Die erneute scharfe Kritik am deutschen Bildungssystem durch den UN-Menschenrechtskommissar Vernor Muñoz vergangene Woche macht unmissverständlich klar, dass wir zur Realisierung des Menschenrechts auf Bildung auf das schulische Sortieren und Aussortieren von Kindern endlich verzichten müssen. Dieses Problem wird meist am Beispiel der Hauptschulen diskutiert. Dabei betrifft es ebenso die bundesweit circa 500.000 Schülerinnen und Schüler, die eine sogenannte Förderschule, die unterste Stufe im Bildungssystem, besuchen.
Was heute "Förderschule" heißt, wurde Jahrzehnte lang unter der Bezeichnung "Sonderschule" geführt und nannte sich bis in die sechziger Jahre "Hilfsschule". Mit diesen Umbenennungen verwischte die Bildungspolitik die Spuren der Entstehungsgeschichte der schulischen Aussonderung von Kindern in Deutschland. Im 19. Jahrhundert verstand es die Hilfsschulbewegung, über die Pathologisierung der verarmten Kinder aus dem Subproletariat sich als zuständige Institution für "schwachsinnige" Kinder zu etablieren und ihre Abtrennung von den "gesunden" Volksschülern durchzusetzen. Ideologisch und organisatorisch sollte so der späteren Umsetzung des NS-Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses der Boden bereitet werden.
Irrtum Schonraum
Im demokratischen Rechtsstaat hat die "Förderschule", Sonderschule für Lernbehinderte, unter der bildungspolitischen Vorgabe von Chancengleichheit und gesellschaftlicher Integration für alle Kinder unbestritten einen Wandel in ihrem pädagogischen Auftrag und Selbstverständnis erfahren. Doch eins ist gleich geblieben: Sie ist wie eh und je die Schule für Arme mit benachteiligenden und ausgrenzenden Effekten in einem hierarchisch gegliederten, selektiven Schulsystem. Mehrheitlich kommen Sonderschüler aus Familien, deren sozio-ökonomischer Status unter dem Niveau der Arbeiterschicht liegt. In dem sozial verarmten Lernmilieu der Sonderschule werden sie, wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, im Kompetenzerwerb extrem benachteiligt. Mit entsprechenden Schulabschlüssen sind sie als gering Qualifizierte von sozialem Ausschluss bedroht.
Das dreigliedrige Regelschulsystem plus Sonderschule ist bestrebt, begabungs- und leistungsgerechte Gruppen zu bilden. Der Erfolg des Lernens, so die Vorstellung, hängt davon ab, wie passgenau Schüler und Schulart sich entsprechen. In den Köpfen von Pädagogen hat sich die Vorstellung verfestigt, es gelänge im "Schonraum" der Sonderschule, die Schulversager vor Leistungsdruck, Versagensangst und Misserfolgen zu schützen. Die Entwicklung eines positiven allgemeinen und leistungsbezogenen Selbstkonzeptes könne dort optimal gefördert werden. Dies ist jedoch eine reine Schutzbehauptung. Sie dient der Entlastung der Regelschulen von Schülern mit Problemen und dem institutionellen Erhalt der Sonderschulen.
In einer empirischen Untersuchung habe ich zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Sonderschule sowie deren Eltern schriftlich befragt und interviewt. Es ging um die Frage, welche emotionalen und sozialen Be- und Entlastungen sie mit dem Sonderschulbesuch verbinden und wie sich diese auf ihr Selbstkonzept auswirken. Wie bewältigen die Schüler Alltagssituationen, wenn sie mit ihrem niedrigen Sonderschulstatus konfrontiert werden? Das Ergebnis widerlegt klar die Annahme, dass Kinder mit Hilfe dieser Schulart ein positives Selbstbild entwickeln könnten: Für fast alle Schüler ist die Überweisung zur Sonderschule ein beschämender und demütigender Vorgang. Ein Schüler berichtet: "Ich wurde getestet und direkt ausgemustert ohne Vorwarnung. Irgendein ganz wichtiges Institut hat also beschlossen, dass ich dann hierhin komme. Da konnte auch niemand was gegen machen. Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen."
Beschämungen durch Mitschüler und Gleichaltrige in ihrem Umfeld sind die Folge. Fast ein Viertel der schriftlich Befragten erfuhr wegen der Sonderschulüberweisung Geringschätzung durch Freunde, diese machten sich lustig über sie oder brachen den Kontakt ab. Ein Drittel fühlte sich abgeschoben und hatte den Eindruck, dass ihr Klassenlehrer sie "loswerden" wollte. Ein Mädchen erklärt, warum die simple Frage nach ihrer Schule sie in Panik versetzt: "Wenn die Leute mich fragen: Auf welcher Schule bist du denn, sag ich immer: Auf Real, oder so was ... Ich müsste ja sagen Lernbehinderten-Schule. Da schäme ich mich richtig, wenn ich so was sagen müsste."
Wer sich so sehr schämt, Sonderschüler zu sein, kann schwerlich ein positives stabiles Selbstkonzept entwickeln. Verschweigen und Verleugnen ist die häufigste Form, mit dem Stigma der Sonderschule im Alltag umzugehen. Dies gibt einen sicheren Hinweis darauf, dass nicht wenige ihre spätere soziale Isolation ihrem eigenen Versagen zuschreiben werden. Mit dieser Art der Selbstverurteilung geben sie auch ihr Recht auf menschliche Würde und Anerkennung in der Gesellschaft auf.
Doppelt diskriminiert
Migranteneltern ist es besonders peinlich, über den Sonderschulbesuch ihres Kindes zu sprechen. Sie empfinden sich doppelt diskriminiert. Zusätzlich sehen ihre eigenen Landsleute auf sie herab. So wird es häufig zum Familiengeheimnis, wenn ein Kind die Sonderschule besucht. Die Scham der Eltern trägt zur Verstärkung der negativen Selbstwahrnehmung der Kinder bei. So erzählt ein türkischer Vater, der seinen Landsleuten den Sonderschulbesuch des Sohnes verschweigt, dass der Junge sofort betreten das Wohnzimmer verlässt, wenn Verwandte ihn nach der Schule fragen.
Als Reaktion auf den strukturell erzeugten Bildungsnotstand in Deutschland wollen einige Bundesländer die weiterführenden Schulformen auf zwei reduzieren. Ein Platz für Sonderschüler ist in dem zweigliedrigen System nicht vorgesehen. Sie sollen da bleiben, wo sie sind, nämlich unsichtbar im "Bildungskeller". Weil man sich nicht mit der Gymnasiallobby politisch anlegen will, die den Erhalt des Gymnasiums für ein selbstverständliches Bürgerrecht hält, weicht man auf "Lösungen" aus, die die Sonderschüler weiterhin benachteiligen und beschämen und in ihrem Menschenrecht auf Bildung verletzen.
Orientierung für die Schulreform, die wir brauchen, geben die nordischen Länder, in denen alle Kinder bis zum Ende der Schulpflichtzeit gemeinsam lernen und mit sonderpädagogischer Unterstützung individuell gefördert werden.
Brigitte Schumanns Dissertation mit dem Titel "Ich schäme mich ja so!" - Die Sonderschule für Lernbehinderte als "Schonraumfalle" erschien beim Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2007
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