Überpräsident und Übervater

Dieser Papst ist grösser als alle irdischen Preise Mit dieser Gewissheit tröstete sich Polen über die Entscheidung des Nobelpreiskomitees hinweg

Am 10. Oktober geschah, was sich in Polen eigentlich keiner vorstellen konnte, was niemand überhaupt in Betracht gezogen hatte: Der Papst aus Polen bekam den Friedensnobelpreis nicht zugesprochen. Die Reaktionen auf der Straße pendelten zwischen entrüstet und verbittert: wieder einmal hatte man Polen - wie es schien aus politischer Opportunität - übergangen.

Besonders empört war Ex-Staatschef und Friedensnobelpreisträger Lech Walesa, der sich im Staatsfernsehen wie Rumpelstilzchen gebärdete: "Das ist unglaublich!", skandierte er ein ums andere Mal. "Ich halte das für einen schlimmen, einen unglücklichen Fehler", kommentierte er die Preisvergabe an die iranische Menschenrechtlerin Schirin Ebadi. Er habe nichts gegen diese Frau, aber unter den Lebenden sei der Heilige Vater der einzige, der diese Auszeichnung verdiene. Walesa tröstete sich und sein Volk mit dem Satz: "Der Heilige Vater ist größer als der Nobelpreis." Eleganter gab sich Polens Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz, "die Vergabe an den Papst hätte den Preis geadelt."

Eher gelassen reagierte Präsident Aleksander Kwasniewski, er wünschte der Iranerin und ihrem Volk gutes Gelingen auf dem Weg in eine Bürgergesellschaft und meinte ansonsten, die Verdienste des Papstes ließen sich "nicht mit Worten oder Preisen" messen, auch sei er keineswegs enttäuscht über die Entscheidung des Nobelpreiskomitees. Polen probte einmal mehr den Schulterschluss: dieser Papst sei größer als alle irdischen Preise - und Polen eine Glaubensbastion in einer feindlichen Umwelt.

Alles hatte am 16. Oktober 1978 begonnen, als aufsteigender Rauch den Beschluss des Kardinalskonklaves verkündete - "Habemus Papam". Dieser neue Papst war der erst 58-jährige Krakauer Kardinal Karol Woytyla. Für viele Polen war der 16. Oktober der Tag, an dem Gott ihr Vaterland wieder auferstehen ließ, mitten im sozialistischen Staatenbund geriet ein Land in einen kollektiven Taumel. Vorausgegangen war die Bitte des damaligen Primas von Polen, Kardinal Wyszynski: "Wenn Sie gewählt werden, müssen Sie akzeptieren. Für Polen!"

Fortan blieb Woytyla für seine Landsleute stets der "Papiez - Polak" - der Papst als Pole. "Er ist Pole und einer von uns, sagte mein Vater immer, einer, der wie wir gelitten hat und mit uns gelitten hat und wie wir nur durch den Glauben den Krieg überlebte", beschreibt Slawek Markowski die Sicht seines Elternhauses. Der junge Lehrer und Familienvater ist ein gläubiger Katholik, der sich stark für seine Gemeinde im Süden des Landes engagiert.

Der Einfluss des Papstes auf die politische Wende in Europa 1989/90 ist unbestritten, auch sein immerwährender Kampf für Versöhnung, Menschenrechte und Frieden. In Deutschland allerdings wird er ob seiner Sturheit in manch innerkirchlichen Angelegenheiten eher als der ultrakonservative Reformbremser und Frauenfeind gesehen.

"In Polen ist er unser Überpräsident, der über allen irdischen Streit erhaben seine Hand hält", glaubt Markowski, "er ist der lebendige Gegenentwurf zu einem zügellosen Globalismus und zur westlichen Konsumwelt, mit der die Regierungen bei euch alle Menschen - nicht nur die Gläubigen - verdummen. Dieser Papst war nicht nur früher eine Gefahr für den Kommunismus, er ist heute noch ein Systemveränderer, er kämpft gegen gnadenlosen Wirtschaftsliberalismus - ein Kämpfer ohne Waffen, nur mit dem Wort Gottes, nur mit der Botschaft der Liebe. Die Faszination, die dieser Papst auf junge Menschen ausübt, hat ihn zu einer Art Popikone werden lassen."

Und Radio Maryja? Der fundamentalistische, fremdenfeindliche Sender des Redemptoristenpaters Rydzyk, der täglich sechs Millionen Polen erreicht und nun auch über einen Fernsehsender verfügt? Das sehe er wie der Papst, sagt Markowski. "Die haben ihre Verdienste in den Gebets- und Evangelisationssendungen, aber was seriöse Politik betrifft, ist das Geschwafel unmöglich." Der Papst nehme da kein Blatt vor den Mund. Tatsächlich war es bisher einzig der Heilige Stuhl, der am polnischen Klerus vorbei willens und fähig war, einen fundamentalistische Katholizismus und dessen politischen Wurmfortsatz, die Liga Polnischer Familien (LPR), im Zaum zu halten.

Schließlich soll das Machtwort des Papstes beim Referendum zum EU-Beitritt Anfang Juni den Ausschlag gegeben haben. Als Anwalt der europäischen Integration hatte er noch im Mai 20.000 polnische Pilger auf dem Petersplatz mit den Worten "Europa braucht Polen, und Polen braucht Europa" auf die Heimreise geschickt und versucht, den gesamten polnischen Klerus auf Kurs Europa einzuschwören.

Johannes Paul II. ist eine Identifikationsfigur, die eine mehr und mehr auseinander driftende polnische Gesellschaft zusammen hält - so lange er lebt.

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