Lern’ nicht mit den Schmuddelkindern

Spaltung SPD und Grüne rücken vom Leitbild einer „Schule für alle“ ab. Die Bildungsreformer sollten von der Anti-Atom-Bewegung lernen

Zwanzig Jahre im Ressort Bildung und Forschung – jetzt hat Deutschlands dienstältester Kultusminister Jürgen Zöllner seinen Abschied angekündigt. Der 65-jährige Sozialdemokrat, der in Rheinland-Pfalz und Berlin für die Schulpolitik zuständig war, tat es mit einem Plädoyer für die Zweigliedrigkeit.

Die alte rot-grüne Forderung nach einer Schule für alle – sie hat es immer schwerer in diesen Zeiten. Zumal seit dem Volksentscheid in Hamburg. Dieser habe gezeigt, heißt es inzwischen auch bei den niedersächsischen Grünen, „dass in Deutschland momentan noch kein Konsens dafür zu erreichen ist, das Schulsystem flächendeckend zu einem integrierten System umzugestalten“. Grüne in Schleswig-Holstein haben ebenfalls unter Verweis gen Norden einen Kurswechsel vollzogen. Auch der NRW-Schulministerin und Grünen Sylvia Löhrmann ist „der Blick auf Hamburg“ zum Argument geworden. Gleiches gilt für Sozialdemokraten, die von einer umfassenden Strukturreform des Schulsystems als Ziel abrücken: „Hamburg hat es doch gezeigt!“ ist zu einem politischen Topos geworden, der allerdings Zusammenhänge eher verschleiert als erklärt. Die dortige Volksinitiative „Wir wollen lernen!“, nicht ohne Grund „Gucci-Elternschaft“ genannt, hatte sich für den puren Eigennutz ihrer Sprösslinge eingesetzt. Den Initiatoren und Unterstützern gelang es, die gesellschaftliche Mitte hinter sich zu bringen – das Gymnasium und die frühe Trennung der Kinder nach Leistung und Herkunft wurde mit einer aggressiven Angstkampagne verteidigt.

Die Hamburger Gegner des gemeinsamen Lernens profitierten auch von einem demokratischen Dilemma, dass in den unteren bildungsfernen Schichten, die das gegliederte Schulsystem reproduziert, kaum noch politisch partizipiert wird. Migranten ohne deutschen Pass waren erst gar nicht wahlberechtigt. Wenn der Hamburger Volksentscheid und die politische Reaktion darauf etwas gezeigt haben, dann ist es die Funktionsweise eines gefährlichen „Klassenkampfes von oben“, vor dem grüne und rote Bildungspolitik nun kapitulieren.

Die Hamburger Vorgänge passen zu den Forschungsergebnissen des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer über den neuen Rechtspopulismus bei Besserverdienern. Zu den dabei beobachteten „Deutschen Zuständen“ gehört die schwindende Bereitschaft in den oberen Statusetagen, sozial Schwächere zu unterstützen. Stattdessen werden die eigenen Privilegien immer aggressiver verteidigt.

Jargon der Verachtung

Es hat sich ein Jargon der Verachtung, der Legitimation sozialer Ungleichheit breit gemacht – in der Politik, den Medien, der Wirtschaft und auch der Wissenschaft. „Seien Sie doch ehrlich, Sie und ich würden auch alles dafür tun, dass unsere Kinder auf ein Gymnasium gehen und nicht mit den Schmuddelkindern spielen“, kann da der Leiter eines Instituts für Schulentwicklungsforschung öffentlich bekennen. „Und eine Partei, die das Ende des Gymnasiums fordert, würde nicht wiedergewählt werden. Deshalb wird es dazu nie kommen. So einfach ist das.“

So einfach? Jedenfalls hilft ein Zitat wie dieses zu erklären, warum selbst unter Rot-Grün oder Grün-Rot die für Deutschland rechtsverbindlich geltende Verpflichtung zur Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems, das allen die gleichen Möglichkeiten gibt, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen miteinander zu lernen, den Lobbyinteressen des Gymnasiums untergeordnet wird.

Während der Berliner Bildungssenator Zöllner das zweigliedrige Modell von der Hauptstadt in alle anderen Länder exportieren will, gehen Grüne und Sozialdemokraten in NRW und Baden-Württemberg den „sanften“ Reformweg „von unten“: Gemeinschaftsschulen sollen im Konsens mit allen Beteiligten und freiwillig ermöglicht werden.

Aufklärung und langer Atem

Doch was als demokratischer Fortschritt über zentralistische Bevormundung gefeiert wird, ist kein politischer Sieg. In Schleswig-Holstein hat sich längst gezeigt, dass angesichts seiner starken Lobby das Gymnasium nicht auf freiwilliger Basis für einen integrierten Zusammenschluss aller Schulformen gewonnen werden kann. Zweigliedrigkeit ist auch auf diesem Weg programmiert – freilich ohne dass die Landespolitik die Verantwortung dafür übernehmen muss.

Es ist enttäuschend, wie wenig Grüne und Sozialdemokraten ihre Mehrheit in der Bevölkerung nutzen, um soziale Inklusion und gleichwertige Teilhabe als Leitbilder in der Gesellschaft zu verankern. Sie drücken sich vor der historischen Aufgabe, das Schulsystem aus seiner ständischen Tradition zu befreien und zu demokratisieren. Dabei ist nicht nur Kernspaltung hochgefährlich, sondern auch ein gespaltenes Schulsystem, das die vorhandene gesellschaftliche Kluft vertieft. Die Anti-Atombewegung hat es vorgemacht: Nur mit Aufklärung, langem Atem und starkem zivilgesellschaftlichen Druck wird es einen bildungspolitischen Ausstiegsbeschluss geben.

Brigitte Schumann ist Lehrerin und war von 1990 bis 2000 bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen

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