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MARIAMA BARRY Wie kann man es als Afrikanerin wagen, Vater und Mutter infragezustellen?

    Die Entwicklung Afrikas liegt in den Händen der Frauen - das ist kein programmatischer Satz, sondern Alltagserfahrung. Wie aber wachsen diese Frauen auf, und welche Konsequenzen ziehen sie aus ihrer Kindheit für ihr eigenes Leben als Frau? Zwei Portraits von rebellischen Afrikanerinnen aus polygamen Gesellschaften, die dieses Thema in ihrer Arbeit reflektieren. Siehe auch

Sie hat sehr regelmäßige Züge. Jung? Vielleicht Ende dreißig. Ihr Alter verrät sie nicht. Überhaupt ist Mariama Barry eher reserviert. Doch sie hat nach jahrelangem Zögern die Wunden der Kindheit in einem autobiographischen Roman - "La petite Peule"* (Die kleine Fulbe) - der Öffentlichkeit preisgegeben.

Ihr Leben ist vom Trauma der Trennung, der Täuschung und der verlorenen Kindheit bestimmt. Die Eltern sind Fulbe aus Guinea, die sich in der senegalesischen Hauptstadt Dakar angesiedelt haben. Die Mutter stammt aus der wohlhabenden polygamen Großfamilie eines gelehrten Patriarchen mit sechzehn Frauen. Gegen das Gebot der Brüder hat sie Mariamas Vater geheiratet, einen kleinen Händler, ihres Ranges unwürdig, was sie später bitter bereute. Eines Tages nimmt die Mutter die siebenjährige Älteste mit auf eine Reise zu einem "Fest", in Wirklichkeit eine Reise in den Alptraum. Ohne zu wissen, was ihr geschieht, ohne jegliche Erklärung wird sie der Genitalverstümmelung unterworfen. Mit Gewalt setzt sich die Beschneiderin auf die Brust des Kindes, das um sich schlägt, stemmt die Beine auseinander, und schon trennt das Messer den intimsten Teil vom Körper des Kindes, das zur Frau gemacht werden soll. "Frau sein heißt leiden, ohne zu schreien oder zu klagen," erklärt die Mutter nachträglich den Gewaltakt. Damit ist die unbekümmerte Kindheit vorbei. Der geliebte Vater, der ihr abends Märchen und Legenden erzählte, distanziert sich von ihr. Selbst der vierjährige Bruder darf sie während ihrer Isolierung nicht besuchen - schließlich gehört er zum anderen Geschlecht.

Das Vertrauen zur Mutter ist gebrochen. So viel aber begreift Mariama: Dieses Zeremoniell ist keine Fatalität, denn ihre senegalesischen Spielgefährtinnen bleiben davon unbehelligt. "Nur Minoritäten haben im Senegal die Exzision praktiziert", erklärt sie. "Offiziell ist der Brauch vor einem Jahr abgeschafft worden. Aber bei den diesjährigen Wahlen hat eine Partei die Wiedereinführung der Exzision verlangt." Empörung blitzt aus ihren Augen. Mariama Barry hat gelernt, sich durchzusetzen. Später war sie es, die die kleine Schwester vor der Beschneidung bewahrt hat.

Die Mutter war eine Frau voller Ambivalenz, die die Widersprüche des Zusammenpralls zwischen traditioneller und moderner Gesellschaft verkörperte. Selbst Analphabetin wie der Vater, bestand sie darauf, dass Mariama die französische Schule besuchte. Tagelang stand sie Schlange, um ihr dieses Privileg zu verschaffen und sie einzuschreiben. "Du musst etwas lernen. Ein gutes Diplom, eine gute Arbeit, das ist der wahre Ehemann einer Frau", mahnte sie später die Tochter. Da hatte das Leben sie schon gelehrt, dass sie auf ihren Mann, den verschuldeten Kleinhändler, nicht zählen konnte. Sie hatte sich scheiden lassen, kam für ihren Unterhalt selbst auf und lebte mit einem anderen Mann - eine Schande für damalige Verhältnisse. Mariama als Älteste von sieben Kindern musste die Mutter im Haushalt des Vaters ersetzen. Da wurde der Schulbesuch sporadisch und drohte, ganz auszufallen, als die Brüder mittels Initiation und Koranschule zu Männern gemacht wurden. Nun taten sie die vorher miteinander geteilte Hausarbeit verächtlich als "Sache der Frauen" ab.

Bis Mariama streikte, sich mit einem Buch unter den Baum setzte und sich von Vater, Onkel und Brüdern beschwören ließ, doch wieder zu kochen und dem Essen aus Konservenbüchsen ein Ende zu machen. Die Rebellion hatte die wahren Abhängigkeiten aufgedeckt. Sie stellte ihre Bedingungen. Die Arbeitsteilung wurde wieder eingeführt, bis auf das Wasserholen, seit eh und je Aufgabe der Mädchen. Mariama Barry erinnert sich: "Meine Mutter sagte immer: 'Entweder füllt man seinen Kopf oder man trägt etwas drauf'", womit sie die Wasserkübel der Mädchen oder die Körbe der Marktfrauen meinte. Von ihnen konnte allein der Schulerfolg befreien. Lesen und Lernen, nichts wollte die Tochter dringlicher.

Aber der Vater hatte andere Ziele. Er wollte seine Kinder zu den Großeltern nach Guinea bringen, um freier zu sein. Mit dem Widerstand der Ältesten hatte er nicht gerechnet. So verspach er ihr einfach, sie könne beim Onkel in Dakar bleiben und weiter zur Schule gehen. Ein leeres Versprechen. Am Ende wurde sie von Vater und Onkel gemeinsam auf den Bus nach Guinea gehievt. Wieder wurde das kindliche Vertrauen getäuscht.

Die Hütte der Großmutter, die nur Söhne geboren hatte und die Enkelin freudig in die Arme schloss, wurde zur neuen Zufluchtsstätte. In diesem Dorf beobachtete sie, dass nur die Frauen arbeiteten. Der Großvater hatte sein Leben lang nichts tun müssen.

In der Hütte der Großmutter las Mariama Barry die Fabeln von Lafontaine, die "Kameliendame" von Alexandre Dumas und ein zerfleddertes französisches Wörterbuch, das jemand im Dorf vergessen hatte. Sie war erst zwölf, aber schon kamen die Freier, um mit dem Vater ein Geschäft zu machen. Als Zeichen ihres Wohlstands gaben sie die Zahl ihrer Rinder und Frauen an. "Im Grunde brauchen sie die Frauen, um ihre Felder bestellen zu lassen," erklärt Mariama Barry. Polygamie sei die Ausnutzung der Frauen zur Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen. Denn das Land erben im Patriarchat die Männer. Eine "gebildete" Frau zu besitzen, eine, die lesen und schreiben kann wie Mariama, ist ein Luxus, den sich nur erfolgreiche Männer leisten können. Immerhin widersteht der Vater der Versuchung, einen guten Brautpreis für die Tochter einzustreichen. Er verspricht ihr sogar, sie auf die Schule in die Hauptstadt Conakry zu schicken. Verspricht's und verschwindet tags darauf ohne Abschied.

An diesem Trauma des Verlassenwerdens hat Mariama Barry ein Leben lang gelitten. Sie ist unverheiratet, hat keine Kinder. Mit siebzehn schon hatte sie das Manuskript ihres Buches verfasst. Aber wie kann man es wagen, Vater und Mutter in Frage zu stellen - noch dazu als Afrikanerin.

Den Weg zum Studium fand sie schließlich auf Umwegen. Als Notarin will sie sich demnächst in Dakar niederlassen. Sie hat in London gelebt und in Paris, an der Alphabetisierung von Immigranten am Rande der Großstädte mitgewirkt. "Die jungen Rowdies wissen gar nicht, welches Privileg es ist, freien Zugang zur Bildung zu haben," sagt sie. "In Afrika mangelt es überall an Schulen, vor allem auf dem Land. Wenn es erstmal leichter wird, auch die Mädchen etwas lernen zu lassen, werden sie ihr Schicksal schon selbst in die Hand nehmen. Die Entwicklung Afrikas liegt in den Händen der Frauen."

* Verlag Mazzarine, Paris, 2000

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