Als die Literaturkritikerin Viviane Forrester vor vier Jahren ihrem Verleger ein Projekt namens "Der Terror der Ökonomie" vorlegte, hatte sie keineswegs die Ambition, einen Bestseller zu verfassen. Sie wollte einfach ihrer Empörung Ausdruck geben und vielleicht ein paar Arbeitslosen neuen Mut machen. Aber mit ihrer Umkehrung der Prioritäten - nicht der Mensch ist für das Gedeihen der Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für das Wohlergehen des Menschen - traf sie einen Grundgedanken, den wohl schon viele gedacht, aber nie auszudrücken gewagt hatten. Das kleine Buch schlug wie eine Bombe ein. Rund eine Million Exemplare wurden in der ganzen Welt verkauft - 400.000 in Frankreich, 200.000 in Deutschland. In Mexiko löste "El Horror economico" eine Parlaments
ntsdebatte aus. In Argentinien sahen die enthusiastischen Leser schon eine neue Evita in der Autorin und jubelten ihr "Viviana! Viviana!" auf jeder ihrer Lesungen zu. Die britische Presse nannte sie den "berühmtesten Wirtschaftsautoren seit Karl Marx". "Nieder mit dem Terror der Ökonomie!" schrieben die Arbeiter von Renault in Vilvorde auf ihre Transparente, als sie gegen ihre Entlassungen demonstrierten. "Ich war verzweifelt, als ich Ihr Buch in die Hand nahm", hieß es in einem der vielen Briefe, die sie von Arbeitslosen erhielt. "Als ich es zu Ende gelesen hatte aber wußte ich ... ich brauchte mich nicht mehr zu schämen."Bisher hatten die Bücher von Viviane Forrester, wie ihre Biographie von Van Gogh oder ihr Porträt von Virginia Woolf, nur ein kleineres Publikum von Kunst- und Literaturkennern erreicht. Das unerwartete Echo auf ihren Essay beflügelte sie zu einer Folge im wirtschaftlichen Bereich: "Eine seltsame Diktatur" - "Une dictature étrange" - liegt seit dem Frühjahr in Frankreich vor und wird Anfang 2001 auf deutsch erscheinen. Wie bei ihrem ersten Pamphlet haben die Wirtschaftsexperten ihre Prosa als Unfug abgekanzelt. Wie konnte eine Unbefugte es wagen, in ihre Hochburgen der Ökonomie einzudringen? "Sie schreibt nichts als Dummheiten." "Sie ist eine verkappte Marxistin mit feministischem Anstrich", hieß es hämisch in der Presse. Worauf die Passionaria der Arbeitslosen und "working poor" erwidert: "Schriftstellerin sein heißt denken. Warum sollte ich nicht das Recht haben, in Sachen Wirtschaft nachzudenken? Schließlich verbiete ich den Wirtschaftsexperten doch auch nicht, Romane zu schreiben." Und auf die wiederholte Anspielung auf das großbürgerliche Milieu, aus dem sie stamme (ihr Vater war ein reicher jüdischer Geschäftsmann, obwohl vom Krieg ruiniert) und das sie nicht gerade prädestiniere, sich in die Lebensbedingungen der neuen Armen zu versetzen, antwortet die 75-Jährige: "Warum muß man arm sein, um die Armen zu verteidigen?""Sie macht den Neoliberalismus für alles Elend der Welt verantwortlich, ohne auch nur die geringste Alternative anzubieten", wird ihr vorgeworfen. "Wenn ein Haus in Flammen steht, geht es zunächst darum, den Brand zu löschen, statt Pläne für ein neues Haus zu machen", erwidert Viviane Forrester. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die Alarmglocke zu ziehen, aber nicht neue Wirtschaftsprojekte auszuarbeiten. Um den Brand zu löschen, ruft sie zum Widerstand gegen ein System auf, das mit Hilfe der Medien als das einzig mögliche hingestellt wird: "Wir müssen die Allmacht dieses weltweiten Einheitssystems ablehnen, eines Systems, das sich an seinen Erfolgen ergötzt und uns so konditioniert, daß wir seine menschlichen Auswirkungen als unausweichlich betrachten. Es ist ein gefährliches System, das uns an den Gedanken gewöhnt, dass Menschen überflüssig sind, und dies auf so unterschwellige Art, dass diese Menschen sich schließlich selbst überflüssig vorkommen. Das ist sein größter Erfolg."Dabei hat uns doch der technologische Fortschritt von harter Knochenarbeit befreit. Er müsste allen zugute kommen, fordert sie. Wir müssten mehr Zeit, ein schöneres, amüsanteres Leben haben. Aber nur einige wenige profitieren von diesem technologischen Fortschritt: die großen Unternehmer, die den Rest der Gesellschaft in einen Klub von Börsianern verwandeln möchten. Alle sollen Aktionäre von Firmen werden, die, um rentabel zu sein, Arbeitskräfte einsparen, also entlassen müssen. Die Kleinaktionäre hoffen auf den Erfolg der Firmen, deren Aktien sie gekauft haben. Dabei wird ihnen gerade dieser Erfolg zum Verhängnis. "Man sagt, der Mensch sei ein Wolf unter Wölfen. Wird er sich nun selbst auffressen als Partner von Wölfen, deren Opfer er ist?" schreibt sie."Es ist absurd, uns überzeugen zu wollen, es gäbe nur ein einzig mögliches Wirtschaftsmodell", erklärt sie bei der Vorstellung des Buches in der Pariser Großbuchhandlung FNAC. Mit den Zauberformeln "Globalisierung" und "Konkurrenzdruck" glaubt man, diesen Wettlauf um immer höhere Profite, immer größere Fusionen rechtfertigen zu können. Die Bürger aber sollen sich an diesem Spekulationswettlauf mittels Pensionsfonds und Aktienkauf beteiligen, das heißt an ihrem eigenen Ruin, weil hohe Profitraten nur durch Arbeitskräfteeinsparung erzielt werden könnten. "Man lobt die Beschäftigungspolitik der Vereinigten Staaten", fährt sie fort. "Aber im reichsten Land der Erde ist die Zahl der Armen auf 19,1 Prozent angestiegen. Mit den neuen Billigjobs können sie sich kaum über Wasser halten. Soll das ein Modell sein?"Dann legt sie den Finger auf eine andere Absurdität des Systems. Nie zuvor haben die Politiker soviel von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geredet. Dabei müssen die Angestellten von Schul- und Gesundheitswesen auf die Straße gehen, um mehr Arbeitsplätze zu fordern. Nicht an Arbeit und Bedürfnissen mangelt es, sondern an dem politischen Willen, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Und darin sieht Viviane Forrester offensichtlich den Knoten des Problems, die Grundlage dieser "seltsamen Diktatur ohne Diktator": Die Unternehmer haben die Politiker für ihre Zwecke vereinnahmt. Sie streben nicht etwa selbst an die Macht, sondern wollen die Macht über diejenigen ausüben, die sie in den Händen halten. In Organisationen wie Weltbank, Welthandelsorganisation oder OECD sieht die Autorin Instrumente der Unternehmer, um sich die Weltwirtschaft zu eigen zu machen. Dabei geht es ihnen nicht etwa darum, die Armut auf der Welt oder die russische Maffia abzuschaffen. Im Gegenteil, sie verbünden sich sogar mit ihr, wenn es darum geht, ihre Profite zu erhöhen, schreibt sie.Doch immer wenn weltweite Bürgerinitiativen gegen Unternehmer- und Finanzwelt Druck machen - der Widerstand gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (M.A.I.) oder die Demonstrationen in Seattle haben es gezeigt - können sie sich gewaltlos auch durchsetzen. Denn diese "seltsame Diktatur", die immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft drängt, bewahrt dennoch demokratische Formen. "Und da liegt unsere Chance", betont Viviane Forrester.Dass sich in den Köpfen der Menschen langsam das Bewusstsein durchsetzt, dass Wirtschaftszwänge nicht als Schicksal akzeptiert werden müssen, dass man sie zu hinterfragen beginnt, zeigt die Autorin am Beispiel des Autoreifenherstellers Michelin in Clermont-Ferrand. Am 9. September 1999 verkündet Edouard Michelin jr. eine Erhöhung der Profite um 17 Prozent und gute wirtschaftliche Aussichten für das Unternehmen. Gleichzeitig aber sieht er sich gezwungen, 7.500 Arbeitskräfte, das heißt ein Zehntel der Belegschaft, zu entlassen. Noch am gleichen Tag steigt die Michelin-Aktie um 10,56 Prozent und zwei Tage darauf um 12,53 Prozent. Diese Nachricht sorgt in der Öffentlichkeit für Aufruhr. Plötzlich ist man hellhörig geworden. Ein profitables Unternehmen ist also nur dann erfolgreich, wenn es Arbeitskräfte "freisetzt"? Je mehr Entlassungen, desto höher die Aktien? Herrn Michelin jr. wird seine Ungeschicklichkeit in Sachen Kommunikation vorgeworfen. Dabei geht es um das Einmaleins des Neoliberalismus. Nur hat man es diesmal ganz unverblümt gesagt.Für Viviane Forrester sind die Reaktionen der Öffentlichkeit Ausdruck eines neuen Bewusstseinsprozesses. "Als ich am 8. März 1997 in Clermont-Ferrand war, um über den Terror der Ökonomie zu sprechen, war die Situation schon ganz ähnlich. Entlassungen bei steigendem Profit. Aber es schien damals, als hätte man den Zusammenhang noch nicht begriffen", erinnert sie sich. Zu diesem Prozess wachsender Hellhörigkeit, größerer Wachsamkeit anstelle von Resignation beigetragen zu haben, ist sie stolz. Mit José Bové, dem Agitator von Seattle, und Pierre Bourdieu, der am 1. Mai zu einer europäischen Bewegung gegen den Neoliberalismus aufgerufen hat, fühlt sie sich solidarisch und freut sich über den wachsenden Widerstand gegen die menschenverachtenden Zwänge des globalen Markts, wie er sich in der internationalen Bewegung ATTAC zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte ausdrückt. Dass der Ertrag ihres Bestsellers "Der Terror der Ökonomie" ihr Leben erleichtert, daraus macht sie keinen Hehl. An der Börse hat sie ihn jedenfalls nicht investiert, sondern in den Kauf einer Dreizimmerwohnung in einem schönen Pariser Viertel auf dem linken Ufer der Seine.
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