tatsächlich frei von Antisemitismus war. Die deutsche Übersetzung erlaubt dabei nicht nur einen anderen Blick auf Céline, sondern auch einen ersten Blick auf Muray, der in Deutschland wenig bekannt ist und bislang kaum übersetzt wurde.

Muray, 1945 geboren und vor sechs Jahren an Lungenkrebs gestorben, zählt mit seinen Thesen zur Herrschaft des Guten (L’Empire du Bien von 1991 ist eines seiner Hauptwerke) zur Posthistoire und mit dem von ihm geprägten „Homo festivus“ zu den „nouveaux réactionnaires“, einer Gruppe von Intellektuellen, die sich als Verfolgte der linken Konsenskultur inszenieren, in der Rolle des Außenseiters gefallen und dem vorgeblich siegreichen Geist von 68 den Krieg erklärt haben. Céline taugt hier als Identifikationsfigur, auch wenn das, etwa bei Michel Houellebecq, eher wie die Wiederkehr der Tragödie als Farce wirkt.

Muray immerhin bemüht sich darum, einmal den ganzen Céline in den Blick zu bekommen. Für ihn gibt es nicht drei Célines – den guten Schriftsteller, den bösen Pamphletisten und schließlich den Menschen –, sondern nur einen, ungeteilt. Der Bruch verläuft für Muray nicht innerhalb Célines, sondern zwischen Céline und allen und allem anderen. Ausgenommen von der Célinschen Negation sei allein das Schreiben, das es ihm erlaube, von dem Empfinden zu sprechen, dass der Krieg nie aufhört, und von der Angst vor dem Sterben, das immer weitergeht und in dem jeder total allein ist. Céline habe zwar überlebt, schreibt Muray, gleichwohl habe der Krieg, der vom Frieden ununterscheidbar geworden sei und unaufhaltbar auf einen neuen Krieg zusteuere, ihn in das Lager der Toten katapultiert. Céline schreibe von der „anderen Seite des Lebens“, von jenseits des Todes. Seine Literatur verkörpere die Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts: die totale Zerstörung.

So weit kann man Muray trotz vieler dunkler Stellen in seinem Buch gut folgen; wenn er sich aber an die Erklärung des Célineschen Antisemitismus macht, beginnt er einerseits eine sexualisierende, psychologisierende Argumentation, die vollkommen krude ist, andererseits versucht er, die Gruppe der Pamphlete anhand werkgenetischer und stilistischer Kriterien zu isolieren; die gewählten Zitate sind in Stil und Gestus denen aus den Romanen aber so ähnlich, dass man seiner Differenzierung nicht zu folgen vermag. Den Verdacht, dass die unterschiedliche Beurteilung der Werkgruppen doch kontextbedingt ist, widerlegt Muray jedenfalls nicht.

Grotesk wie Satire

Vielleicht ist es so banal: Céline wird Antisemit, weil er einen Schuldigen sucht. Für den Krieg, für den erfolglosen zweiten Roman, für die von den Opernhäusern abgelehnten Ballette, seinen Nihilismus, sein – inszeniertes – Außenseitertum. Seine Anschuldigungen gegenüber der angeblichen jüdischen Verschwörung sind so grotesk, dass André Gide die Pamphlete für Satire, für eine exaggerierte Parodie des Antisemitismus nahm.

Letztlich sind es aber nicht nur die Pamphlete, die ihren Autor als Antisemiten brandmarken, sondern dass er sich im Leben konform zu ihnen verhalten hat. Anders als in seinen Romanen macht Céline in den Pamphleten die Erfahrung seiner selbst als eines von Angst beherrschten Parias nicht produktiv, sondern verkehrt sie in den Wunsch, einmal selbst Täter und dadurch erlöst zu werden: indem er den anderen, der reine Projektionsfläche ist, zu vernichten wünscht. Das Schreiben ist nicht mehr Zweck in sich, frei in seiner Bewegung, es erstarrt zu Ideologie. Die in der Realität, in der Céline hoffte, sich nicht länger als Opfer fühlen zu müssen, millionenfach die Erfahrungen reproduzierte, von deren Brutalität er durchdrungen war.

Céline, Philippe Muray, Übersetzung Nicola Denis, Matthes & Seitz, 2012, 264 S., 29,90 €

Bettina Hartz ist freie Literaturkritikerin

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