Ein Gründerzeithaus mit weißer Fassade und vier Stockwerken. Hamburg-Uhlenhorst, am Schrötteringksweg Nummer 9. Vor dem Haus liegt ein Garten mit Rosen, Flieder und Pfaffenhütchen. Es ist das Reich von Judith Seidel, 88 Jahre alt, seit mehr als 50 Jahren Hauswartin. Eine der letzten ihrer Art.
Judith Seidel, eine robuste Frau, trägt eine geblümte Kittelschürze über den Jerseyhosen, ihre Füße seien geschwollen, sagt sie, deshalb trage sie Pantoffeln. Sie führt einen die sieben Stufen hinunter in ihre verwinkelte Zweieinhalbzimmerwohnung im Souterrain mit ausgebauter Kammer und stellt einen Berg Kuchen auf den Kaffeetisch. Wuchtige Polstermöbel, eine mit Porzellanfigürchen und anderer Deko, Büchern und Gesellschaftsspielen beladene Schrankwand, der große Fernseher und nicht zuletzt die dunkle Deckentäfelung geben dem Raum etwas Erdrückendes. An den Wänden hängen Sinnsprüche und gestickte Landschaftsidyllen, Judith Seidel hat sie nach Vorlagen selbst gefertigt. Sie nimmt auf dem Sofa Platz, überrascht und erfreut, dass man sich für ihren Beruf interessiert. Ein Beruf, der wie kaum ein anderer auch etwas von sozialen Unterschieden erzählt. Und der es längst in Romane und ins Kino geschafft hat.
Feste Stundenzahl? Blödsinn!
Wenn Seidel von ihrem Metier erzählt, fängt sie erst mal mit ihrem Vertrag an. Der regle das Putzen der Treppenhäuser. „Zweimal pro Woche fegen, mobben, einmal feudeln, einbohnern, nachbohnern. Eine nasse Grundreinigung ist dank verbesserter Reinigungsmittel mittlerweile nur einmal im Jahr vonnöten.“ Mit ihrem Mann, der auch Hauswart war und vor ein paar Wochen gestorben ist, hat sie sich die Arbeit geteilt – Straße und Vorgarten waren sein Revier. In schneereichen Wintern schippte er den Gehweg frei. Bevor 1978 die Heizung auf Fernwärme umgestellt wurde, musste er Heiz- und Wasserkessel täglich mit zwölf Zentnern Koks befeuern. Ein Knochenjob.
Judith Seidel hat an diesem Dienstag wie immer die Treppe gewischt, jetzt muss sie sich mit einem Gesetz beschäftigen. Sie tippt mit den Fingern auf das Formular, auf dem sie nach dem neuen Gesetz für geringfügig Beschäftigte ihre Arbeitszeit genau eintragen soll. Wegen des eingeführten Mindestlohns ist diese auf 30,2 Stunden pro Monat festgesetzt. „So ein Blödsinn“, ruft Seidel empört. „Als ob ich feste Öffnungszeiten hätte.“ Sie sitzt nicht in einer Loge, wie man es von den klassischen französischen Concierges kennt. Aber in ihrer Wohnung da unten, im Souterrain, ist sie auch nachts erreichbar, für die anderen, die oben wohnen. Jüngst hat eine Hausbewohnerin um Mitternacht geklingelt, weil sie ihren Schlüsselbund in einem Hotel in Peking vergessen hatte. Unzählige Male hätten bei ihr deponierte Wohnungsschlüssel schon den Schlüsseldienst erspart.
Schusseligkeiten, Verluste, Postannahme. „Irgendeiner will immer was.“ Judith Seidel kann aus ihrem Fenster im Souterrain nur die Füße der Passanten sehen, aber selbst von dort habe sie immer im Blick, ob sich jemand Unbekanntes Eintritt zum Haus verschafft. Sie halte sich auch über das Kommen und Gehen im Klinkerbau gegenüber auf dem Laufenden. Auf dem Balkon der jungen Frau gegenüber stehe schon wieder ein anderer Mann! Fast schon moralisch. Die Hauswartin, die ihre Nase überall reinsteckt, sie löst ein gewisses Unbehagen aus. Wichtiger als den Tagesablauf der Leute zu verfolgen, sei es in ihrem Metier, für alle Hausbewohner ein offenes Ohr zu haben, beschwichtigt Seidel sofort. Sie schalte sich, wenn der Haussegen mal schief hängt, auch schon mit deutlichen Worten ein. „Seidel, du hast eine Barmbeker Schnauze“, habe sich ein Bewohner mal mokiert. „Ja, gewöhn dich dran“, konterte sie.
Es sind nur drei Kilometer bis Barmbek, wo Judith Seidel aufwuchs. „Aber zwischen dem Umgangston im Arbeiterviertel und dem im bürgerlichen Uhlenhorst liegen Welten.“ 1964 bewarben sich Seidels auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung für ihre vierköpfige Familie für die Hauswartstelle im feinen Schrötteringksweg. Mit 15 war sie wenige Straßen weiter bei einem Korbmacher „in Stellung“ gegangen, nach ihrer Heirat hatte sie in einer Fabrik Nüsse sortiert. Seit mehr als einem halben Jahrhundert läuten jetzt ein „Moin, moin“ oder „Guten Tag, Mutter Seidel, schön, dass ich Sie sehe“ ihren Arbeitstag ein. Manchmal schaue die Tochter der einstigen Hausbesitzer vorbei, die vor 30 Jahren alle Wohnungen als Eigentum verkauften, zum Siebtel des heutigen Marktwerts.
Seidel sagt, sie habe ihr eigenes Heim, in dem an Regentagen das Licht immer angeschaltet bleibt, nie mit den stuckverzierten Fünfzimmerwohnungen über ihr verglichen. „Warum sollte ich?“ Sie hat ihren festen Platz in einem überschaubaren Kosmos, ihre soziale Rolle gibt ihr Sicherheit. Sie frage sich nur manchmal, welcher Umgangston angebracht sei. Der raue volkstümliche ihrer Kindheit, oder der distanzierte? „Das Du rutscht mir schnell heraus, aber dann sage ich mir: Nein, das sind Herr und Frau ...“
Judith Seidel ist geduldig, sie kann aber auch grob werden. Wenn man ihre Arbeit geringschätzt, trifft sie das als Mensch. Man spürt die Verletzung, als sie von dem Bundeswehroffizier erzählt, der sich kurz nach seinem Einzug vor sie hinstellte und sie während des Putzens von oben bis unten musterte. „Ich sagte: ,Sach mal, mein Jung. Ist mein Kittel dreckig?‘“ Seiner Bemerkung, sie wäre für diesen Beruf zu alt, seien Anweisungen „im Militärdrill“ gefolgt: „Ich sollte die Ecken mitnehmen und dass ich mich auch bücken und mal recken kann.“ Erst sprachlos, dann wütend über seine Attitüde „Wir da oben, ihr da unten“, setzte sie die Hausbewohner mit einer schriftlichen Kündigungsandrohung über den Vorfall in Kenntnis. Nach einer extra einberufenen Eigentümerversammlung hat sich der Offizier bei ihr entschuldigt. Inzwischen erlaube ihr vorsichtiger Umgang miteinander wieder deftigere Töne.
Inzwischen sind die Seidels – ihr Sohn und ihr Enkel betreiben dieselbe Profession – die einzigen dieser Zunft in ihrer Straße. Kollegen wurden von Reinigungsfirmen ersetzt, die Souterrainwohnungen rechts und links sind regulär vermietet. Die Ära der Hauswarte alten Schlags geht vorüber. Zwar werden in hochpreisigen Immobilien die „Concièrge“ und der „Doorman“ wieder eingeführt. Doch: „Der Hausmeister, der im Kittel durch das Haus rast, ist ein Auslaufmodell.
Es wird anonymer
„Heute wird die Dienstleistung meist outgesourct“, sagt Ulrich Ropertz, Sprecher des Deutschen Mieterbundes. Bei statistischen Zahlen muss er passen. Wer sollte die Anzahl der Hauswarte in Deutschland denn erfassen? Für Harriet Wollenberg, Geschäftsführerin einer mittelgroßen Berliner Hausverwaltung, verlangt die Doppelfunktion – einerseits Putzkraft, anderseits Respektperson – einen Spagat. „Reinigung, Müll verdichten, aufpassen, dass nichts im Keller oder Durchgang steht, was nicht dahin gehört, sowie kleine Reparaturen sind die klassischen Hauswartstätigkeiten. Aber Hauswarte müssen weit mehr können. Sie müssen kommunikativ, durchsetzungsfähig sein und trotzdem einlenken können.“
Immer weniger Menschen wollen sich das aufhalsen, bedauert Wollenberg. „Wer ist schon gerne Prellbock?“ Mieter würden sich heute schneller als früher empören, hat sie beobachtet. „Je mehr auf dem Arbeitsmarkt von den Menschen gefordert wird, desto mehr Leistung erwarten sie für ihr sauer verdientes Geld“, so begründet sie die steigenden Ansprüche. Gleichzeitig versiege die Rücksichtnahme: Schuhe vor der Wohnungstür, Equipment für Sport und die Kinder und ausgelagerte Topfblumen im Treppenaufgang erschweren die Reinigung.
Auf Anhieb fallen Harriet Wollenberg zehn fest angestellte Hauswarte in 850 Wohneinheiten ein, darunter eine 72-Jährige, die die Treppe nachts bohnere, damit das Wachs lange genug einziehen kann. „Gute Hauswartsleute sind für ein Haus oft wichtiger als der Eigentümer. Sie fühlen sich verantwortlich und manchmal auch wie kleine Götter.“
Es könne sein, dass für Hausverwaltungen mit mehr als 20.000 Wohneinheiten die heutigen Facility-Managements Vorteile böten. Aber sie könne der Anonymität externer Reinigungsfirmen nichts abgewinnen. „Das Persönliche entfällt völlig. Bei großen Unternehmen fehlt der Ansprechpartner. Der eine ist krank, ein anderer entlassen, man gerät an irgendeinen Manager, der den Auftrag weitergibt. Diese Firmen wollen oft nicht einmal, dass man die zuständige Reinigungskraft namentlich kennt.“
Horror und Eleganz
Der Begriff des Concierge tauchte im 19. Jahrhundert in der französischen Sprache auf und ist sowohl für Männer wie für Frauen gebräuchlich. Aus realer Figur wurde ein Mythos, und ein Thema der Kunst: verewigt in Romanen, Filmen oder auf Fotografien. Meist ist das Bild wenig schmeichelhaft. Honoré de Balzac schilderte die weibliche Concierge als geschwätzigen Hausdrachen – im Deutschen Zerberus genannt.
Auf den Schwarzweißbildern der 50er und 70er Jahre von Robert Doisneau scheint die Concierge in ihrer Loge mehr als Wachhund denn als Dienstleisterin. Im Bestseller Die Eleganz des Igels von Muriel Barbery (2006) wandelt sich diese Legende: Eine Pariser Concierge verbirgt dort hinter ihrer rauen Art einen feinen Sinn für Literatur, durch den sie Zugang zu einem der gutsituierten Bewohner ihres Hauses findet. Die beiden werden Freunde und flirten sogar miteinander.
Männliche Hauswarte schaffen es als Figuren nicht so leicht in die Welt der Fiktion: Womöglich weil in Pariser Wohnhäusern vor allem Frauen als Hausmeister beschäftigt wurden. In Harold Pinters Theaterstück Der Hausmeister (1959) kämpft dieser mit mentalen Problemen.
In Delicatessen von Jean-Pierre Jeunet (1991) kommt ein Fleischer an seine Ware, indem er regelmäßig Hausmeister schlachtet und portionsweise an die Hausbewohner verkauft. Die Amerikaner fanden Einen Concierge zum Verlieben: Michael J. Fox im gleichnamigen Film (1993). Aber dann doch wieder Horrorfigur: In Sleep Tight (2011) sammelt der Hausmeister intime Details aus dem Leben der Bewohner. Maxi Leinkauf
Eine Familie wie die Seidels, Hauswarte mehrerer Generationen, wirkt da beinahe schon anachronistisch. Seidels 60-jährige Tochter und ihr Schwiegersohn wohnen im Souterrain nebenan, ihr derzeit arbeitsloser 41-jähriger Enkel zog in die fensterlose Kammer bei den Großeltern ein. Einige Hausnummern weiter trat ihr Sohn in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters. „Man hat alle beieinander, aber guckt nicht zu oft rein“, skizziert Judith Seidel das familiäre Hin und Her und wirft der Tochter einen „Was willst du?“-Blick zu, als diese in der Tür steht, um sich ein Stück Kuchen zu holen.
Hausbewohner berichten von Schokonikoläusen, die Seidels nun schon der zweiten Generation vor die Wohnungstüren stellen. Und sie erinnern sich daran, dass jedes Einschulungskind von Horst Seidel, dem verstorbenen Mann, fünf Mark und später fünf Euro zugesteckt bekam. Als seien sie eine große Familie.
Und so fungiert Judith Seidel mitunter auch als Kummerkasten. Ihre Einladung „Schnack di ut“ („Sprich dich aus!“) holte schon manche Bewohnerin aus der Bestürzung über den Auszug des Partners oder aus anderen Tiefs, zumindest für die Dauer eines Glases Wein an ihrem Resopalküchentisch.Zum Glück liegt die Scheidungsrate im Haus weit unterhalb des großstädtischen Durchschnitts. Von insgesamt 22 Parteien in zwei Generationen haben sich drei Ehepaare getrennt, fünf Todesfälle gab es in den fünf Jahrzehnten, im Schnitt folgte in 50 Jahren pro Wohnung ein Wechsel.
Gibt es in diesem Beruf für Judith Seidel überhaupt Privatsphäre? Weite Reisen habe sie selbst nie unternommen, erzählt sie nüchtern. Mit dem Auto machten sie und ihr Mann Tagesausflüge, sie erkundeten Hagenbecks Tierpark, Planten un Blomen und die Harburger Berge. Mit Kindern und Enkeln campten sie an der Ostsee und in der Lüneburger Heide. Doch sogar von dort fuhr sie einmal in der Woche nach Hause, um das Treppenhaus zu wienern. An ihrem 65-jährigen Hochzeitstag luden die Seidels alle Hausbewohner ins Pulverfass auf der Reeperbahn. Die Rechnung für die 20-köpfige Runde verschlang fast ein Monatsgehalt. „Aber es war schön!“ Der Chef des Travestiecabarets hat seine Stammgäste hochleben lassen. An der Trauerfeier für ihren Mann nahmen dann fast alle aus dem Haus teil, eine Bewohnerin hielt eine bewegende Rede.
Über ihr Alter denke sie nicht nach, sagt Judith Seidel. Noch siegt ihr Wille über die nachlassenden Kräfte. Ohne die Mithilfe ihres Enkels würde sie ihr Pensum jedoch nicht mehr schaffen. „Er wischt vorwärts, ich rückwärts. Und wenn ich ein bisschen dusselig werde, mache ich Pause, dann geht’s weiter.“
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