Die Letzten - das sind nicht nur die letzten Vertreter des aussterbenden Berufs der Drucker und Setzer, es sind auch Menschen aus einem anderen Jahrhundert, als man noch ein Leben lang bei dem Beruf blieb, den man gelernt hatte. Man ist, was man arbeitet. In dieser Welt kann man sich seine Gesellschaft nicht aussuchen und säuft seine Sehnsüchte nach Feierabend weg. Katja Lange-Müller weiß, wovon sie spricht, sie hat »Schriftsetzer gelernt«, als sie 1968 wegen »unsozialistischen Verhaltens« siebzehnjährig in der DDR von der Schule flog. Drucker/Setzer jedoch war zu DDR-Zeiten nicht einfach ein Handwerk. (Die Druckerei des Neuen Deutschland z.B. muss in den siebziger Jahren ein wahres Sammelbecken aufmüpfiger junger Intellektueller gewesen se
lektueller gewesen sein.) Die Autorin lässt ihre Ich-Erzählerin an einem dunklen Augusttag unlustig in den »privaten polygrafischen Betrieb« stolpern. Diese Unlust wird zu einer ironischen Erzählhaltung, die ihre Geschichte von den komischen Käuzen in Posbichs Druckerei vor Sentimentalitäten schützt. »Püppi« erzählt im Rückblick aus einer Perspektive der Scham und des Spotts über die eigene Unzulänglichkeit. Ihre Tage in der Druckerei sind bereits gezählt, als sie Ende der siebziger Jahre dort landet: »Ich Âübte das ÂAusÂ, den Tag, an dem man mich wieder einmal fristlos entlassen oder ich, vor Scham über meine linkshändige Stümperei, von alleine aufgeben würde.« Aus einer solchen Perspektive ist sowohl Nostalgie als auch Besserwisserei ausgeschlossen, die Ich-Erzählerin und mit ihr die Lesenden sind den Wendungen des Geschehens ebenso ausgeliefert wie Fritz, Willi, Manfred und Posbich. Diese wissen wenig von sich selbst, werden eher gelebt, als dass sie leben, und dennoch sind sie weder hilflos noch langweilig. Jeder von ihnen trägt ein ganz eigenes Wissen vom Leben mit sich herum, obwohl er dafür keine Sprache hat. Der Autorin geht es um die Sprachlosigkeit, die sich hinter Derbheiten verbirgt. »Nicht rumstehen, setzen!« Schwächen werden registriert, Intimitäten gemieden, auf Sentimentalitäten kann niemand hoffen. Solidarität ist meist wortlos. Katja Lange-Müllers Vorliebe fürs Skurrile führt auch in dieser Druckerei Alltag und Wahnsinn zusammen: Manfred ist schizophren und liebte früher auf dem Bau seine Betonmischer, Fritz hütet in der heimischen Schrankwand den in Spiritus eingelegten Embryo seines Zwillingsbruders, Willi wäscht sich höchstens einmal am Tag die Druckerschwärze von den Händen. Unverhofft finden alle ihre Druckerei eines Tages geschlossen und setzen sich ratlos in ihre Stammkneipe, Posbich ist im Westen, und seine Drucker haben Feierabend.In dieser Geschichte vom Ende wird der Vorgang des Erinnerns weder reflektiert noch begründet, bis auf Seite 92 eine der Figuren Einspruch gegen die Geschichte erhebt, die »Püppi« zwanzig Jahre später als abgeschlossen erzählt. Aus Posbich wird »alias Paschke« und das signalisiert ironisch: jetzt wird's ernst (oder gar kriminell?). Wurden in früheren Erzählungen Katja Lange-Müllers deren Antihelden häufig grotesken Situationen ausgesetzt, so wird die außergewöhnliche Passion des Durchschnittstypen Willi (alias Heinz) diesmal erst im Anhang nachgereicht. In einem umständlichen dramaturgischen Manöver kommen nun »letzte Aufzeichnungen« ans Licht. Eine Mappe und drei Briefe erreichen Püppi, die spätere Schriftstellerin Marita Schneider. »Damit Sie Bescheid wissen über die Abgründe im Geiste eines richtigen Setzers, wie Heinz einer war (Abgründe, die Sie sich gar nicht ausdenken könnten!)«, wie der alte Druckereibesitzer meint. Bevor wir endlich erfahren, worum es sich bei diesen Abgründen denn nun handelt, deren Ergebnis sich eventuell gar »kommerziell nutzen ließe«, müssen wir einen weiteren Umweg machen, denn nun lesen wir den empörten Brief der Schwester von Heinz an Posbich. Die will angesichts ihres nahen Todes ein »derart peinliches Geheimnis« aus ihrem Hause haben. Was aber verbirgt sich hinter dem »widerwärtigen Laster« des verschollenen Bruders, sollen die strapazierten Leser fragen. Hinter der Maske des stillen Maschinendruckers brodelte, wie er brieflich gesteht, ein so inniger Mutterhass, dass er daran noch im Alter zu ersticken drohte. Eben dieser »Gefühlsstau« war es, der ihn eines Tages zufällig auf die Idee brachte, durch kunstvolles Verrücken der Druckbuchstaben eine weiße Geheimschrift der Wortzwischenräume und Zeilenabstände zu schaffen, in denen statt aufrührerischer Parolen seine obszönen Mutterflüche ihr Ventil fanden. Buchstaben für Buchstaben setzt er nun kunstfertig per Hand, jeweils auf einer Seite der Vereinszeitschrift Sport Frei oder des Ärzteblatts Diagnose sein »erstes konspiratives Wort«: »Die erste Versalie, die ich, logischerweise gleich den Typen in Spiegelschrift, aus Blindmaterial formte, war ein über fünfzig Zeilen à achtunddreißig Cicero verteiltes M. Damit ich es hinbekam, musste ich diverse Wörter neu trennen, zwischen anderen die Lücken verringern oder verbreitern.« Hier haben technische Spitzfindigkeiten und kreative Lückenspiele im Schatten der Druckgenehmigungsgesetze also ihre Ursachen!Katja Lange-Müller spielt ihre skurrile Pointe gleich in mehrere Richtungen aus: Auf der Fährte kriminalistischer Neugier werden wir detailliert in das Handwerk des Setzens eingeführt, und nebenbei führt die Autorin psychologisierende DDR-Forscher ebenso vor wie Klischees zur DDR-Literatur oder die Aktengläubigkeit nach 1989. Welche der Realitäten, so fragt man sich am Ende, stimmt denn nun? War die Ich-Erzählerin genauso blind wie die damaligen Kollegen? Oder ist Heinz' Geständnis nur Setzerlatein? Die beweiskräftigen Druckfahnen der 444 Seiten Zauberberg sind der Autorin nämlich abhanden gekommen. Bliebe noch die Recherche in Bibliotheken, immer auf der Suche nach dem »wahren«, »authentischen« Text zwischen den Zeilen. Müssen wir nun, im Verdacht, die Geschichte der unpolitischen Oase Privatdruckerei noch mal neu lesen? Dann sollten wir auch die Alkoholmenge beachten, die Lange-Müller fließen lässt: Die DDR als Heimat der Säufer und Säuferinnen wurde unlängst ja auch von Wolfgang Hilbig grandios beschrieben. Katja Lange-Müller hat sich mit ihrer sprachlich virtuosen Erzählung zwischen die Stühle gesetzt: das Porträt einer aussterbenden sozialen Klasse wird von der Parodie der DDR-Vergangenheitsbewältigung verschluckt und umgekehrt. Etwas verwirrt, aber lachend findet man sich am Ausgang des Labyrinths.Katja Lange-Müller: Die Letzten Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei, Kiepenheuer Witsch, Köln 2000 135 S., 28.- DM
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