Ich bin 52, arbeitslos mit zwei unterhaltspflichtigen Kindern", sagt Maïté. "In meinem Alter stellt mich keiner mehr an. Das Sozialamt zahlt mir 3.900 Francs (gut 1.100 DM) Unterstützung. Wie soll man davon leben?" Zusammen mit Nicole, Lilliane und dem ebenfalls arbeitslosen Pascal hat Maïté 372 km von Mintlucon nach Paris zurückgelegt. In jedem größeren Ort haben sie beim Bürgermeister vorgesprochen, um für die Sache der Frauen zu plädieren. Manchmal hat man sie zum Mittagessen eingeladen und sie für die Nacht beherbergt. Einmal auch hat man sie mit Polizeigewalt vor die Tür gesetzt. Jedenfalls waren sie pünktlich am 17. Juni zu dem großen Ereignis in Paris: dem Weltmarsch der Frauen gegen Armut, Gewalt und Diskrim
Neoliberalismus ist konkret
AUF DEM WEG INS JAHRTAUSEND DER FRAUEN Der Weltmarsch der Frauen in Paris will die Politiker unter Druck setzen
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riminierung.Diese ungewöhnliche Delegation aus dem Departement Allier gehört zu den 220 feministischen Verbänden, die sich aus ganz Frankreich zu dieser Großdemonstration vom Place du Châtelet zur Bastille, Wahrzeichen der Revolution, zusammenfinden. Auf einem ihrer Transparente steht: "Ein Platz in der Stadt, ein Platz in der Gesellschaft. Gleichheit zwischen Männern und Frauen das ganze Jahr hindurch." Auftakt zu den Demonstrationen in den 153 teilnehmenden Ländern war der 8. März, der Weltfrauentag. Am 14. Oktober werden die Frauen ihre Forderungen dem EU-Parlament in Brüssel vorlegen, und am 15. Oktober beginnt der Marsch auf New York, wo die Delegationen am 17. Oktober, dem Welttag der Armut, vor dem Sitz der UNO zusammentreffen, um von Kofi Anan empfangen zu werden.Handelt es sich um eine Revolution in der Geschichte der Frauen? Jedenfalls ist es der Beginn einer starken weltweiten Vernetzung der Aktivistinnen, die neue Formen gefunden haben, ihre Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und die Politiker unter Druck zu setzen. Die Bewegung zeugt davon, dass sich die Frauen mit leeren Versprechungen nicht mehr abspeisen lassen und mit gewissen Tatsachen nicht mehr abfinden wollen. Diese Tatsachen sind zunehmende Pauperisierung und wachsende Gewalt gegen Frauen. Am Pranger stehen die patriarchalen Machtstrukturen und der Neoliberalismus. Auf der zweiten UN-Weltfrauenkonferenz 1980 in Kopenhagen gelangte zum erstenmal eine Formel in die Weltöffentlichkeit, die mit leichten Abänderungen noch heute gilt: "Frauen, die Hälfte der Menschheit, verrichten zwei Drittel der Arbeit, verdienen zehn Prozent des Lohns und besitzen ein Prozent des Eigentums auf der Welt." Zu Beginn des zweiten Jahrtausends sind 70 Prozent der 1,3 Milliarden Armen dieser Welt weiblichen Geschlechts. Seit Peking hat sich daran nichts geändert, und die Armut nimmt auch in den hochentwickelten Ländern wie den USA zu. Dort waren 1940 noch 40 Prozent der Armen Frauen, heute sind es 60 Prozent. Auch der Zugang zum Wissen scheint ihnen versagt. Von weltweit einer Milliarde Analphabeten sind wiederum zwei Drittel Frauen.Am Rande der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 haben die Kanadierinnen die Initiative eines Weltmarschs der Frauen zu Beginn des zweiten Jahrtausends angeregt. Unter dem Stichwort "Brot und Rosen" hat die "Föderation des femmes du Quebec" damals den Marsch auf Montreal organisiert. Die neun Forderungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Frauen wurden fast alle erfüllt. Dieser Erfolg sollte durch den Aufruf zum Weltmarsch konsolidiert werden."Hier in Frankreich haben wir uns für den Vorschlag der Frauen aus Quebec sofort begeistert", sagt Nelly Martin, 48, Gewerkschaftlerin bei der Postgewerkschaft SUD und Feministin seit ihrem 20. Lebensjahr. Die Postangestellte hat sich damals in der Frauenbewegung MLAC für freie Abtreibung und Kontrazeption eingesetzt. Heute koordiniert sie in dem Pariser Büro des Planning familial den Marsch mit über 200 französischen Frauengruppen. Wenn sie von der zunehmenden Benachteiligung der Frauen durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten spricht, merkt man: die Auswirkungen des Neoliberalismus sind für sie keine leeren Formeln. Sie erklärt am Beispiel der Kassiererinnen, was flexibel arbeiten bedeutet: weniger Geld für kürzere Arbeitszeit, aber um so längere Abwesenheit von zu Hause. "Die auferlegten stundenlangen Pausen zwischen den Hochbetriebszeiten mittags und abends bringen den Angestellten nichts als Gehaltsverlust ein", erklärt sie.Sophie Zafari und Anne Leclerc, zwei energische, hübsche Frauen Mitte 30, sind Mitorganisatorinnen des Weltmarschs der Pariser Koordination. Beide kommen aus der Lehrergewerkschaft FSU und waren gleichzeitig in feministischen Organisationen engagiert.Sophie Zafari, deren Vater Iraner ist, hat schon früh ihre feministische Lektion gelernt. "Meine beiden Brüder konnten lange studieren, der eine ist Forscher, der andere Ingenieur geworden. Für mich als Mädchen aber genügte eine Kurzausbildung als Lehrerin, ein typischer Mädchenberuf und schlecht bezahlt. Eben darum haben die Männer ihn aufgegeben." Anne Leclerc ging es als Erzieherin finanziell nicht viel besser. Sie erklärt, warum der Vorschlag der Frauen aus Quebec 1995 in Frankreich auf fruchtbaren Boden fiel: "Das soziale Klima war damals günstig. Nicht nur die Eisenbahner, auch die Krankenschwestern hatten monatelang gestreikt, und die französische öffentliche Meinung stand mehrheitlich auf ihrer Seite. Viele wurden sich bewusst, zu welch schlechten Arbeits- und Lohnbedingungen Frauen im öffentlichen Sektor arbeiten mussten. Aus dieser Bewegung ist eine Organisation zur Verteidigung der Rechte der Frauen hervorgegangen: Le Collectif national pour les Droits des femmes. So konnten wir auf die kanadische Initiative prompt reagieren."1998 sind die französischen Aktivistinnen der Einladung der Kanadierinnen nach Montreal gefolgt, wo die gemeinsame Plattform für UNO, Weltbank und internationalen Währungsfonds ausgearbeitet wurde. Aus Solidarität mit ihren Schwestern in den Entwicklungsländern im Süden und Osten fordern die Frauen, dass die Schulden dieser Länder aufgehoben werden. Zudem wollen sie, dass die Regierungen sexuelle Gewalt gegen Frauen als ein Verbrechen ansehen und bestrafen, Vergewaltigung in der Ehe ebenso wie die Massenvergewaltigungen von Frauen in Kriegszeiten. In afrikanischen Staaten wie Burkina Faso oder Kamerun werden Sexualverbrechen noch nicht einmal im Strafgesetzbuch erwähnt.Doch selbst wo das Strafrecht besteht, wird es nur ungenügend angewendet. Die patriarchalen Strukturen sind in den Mentalitäten so tief verankert, dass die meisten Gewalttaten stillschweigend hingenommmen werden. Auch im Fall der Revolte ist das Ergebnis oft zweifelhaft. Frauenorganisationen aus Mosambik meldeten folgende Geschichte: Eine vergewaltigte Frau wird von Nachbarinnen auf die Polizeiwache und ins Krankenhaus begleitet. Als eine der Zeuginnen nach mehreren Stunden nach Hause zurückkehrt, wird sie von ihrem Mann verprügelt, weil der zu lange auf sein Essen warten musste.Gewalt gegen Frauen gehört auch in den Ländern des Nordens zur Banalität des täglichen Lebens. Laut Statistik wird in den USA alle 22 Sekunden eine Frau geschlagen. Einer kürzlich in Frankreich erschienenen Umfrage zufolge sah sich ein Drittel aller Französinnen als Kind sexuellen Aggressionen ausgesetzt.Neben den an UNO, Weltbank und Internationalen Währungsfonds adressierten Forderungen haben die Frauen in jedem Land ihre eigene Plattform ausgearbeitet. In einem Schreiben an Premier Lionel Jospin fordern die Französinnen unter anderem eine Anhebung der Mindestlöhne um 1.500 Francs (rund 400 DM), doppelt so viele Plätze in den Kinderhorten und die Gratispille.Feminismus ist in Frankreich seit etwa 20 Jahren verpönt. Doch nun können sich die Töchter nicht länger auf den Lorbeeren der Errungenschaften ihrer Mütter ausruhen. Zwar sind ihnen gewisse Freiheiten garantiert: das Gesetz Lucien Neuwirth hat ihnen 1967 Zugang zu kontrazeptiven Mitteln verschafft, das Gesetz Simone Veil von 1975 erlaubt ihnen die Abtreibung, das Gesetz Yvette Roudy von 1983 sagt ihnen berufliche Gleichstellung zu, und politische Parität will ihnen das neueste Gesetz des Jahres 2000 verschaffen. Dennoch haben die Krisenjahre in Wirklichkeit einen Rückschlag für die Frauen bedeutet. Die Pille ist kostspielig, die Abtreibungskliniken schließen unter dem Druck der orthodoxen Abtreibungsgegner, und die wirtschaftliche Ungleichheit ist offensichtlich. Obwohl Mädchen bessere Ergebnisse beim Abitur und in den Universitäten erzielen, ist es um ihre Karrieren schlecht bestellt. Nur sieben Prozent Frauen finden sich unter den höheren Angestellten und Topmanagern in den 5.000 französischen Großunternehmen. Zudem liegt der Unterschied zwischen den männlichen Gehältern bei 27 Prozent. Dagegen sind sie von Armut und Arbeitslosigkeit als erste betroffen; "Halbzeitarbeiterinnen, Vollzeitarbeitslose!" heißt ein Slogan der Feministinnen des Weltmarschs in Paris.Auch Männer nehmen an der Demonstration teil. So der 29jährige Thomas Lancelot, der zusammen mit seiner Freundin Clémentine Autain, 26, vor zwei Jahren den Verbands Mix-Cité gegründet hat. Über sein Engagement für den Feminismus sagt er nun: "Keiner würde sich wundern, dass ein Weißer gegen Rassismus kämpft. Warum also sollte ich mich als Mann nicht für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen?"Auch die Nanas beurs, eine Gruppe junger, meist algerischer ImmigrantInnen, sind gemischt. Sie wollen keine Barrieren zwischen sich und ihren Freunden schaffen und weiter mit ihnen diskutieren.Die meisten der ImmigrantInnen-Verbände aus Schwarz- und Nordafrika fordern das Wahlrecht und eine Verbesserung der Asylpolitik. Frauen, die wegen sexuellen Missbrauchs oder Vergewaltigung um Asyl bitten, sollen nicht länger abgewiesen werden.Für viele dieser kleinen Verbände, die sich für die Aufklärung und den Schutz der ImmigrantInnen einsetzen, hofft Nelly Martin, höhere Subventionen von Jospin zu erhalten. Maïté aus Montlucon hofft ihrerseits auf die Anhebung der Sozialhilfe.Am Wichtigsten aber ist Nelly Martin das europäische und weltweite Netzwerk der Frauen, das als Gegengewicht zur Männerherrschaft funktionieren soll. Wenn es von Bestand ist, könnte das zweite Jahrtausend tatsächlich zum Jahrtausend der Frauen werden.
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