Ein Hicks im Kosmos

Teilchen Manche Physiker glauben zu wissen, was die Welt im Kleinsten zusammenhält. Ein paar fundamentale Fragen gibt es aber noch

Die Veröffentlichung erschien am 4. April im Internet, auf der Open Access Website arxiv.org, und trug den klangvollen Titel Invariant Mass Distribution of Jet Pairs Produced in Association with a W boson in ppbar Collisions at sqrt(s) = 1.96 TeV. Doch so sinnfrei diese Überschrift dem Laien erscheint, so deftig ist die damit verbundene Aussage für die Physik: Die Autoren des Papiers, eine Forschergruppe des Fermi National Accelerator Laboratory (dem sogenannten Fermilab) in Chicago, haben nicht weniger erklärt als dass es Hinweise auf eine neue, bislang unbekannte Naturkraft gibt – eine fünfteKraft neben bislang vier bekannten Wechselwirkungen, die als Schwerkraft (Gravitation), Elektromagnetismus, schwache Wechselwirkung (Fusion) und starke Wechselwirkung (Kernkraft) bekannt sind, und deren Entdeckung jeweils zu fundamentalen technologischen Entwicklungsschüben geführt hat. Die New York Times griff das Thema auf, die Nachricht von dem möglichen Sensationsfund ging um die Welt. Nur kann diese Welt die Begeisterung der Physik-Nerds nicht recht teilen. Was ist die Sensation? Warum gehen Physiker überhaupt auf Teilchenjagd? Die zugehörigen Beschleuniger gehören zum teuersten, was die Forschung zu bieten hat. Und etwas nützliches scheinen sie bislang nicht hervorzubringen. Außer jede Menge subatomare Teilchen, deren Bedeutung kein Laie versteht.

Bis zur Eröffnung des Large Hadron Collider am CERN in Genf vor zwei Jahren war das sogenannte Tevatron des Fermilab der leistungsfähigste Beschleuniger der Welt. Seit 1983 versuchen Physiker dort, grundlegende Fragen der Physik zu beantworten, in dem sie Protonen und künstlich im Speicherring erzeugte Antiprotonen aufeinanderprallen lassen und messen, welche Teilchen mit welcher Energie dabei entstehen. Denn das sogenannte Standard-Modell, das die physikalischen Eigenschaften unseres Universums bislang am besten beschreibt, hat Lücken. Diese zu füllen ist der Physik das Geld wert – schließlich bauen auf den Elementarteilchen alle anderen Strukturen und damit auch alle anderen Wissenschaften auf. Es geht in den Beschleunigern daher um fundamentale Fragen wie: Wie entsteht Masse? Oder: Gibt es einen einzigen Grundbaustein aller Materie, eine einzige Urkraft?

Am Fermilab wurden bereits zwei sogenannte Quarks und das Tauon-Neutrino entdeckt – Quarks sind die Bausteine der Protonen und Neutronen, Neutrinos sind besonders kleine neutrale Teilchen, die etwa durch die Kernfusion in der Sonne entstehen oder im Zuge von radioaktiven Zerfällen. Alle drei Entdeckungen galten als Meilensteine, wurden mit Nobelpreisen gewürdigt und trugen maßgeblich zum Renommee des Fermilab bei. Allerdings sagte das Standardmodell die Existenz dieser Teilchen vorher. Das jetzt auffällig gewordene Ereignis am Fermilab aber entspricht keiner Vorhersage: Beim Proton-Antiproton-Crash erwartet man Quarks, Elektronen und die dem Elektron ähnlichen Myonen, aber auch Kräfte vermittelnde Bosonen. Gluonen etwa verkleben die Quarks zu Protonen und Neutronen und sind die Quelle der starken Kernkraft. Andere Bosonen (W und Z) vermitteln die schwache Kraft, die für radioaktive Zerfälle und Kernfusion verantwortlich ist.

Ganz falsch oder nur ganz neu

Was aber passierte nun in Chicago? Die Physiker fanden mehr Ereignisse mit Elektronen und Myonen, als das Standard-Modell der Physik voraussagt – genaugenommen 253 mehr als erwartet. Die Datenkurve lässt auf Teilchenmassen schließen, die weder zu den bekannten Teilchen noch zu den Grundkräften passen. Mit anderen Worten: „Entweder ist das, was wir zu wissen glaubten falsch, oder aber es gibt einen völlig neuen Effekt”, sagt der Sprecher des Fermilab, Giovanni Punzi. Thomas Müller, experimenteller Physiker vom Karlsruher Institut für Technologie, der am Projekt mitarbeitet und Mitautor der Fermilab- Veröffentlichung ist, schließt auch den Zufall nicht aus. „Ein solcher Überschuss kann eine normale statistische Abweichung sein – auch könnten Ungenauigkeiten bei der Energiebestimmung des Detektors als Ursache in Frage kommen“. Müller will erst von einer Entdeckung sprechen, wenn der Überschuss von anderen Beschleunigern reproduziert würde.

Falls das geschieht, würde das derzeit begehrteste, aber nie nachgewiesene Teilchen überflüssig: Das sogenannte Higgs-Teilchen, nach dem man derzeit vor allem am LHC fieberhaft sucht. Higgs-Teilchen werden vom Standardmodell vorhergesagt. Nur sie können erklären, warum bestimmte Teilchen eine Masse haben, etwa die erwähnten Bosonen als Vermittler der schwachen Kraft. Und andere nicht. Laut Standardmodell waren im Geburtsmoment des Universums alle Kräfte gleich stark, reichten gleich weit und alle Materie war gleich schwer oder leicht. Totale Symmetrie. Wie kommt es, dass das heute nicht mehr so ist?

Erst das Higgsteilchen löst den sogenannten Symmetriebruch auf. Veranschaulicht wird das gern am Beispiel einer Party: Der gleichmäßig mit Gästen gefüllte Raum ist das Higgsfeld, in das ein Prominenter – das Teilchen – eintritt. Das Feld ändert sich sofort: Ein unbekannter Gast, das Photon etwa, könnte ungehindert herumspazieren, aber der Promi wird träge, weil sich ständig irgendwelche Leute an ihn ranhängen. Die W- und Z-Bosonen sind solche Prominente die mit dem Higgs-Feld an Masse gewinnen. Photonen dagegen wechselwirken nicht, sie bleiben masselos, ganz so, wie es das Standardmodell verhersagt.

Ein Teilchen namens Technipion

Ließen sich die Beobachtung der Fermiforscher bestätigen käme dagegen Technicolor ins Spiel. Diese Theorie impliziert eine fünfte fundamentale Naturkraft, die der starken Kraft zwischen den Atomkernen sehr ähnlich ist – und der Theorie deshalb auch ihren bunten Namen verleiht, weil die Kraft zwischen Quarks auch Farbkraft (color force) heißt. Die Technicolor-Theorie verursacht die Symmetriebrechung ab einer bestimmten Energie. Bei einer Kollision wie in Chicago würden ein Technicolor-Teilchen W-Bosonen und das hypothetische Elementarteilchen Technipion freisetzen. Letzteres hätte ungefähr die Masse, die den Überschuss in Chicago exakt erklären kann. Die Existenz dieser Teilchen würde allerdings die Physik nicht einfacher machen. Technicolor erklärt zwar die Symmetriebrechung und damit die Masse der schwachen Bosonen, allerdings nicht die Masse der Quarks. Dafür bräuchte man noch eine Reihe weiterer Teilchen, die freilich dann auch noch irgendwann nachgewiesen werden müssten.

Natürlich ist Technicolor nicht die einzige Konkurrenz zum Standardmodell. Auch SUSY, kurz für Supersymmetrie, vereinheitlicht die Kräfte. Hinzu kommt, dass alle bekannten Teilchen einen Eigendrehimpuls haben, Spin genannt. Materieteilchen wie Quarks können sich nach oben oder unten drehen, Wechselwirkungsteilchen wie die Bosonen noch in eine dritte Richtung, was es räumlich betrachtet natürlich nur grob beschreibt, aber das ungefähr ist das Prinzip. Die Supersymmetrie sagt nun, dass zu jedem Teilchen ein Superteilchen gehört, zu jedem Materie- ein Wechselwirkungsteilchen und umgekehrt. Bisher hat man bei der Vereinheitlichung der Kräfte ein Pro­blem: Bei hoher Energie nähern sich die Stärken der elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungen zwar an, aber werden nicht identisch.

Weder Higgs noch Super

Kalkuliert man Superteilchen ein, ist der Unterschied aufgehoben. Bisher gibt es aber auch keinen Nachweis für Superteilchen. Physiker halten sowohl Higgs- als auch Superteilchen als Ursache für den Überschuss in Chicago für unwahrscheinlich – im ersteren Fall wären die Ereignisraten viel zu hoch, im anderen müsste ein zusätzliches Superteilchen erzeugt worden sein, was aber nicht beobachtet wurde. Für Technicolor bräuchte man noch viele weitere Auswertungen. Klaus Desch, Teilchenphysiker der Universität Bonn und an der Suche nach dem Higgs-Teilchen am LHC beteiligt, würde sich jedenfalls freuen, wenn sich der Überschuss bestätigt. „Das wäre ein gewaltiger Schub für unser Fachgebiet, und gerade am LHC hätten wir ideale Bedingungen, dies weiter zu erforschen“. Doch er ist ebenfalls skeptisch: „Statistische Schwankungen gibt es immer wieder“. Daher schaut die Welt weiterhin gespannt nach Chicago, wo man die Daten des zweiten Tevatron-Detektors auswertet. Er ist exakter in der Energiebestimmung – würde er die Daten bestätigen, wäre das eine letzte große Sensation, ehe der Tevatron im September außer Betrieb geht. Da bislang jedoch selbst in Physikerkreisen noch kein Gerücht aus Chicago durchgedrungen ist, spricht das im Moment eher dagegen. Dann bliebe noch die Hoffnung, dass sich die Daten am LHC bestätigen könnte. Erst dann ist klar, ob es sich um einen statistischen „Hicks“ handelt oder ob die Fermilab-Forscher unser Weltbild umkrempeln.

Boris Hänßler, freier Autor, schreibt für den Freitag über unwahrscheinliche Phänomene der Physik von Zeitreise bis Transmutation

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