Um die Person Müllers ranken sich Legenden. Als letztes Bild hat sich die Maske des orakelnden Zynikers eingeprägt. Der begnadete Selbstdarsteller war an der eigenen Biographie nicht sonderlich interessiert. Noch in scheinbar persönlichen Texten mischen sich Dokumentarisches und Fiktionales. Seine sogenannte Autobiographie hat er nicht selbst geschrieben, keinen umfänglichen Briefwechsel, kein "Arbeitsjournal" hinterlassen, in Interviews das Bild der eigenen Person eher lustvoll verwischt als sich zu erkennen zu geben. Wem als Autor alles Material ist, dem ist auch Biographisches nicht heilig. Der Selbstmord der Ehefrau Inge Müller geht ebenso in die Dichtung ein wie immer wieder das Motiv des Vaters.
Die Geburt der letzten Tochter wird zum Anlass einer ästheti
lers ranken sich Legenden. Als letztes Bild hat sich die Maske des orakelnden Zynikers eingeprägt. Der begnadete Selbstdarsteller war an der eigenen Biographie nicht sonderlich interessiert. Noch in scheinbar persönlichen Texten mischen sich Dokumentarisches und Fiktionales. Seine sogenannte Autobiographie hat er nicht selbst geschrieben, keinen umfänglichen Briefwechsel, kein "Arbeitsjournal" hinterlassen, in Interviews das Bild der eigenen Person eher lustvoll verwischt als sich zu erkennen zu geben. Wem als Autor alles Material ist, dem ist auch Biographisches nicht heilig. Der Selbstmord der Ehefrau Inge Müller geht ebenso in die Dichtung ein wie immer wieder das Motiv des Vaters.Die Geburt der letzten Tochter wird zum Anlass einer XX-replace-me-XXX228;sthetischen Inventur des 65-jährigen Dramatikers und Dichters: BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN mein einziger Gedanke, während ihr fordernd vertrauender Blick mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt. Mit der Generationenverantwortung wird hier in schmerzhafter Einsicht auch eine Art Prophetenrolle zurückgegeben und damit in ungewohnter Verbindlichkeit zugleich übernommen. So spricht kein Zyniker. Weder das Motiv der Wiedergängerin noch das des Verrats aber geben Auskunft über Privates. Müller hat nach 1989 Schuldeingeständnisse verweigert, sich als öffentliche Kunstperson bewusst und provokativ inszeniert. Selbstkritik, Korrektur und Selbstreflexion begleiten seine Produktion jedoch über fünf Jahrzehnte, ja sie begründen sogar den Gattungswechsel: "Meine Scham braucht mein Gedicht". Wie durchlässig ist die Grenze zwischen Dichtung und Leben? Der Müller-Biograph steht vor einer fast unlösbaren Aufgabe, zumal er sich größter Aufmerksamkeit der vielen "Eingeweihten" sicher sein kann.Jan-Christoph Hauschild hat eine Fülle von Material zusammengestellt: Porträts, Charakteristiken, Reflexionen, Interpretationen, Erzählungen, Zensurgeschichten, Inszenierungshintergründe und Anekdoten ergeben jedoch ein Patchwork, hinter dem der schillernde Protagonist eher verschwindet als hervortritt. Der Autor erliegt nicht der Versuchung, Müllers komplexe und verwobene Dichtung primär aus der Biographie zu deuten. Der Biograph, der seine Biographie mit Das Prinzip Zweifel überschrieben hat, scheint jedoch selbst selten im Zweifel. Mit einem fast beunruhigenden Gleichmut reiht er die widersprüchlichsten Vorgänge und Erinnerungen aneinander, ohne jemals in Erstaunen, Begeisterung oder Ablehnung zu geraten. Wenn Peter Hacks Müllers Umgang mit der Antike ebenso ablehnt wie dessen politische Positionen, sich jedoch zugleich in schlechten Zeiten vehement für ihn einsetzt, so ist das für Hauschild leider kein Anlass, den politischen und ästhetischen Gründen nachzugehen, stattdessen greift er - mit Biermann - in die psychologische Erklärungskiste und reduziert alles auf "stumpfen Neid". Müller sieht sich noch Jahrzehnte nach ihrem Tode veranlasst, den Anteil von Inge Müller an seinen frühen Stücken zu verkleinern? Ginka Tscholakowa und Müller bewerten die "Arbeitsebene" ihrer Beziehung unterschiedlich? Kein Grund, in Zweifel zu geraten. Nicht einmal die Schwächen seines Helden scheinen den Biographen zu reizen. Dass er sich und uns den voyeuristischen Blick auf Intimes nicht gönnt, ist ehrbar. Wenn das Bemühen um Distanz allerdings dazu führt, dass sich der Autor dieser über 500 Seiten hinter seinen Kronzeugen versteckt, so ist das fragwürdig. Einige, wie etwa B.K. Tragelehn, Stephan Suschke oder Margarita Broich, erhalten dadurch eine unverhältnismäßig große Deutungskompetenz, andere, mit denen Hauschild aus unterschiedlichen Gründen nicht reden konnte oder wollte, fallen ganz weg. Nur einer hat unglaublich viel Raum, das ist Heiner Müller als Selbstdeuter. Die kursiv gesetzten Müller-Passagen ragen gedanklich wie sprachlich heraus und lassen die Unentschiedenheit und die sprachlichen Klischees des überforderten Biographen um so schmerzhafter hervortreten. Erfährt man eigentlich mehr als Müller 1992 mit Krieg ohne Schlacht selbst in die Welt gesetzt hat? Noch im Rückgriff auf gestrichene Passagen dieses autobiographischen Manuskripts folgt Hauschild ja dem inszenierten Selbstbild. Vor allem für die Frühzeit gelangen ihm allerdings Quellenfunde, vorrangig aus Privatarchiven, die das bisherige Müllerbild durchaus erweitern, wenn auch nicht korrigieren. Vom sächselnden Linkshänder wird erzählt, der mit der verarmten Familie des arbeitslosen Sozialdemokraten-Vaters nach Mecklenburg zieht und in der Schule als "Ausländer" gemieden, angerempelt, geschlagen wird. Vom schweigsamen zarten Jungen, der Prügeleien aus dem Wege geht. Der noch mit 14 als Berufswunsch "Maler" angibt. Die Entmachtung des Vaters als Schlüsselerlebnis des Kindes hat Müller selbst vielfach poetisch gestaltet. Einen aufschlussreichen außerliterarischen Kommentar macht uns die Biographie zugänglich: In einer von Müller für den Druck gestrichenen Passage seiner Autobiographie heißt es über den Vater nach dessen Rückkehr aus dem KZ: "Er war in gewisser Weise tot, jedenfalls tot als Gottes Stellvertreter. Von da kommt sicher auch so ein ambivalentes Verhältnis zur Macht, die Suche nach einer Macht, die Suche nach Autorität und nach dem Konflikt mit ihr. [...] Erstmal war es die Erfahrung, daß andere stärker sind als mein Vater. [...] Eigentlich ist er ja die höchste Autorität, er ist die Macht, und wenn die nicht mehr im Amt ist, verleugnet man sie. Man sucht den Vater dann woanders." Es lässt sich vermuten, dass Müller diese wichtigen Sätze gestrichen hat, um kurzatmigen Freudianischen Deutungen seiner Texte wie seines Weltbilds nicht zusätzlich Stoff zu bieten.Leider schreibt sich Hauschild nach den ersten spannenden 120 Seiten weitgehend an der Abfolge der Stücke und Texte entlang und nimmt dabei ermüdende Exkurse zu Stückfabeln, Publikationsgeschichten, dem kulturpolitischen Hintergrund auf. Vor allem die Passagen zur historischen Einordnung geraten, in löblicher Absicht, zu langen unlesbaren Sekundärzitaten aus Geschichtslehrbüchern. Deutungen von und Debatten über Inszenierungen kann man anderswo besser nachlesen. Andere Details tragen dagegen wirklich zu einer Annäherung an die Person Müllers bei, etwa das eigenartig unterkühlte, ja teilweise verantwortungslose Verhältnis zu allem Familiären, oder die Erinnerung, wie Müller autogenes Training bis zur Bewusstlosigkeit betrieb. Wir erfahren, mit welch´ fragwürdigen Auftragsarbeiten sich Müller in den zehn langen Jahren der Isolation mühsam die Existenz sicherte und dass man an ganz unerwarteten Stellen auf Texte Müllers treffen konnte, im Dokumentarfilm über Buchenwald etwa, in der Tribüne, im Sonntag von 1953/54 oder in der DEWAG-Werbung. Pseudonyme, gegen die er seinen Allerweltsnamen eintauscht, lauten "Georg Gramm", "Jakob Sabest", "Max Messer" oder einfach "-er". Mit Hörspielszenarien für den Rundfunk, auch mit Übersetzungen fürs Theater versucht Müller, einige Mark zu verdienen. "Da genügten zwei Flaschen Kognac, um in drei, vier Tagen einen Molière zu übersetzen", erzählt er über die Zusammenarbeit mit Benno Besson 1967. Mit 41 Jahren verfügt Müller 1979 zum ersten Mal in seinem Leben über ein festes Gehalt, bereits 1975 aber kann er erstmals in die USA reisen. Er kommt immer wieder zurück.Im Buch werden die verschiedenen Freundeskreise um Müller rekonstruiert, es werden diejenigen Kollegen benannt, die Hilfe gewährten, aber auch die, welche sie aus unterschiedlichen Gründen verweigerten. Der Autor zeichnet Bilder der Wohnungen der Müllers, Heises oder Tragelehns, die zeitweilig so manchem zum geistigen und sozialen Zentrum wurden. Gerade in solchen alltagsgeschichtlichen Passagen gibt sich das historische wie auch ästhetische Verständnis des Biographen von seiner besten Seite zu erkennen.Für die neunziger Jahre verliert die Darstellung allerdings an Neuwert und Übersichtlichkeit. Hier kann Hauschild nicht mehr dem Leitfaden autobiographischer Erzählung folgen. So scheint er Müller nur als Dramatiker wahrzunehmen, den Dichter, der ja vor allem in den letzten Lebensjahren hervortrat, eher abzuwerten. Gerade für diese Zeit hätte allerdings die Grundidee der Biographie gepasst: Der Zweifel an früheren Denkmodellen und Metaphern wird zum eigentlichen Antrieb des Dichters. Mit der Mauer war ihm auch seine Autorposition abhanden gekommen: zwischen den Stühlen, auf beiden Seiten der Mauer zugleich. Müller schreibt an gegen die "Leere Zeit", "im Kopf ein Drama für kein Publikum". Das Tagesgeschehen nimmt er in weltgeschichtlichen Dimensionen wahr, nicht selten seine Gesprächspartner damit überfordernd. Am 4. November 1989, als Christa Wolf die lang ersehnte Befreiung der Sprache auf den Transparenten der Demonstrierenden zu erkennen glaubt, verliest er einen Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften und wird dafür ausgepfiffen. Noch die Nachrufe künden von der Irritation, die seine Kunst wie sein öffentliches Auftreten lebenslang hervorriefen.Die Metapher ist klüger als der Autor. Mit diesem Satz hatte sich Müller wohl auch davor zu schützen versucht, mit seiner Person an der Sprengkraft, Kälte und Geräumigkeit seiner Metaphern gemessen zu werden. "Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität der eigenen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation." Noch solche dahingesagten Sätze sind Widerhaken. Transparenz. Die keine ist - wie Martin Wuttke es in anderem Zusammenhang nennt. Einer poetischen Sprache, die den Denkprozess skandiert (Müller über Brecht), ist mittels Inhaltsästhetik nicht beizukommen.Hypertext wäre vielleicht eine angemessene Archivierungsform für den Material-Ästhetiker und wildernden Denker Müller, der ganze Generationen von AutorInnen und Theaterleuten denken gelehrt hat. Seine geistesgeschichtliche Wirkung kann wohl kaum überschätzt werden. Die Lektüre eines solchen Lebens ist um so mehr auf "Pfade" angewiesen. Jan-Christoph Hauschild konnte sich für keinen entscheiden. Er stellt uns allerdings umfangreiches Material für eigene Müller-Biographien zur Verfügung, von denen es so viele zu geben scheint wie sich Menschen auf diesen Lebenstext einlassen. Insofern kann man das Scheitern des erfahrenen Biographen (der 1955 geborene Publizist hatte sich bereits den Biographien Georg Büchners und Heinrich Heines gewidmet) durchaus als optimistisches Zeichen nehmen: Wir bekommen diese Biographie ebenso wenig "in den Griff" wie das disparate Werk. Jeder Versuch, eine so "an-organische" Produktions- und Lebensweise in die Logik einer einzigen Chronologie zu pressen, muss misslingen. Ein Untoter, den zu begraben nicht gelingen will.Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 560 S., 59.90 DM
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