Der Konsum der Ästhetik

Produktion der Faszination Einst war der Begriff der "Warenästhetik" eine Kampfvokabel der Kulturkritik. Heute vergleichen Kulturwissenschaften Duschgeltuben mit Werken der Hochkultur

Wer in diesen Tagen die Frankfurter Zeil, die Friedrichstraße oder die Potsdamer Platz Arkaden in Berlin oder eine der zahlreichen Shopping areas unserer Innenstädte und Grünen Wiesen besucht, der wird nicht nur mit einem überbordenden Angebot von alltäglichen und luxuriösen Waren, von nützen und unnützen Dingen, erstrebenswerten und überflüssigen Gegenständen konfrontiert. Überall glänzt, leuchtet und glitzert es auch im diesjährigen Vorweihnachtsgeschäft mit einer Intensität, die Gedanken an eine konjunkturelle Krise kaum aufkommen lässt. Die Inszenierung der Waren in den Auslagen und dekorierten Schaufenstern lässt einen Gang durch die brand zones, mehr noch als während des restlichen Jahres, zu einem ästhetischen, alle Sinne berauschenden Erlebnis werden. Die Oberfläche der Konsumkultur ist längst ein Feld ästhetischer Mehrwertproduktion.

Bereits 1971 hat sich der Berliner Philosoph Wolfgang Fritz Haug in seiner Kritik der Warenästhetik mit der ästhetischen Seite der Warenwelt und des Konsums auseinandergesetzt. Sein Buch ist mittlerweile ein viel diskutierter Klassiker der Konsumtheorie, und der Begriff der Warenästhetik, den Haug mit seiner Studie prägte, ist aus der Diskussion um die Konsumkultur nicht mehr wegzudenken. Haug analysierte auf Grundlage aktueller Beispiele von Chiquita und Weißer Riese bis Creme 21 und Nivea die ästhetische Seite der Waren und gelangte zu dem Schluss: "Es ist das Ideal der Warenästhetik: das gerade noch durchgehende Minimum an Gebrauchswert zu liefern, verbunden, umhüllt und inszeniert mit einem Maximum an reizendem Schein."

Schein, Verführung, Verblendung - das waren die Losungsworte, mit denen sich Haugs Studie an der Kulturkritik abarbeitete, von der Haug sich loszusprechen beanspruchte und der sich seine Analyse zugleich durch und durch verschrieben hatte. Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (1944) prägten das kulturelle Klima der Zeit ebenso wie Vance Packards Die geheimen Verführer (The Hidden Persuaders, 1957).

Vor diesem Hintergrund erschien die Ästhetik der Waren als eine manipulative Technik, als "Technokratie der Sinnlichkeit",die die Menschen faszinierte, bannte - und damit beherrschte. Der Begriff der Warenästhetik beinhaltete daher die Kritik an der "Herrschaft über Menschen, ausgeübt auf dem Wege ihrer Faszination durch technisch produzierte künstliche Erscheinungen". Zugleich schien es als ausgemacht, dass es sich bei der Warenästhetik um eine immer nur sekundäre, ja parasitäre Ästhetik handele, die sich bei der "wahren" Ästhetik bediente, wo diese ihr nützte, sie sich verwerten und umfunktionieren ließ. Schon der nun wieder allgegenwärtige "Glanz" entstammt schließlich dem Arsenal der Deutschen Romantik.

Ästhetik des Duschgels

Seit dem Erscheinen von Haugs Studie ist viel Zeit vergangen. Marx gibt es inzwischen als Fingerpuppe in unterschiedlichen Ausführungen im Internet zu kaufen, und aus den Kindern von Marx und Coca-Cola (wie der deutsche Untertitel zu Godards Masculin - Féminin aus dem Jahr 1966 lautete) sind längst Kenner von Prada und Postmoderne geworden. Insofern darf man mit Spannung erwarten, wie die Neuausgabe der Kritik der Warenästhetik, die der Suhrkamp-Verlag für das Frühjahr 2009 angekündigt hat, auf diese veränderten Bedingungen reagiert. In den gegenwärtigen Kulturwissenschaften jedenfalls haben Phänomene wie Reklame, Warenfetischismus, Produktdesign und Konsumkultur erneut Hochkonjunktur. Im Vordergrund stehen dabei nicht mehr die marxistisch fundierte Kulturkritik und die Frage nach dem Verhältnis von (kapitalistischen) Produzenten und (verführten) Konsumenten. Von Interesse sind vielmehr die Schnittstellen zwischen der Ästhetik der Waren und der Ästhetik der Künste.

Einer der dezidiertesten Vertreter dieses Perspektivwechsels ist Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und Autor des Buchs Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? (2006). In einer Kolumne für die Zeitschrift Merkur hat er unlängst an einem profanen Alltagsgegenstand wie Duschgeltuben aufgezeigt, in welch umfassendem Maße sich ästhetische Qualitäten in heutigen Konsumgütern und Waren verdichten: die skulpturale Formgebung der Flasche, ihre bildliche und typografische Gestaltung, das Geräusch des Öffnens - nichts ist dabei dem Zufall überlassen, alles muss sich zu einem stimmigen Gesamteindruck, einem "ganzheitlichen ästhetischen Ereignis" fügen, soll das Produkt Erfolg haben. Wenn wir Waren konsumieren, konsumieren wir also, bewusst oder unbewusst, immer auch Ästhetik mit. Deshalb fordert Ullrich, dass künftig "auch alltägliche Produkte als hochkulturelle Leistungen, ja als fiktionale Gebilde und Meisterwerke ästhetischen Scheins wahrgenommen werden".

Damit spricht Ullrich (s)einer Sammlung von Duschgeltuben ausdrücklich nicht die gleiche Bedeutung zu wie einer Sammlung von Poussins oder Kandinskys. Alltagsgegenstände mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu erfassen wie Kunst, heißt nicht, die Differenz zwischen beiden zu verkennen. Gerade der Vergleich wirft die Fragen nach den Unterschieden auf, gesteht dabei aber auch den profanen Gegenständen und der "Ästhetik außerhalb der Ästhetik" (Wolfgang Welsch) einen innovativen Wert zu.

Aus dieser kulturwissenschaftlichen Anerkennung der Warenästhetik ergibt sich eine weitere Konsequenz: Die Alltagskultur der Waren kann nicht länger als das gänzlich Andere der Kultur abgetan werden, von dem sich die "hohe" Kultur reinzuhalten hätte. Boris Groys hat in seiner Kulturökonomie Über das Neue (1992) gerade aus den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und den profanen Dingen das Zustandekommen von Innovation in der Kultur erklärt und damit den Mythos vom freien Schöpfertum der Kunst verabschiedet. "Die Innovation", schreibt Groys, "vollzieht sich also hauptsächlich in der kulturökonomischen Form des Tauschs. Dieser Tausch findet zwischen dem profanen Raum und dem valorisierten kulturellen Gedächtnis statt, das aus der Summe der kulturellen Werte, die in Museen, Bibliotheken und anderen Archiven aufbewahrt werden, besteht".

Wiener Würstchen mit Rossini

Die Warenästhetik eignet sich also nicht einseitig und parasitär die "hohe" Kunst an. Denn es kann auch keine Kunst heute mehr so tun, als entstünde sie in einem "luftleeren" Raum jenseits der Warenkultur. Ästhetik und Warenästhetik stehen in einem beständigen Austauschverhältnis der Aneignung, Umformung und Umwertung. Wie produktiv die Berührungen zwischen Literatur, Kunst und Konsumkultur sein können, haben die Beiträge einer Tagung mit Titel Warenästhetiken, im Herbst in Frankfurt gezeigt. Nicht erst die Pop Art eines Andy Warhol oder die Popliteratur eines Christian Kracht haben die Warenwelt in Kunst und Literatur eingebracht. Autoren wie Theodor Fontane, Irmgard Keun und Erwin Koeppen haben dies längst vorher getan. Und auch Thomas Mann lässt seinen Hans Castorp im Zauberberg (1924) nicht irgendeine Zigarre rauchen oder eine beliebige Schokoladenmarke verzehren: Maria Mancini und Lindt müssen es sein.

Dabei handelt es sich um weit mehr als bloßen Warenfetischismus. In ihrem Film The Big Store (1941) zeigen die Marx Brothers mit einer Revueeinlage die Möglichkeiten künstlerischer Reflexion über das Thema Warenästhetik auf. Singend und tanzend preist Groucho die heterogene Warenwelt des Kaufhauses an und empfiehlt den Verkäufern mit einem geradegebogenen Reim auf Wiener Würstchen: "Sell this wieni with Rossini!". Dieser empfohlenen Verwertung der Kultur zu Werbezwecken steht die Ästhetik des Films gegenüber, die wie eine potenzierte Warenästhetik erscheint: ein lustvolles Spiel mit den Oberflächen der Warenhausästhetik, die sich mit der Ästhetik der Filmrevue überlagert. Am Ende wird die gesamte Szene als Bühne kenntlich: Film und Warenhaus sind gleichermaßen Inszenierungen. Der Film partizipiert an der Warenästhetik und legt zugleich ihre Funktionsweise offen - spielerisch und ambivalent, aber nicht diffamierend. Einsicht schließt Faszination nicht aus.

Theoretiker der Faszination wie der Londoner Literaturwissenschaftler Steven Connor halten daher der kulturkritischen Sichtweise entgegen, dass der Aufstieg der Faszination im 20. Jahrhundert nicht einer um sich greifenden Verblendung gleichkommt, wie sich aus Haugs Kritik der Warenästhetik ableiten ließe. Vielmehr habe sich die Funktionsweise der Faszination grundlegend verändert. Meinte Faszination ursprünglich die passivierende, hypnotische Beherrschung eines Menschen durch den "bösen Blick", so habe die Faszination eine Entwicklung zu einer aktiven Fähigkeit durchlaufen, einer "fascination with things".

Diese These, von Connor noch ohne empirischen Beleg aufgestellt, wird inzwischen von der Soziologie gestützt. In ihrer Studie Der Konsum der Romantik (Freitag 25/2005) hat die an der Hebrew University of Jerusalem lehrende Soziologin und Anthropologin Eva Illouz gezeigt, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung in Gang gesetzt ist, die zu einer Romantisierung der Waren einerseits, also zur Ausstattung von Waren mit einer romantischen "Aura" führt, und die andererseits zugleich mit einer Verdinglichung der romantischen Liebe einhergeht.

Zur Dialektik dieses Prozesses gehört, dass die Bilderwelt der Romantik nicht nur zum immer beliebteren Reservoir der Warenwelt wird, sondern umgekehrt die Vorstellungen von Liebesromantik sich zunehmend mit der Erwartung von Konsum verbinden - zu den privilegierten Orten des Rendezvous zählen bis heute Kino und Restaurant. Diese Beobachtungen führen Illouz dazu, "eine generelle Verdammung des Konsums in Frage zu stellen und stattdessen zu behaupten, dass die Warenwelt und die Teilhabe am Freizeitmarkt die Liebesbeziehung mit Bedeutungen und Vergnügen versehen, die der Phänomenologie der romantischen Beziehung eher entsprechen als ihr feindlich gegenüberstehen".

Das Ende der Kritik?

Dass die Bilderwelten der Konsumkultur dabei als irreal erkannt werden, tut ihrem Konsum, wie Illouz durch ihre Befragung zeigen kann, keinen Abbruch - es gehört zu jenen Ambivalenzen, von denen der Wiener Publizist Robert Misik in seinem Kult-Buch. Glanz und Elend der Kommerzkultur (Freitag 08/2008) treffend festgestellt hat, dass der (post-)moderne Mensch schon einige Übung darin erlangt habe, diese "widersprüchlichen Dynamiken in der Schwebe zu halten und auszutarieren".

Hat sich mit dieser Neueinschätzung von Warenästhetik und Konsumkultur also die Kritik daran erledigt? Werden, wie Norbert Bolz in seinem Konsumistischen Manifest (2002) erfreut behauptet, die "Kulturkritiker arbeitslos, weil der Konsum sein schlechtes Gewissen verliert"? Warenästhetik, darin ist Haug zuzustimmen, dient der Faszinationsproduktion. Faszination mit Verblendung gleichzusetzen, unterschätzt jedoch die Kritikfähigkeit der Konsumenten ebenso wie sie die willenssteuernde Macht der Warenästhetik überschätzt. Faszination dient nicht mehr als der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Diese allerdings hat, wie Georg Franck in seinen Ausführungen zum Mentalen Kapitalismus (Freitag 08/2006) gezeigt hat, eine gesamt-, ja globalkulturelle Dimension - und berührt die fundamentale Frage der Gerechtigkeit. Denn zu den Asymmetrien von Luxus und Elend zählen unter der condition postmoderne neben den materiellen in entscheidender Weise die immateriellen Verteilungskämpfe um Beachtung.

Gerade deshalb ist es entscheidend, das Phänomen Warenästhetik nicht vorschnell als Verblendungsmaschinerie abzutun. Nur eine unvoreingenommene Auseinandersetzung macht die Funktionsweise der Warenästhetik und der Faszination, die von ihr ausgeht, begreiflich. Sie liefert dann einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis unserer globalisierten kapitalistischen Alltagskultur - einschließlich ihrer politischen Implikationen.

Björn Weyand, geboren 1975 in Oldenburg, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Im Frühjahr 2009 erscheint der von ihm zusammen mit Andy Hahnemann herausgegebene Band Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs.

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