Alles anders, alles gleich

1961, 1989, 2004 Reinhard Schult hat die Nachkriegswenden hautnah erlebt

Im Bruch der Zeiten wandelte sich Leben in Davor und Danach. Träume wurden wahr oder zu Albträumen, manchmal entstand aus Enttäuschung auch Mut.
Wende-Zeit - Lebens-Wende: Eine Serie über Menschen und ihre Geschichte in der Geschichte.
Heute: 4. Teil

Mit ihm zu reden, ist einfach. Reinhard Schult denkt scharf und formuliert deutlich. Über ihn zu schreiben, ist nicht ganz so einfach. Bei aller Gesprächsbereitschaft - zu nahe an sich heran lässt er keinen. "Porträt? Was denn, über persönliche Dinge? Nee, das will ich nicht. Jut, über 89, Neues Forum und so, können wir reden." Das Telefonat ist kurz, die Termine eng, seine Tage sind vollgestopft mit Treffen, Absprachen, Interviews. Es geht um den Protest gegen Hartz IV. Ein bisschen ist es wie damals. Die da unten wollen nicht mehr, und die da oben können nicht mehr.

Wir sitzen im Büro des Neuen Forums, Berlin, Prenzlauer Berg, Winsstraße 60. Ja, in letzter Zeit sei er häufig im Haus. Saft oder Selters? Saft. Gut, er auch. Die Zigarette in der Hand bleibt ungeraucht. Erstmal. Zwischendurch kopiert er einen Zeit-Artikel "Nur die Reichen werden reicher", ein Interview mit Bärbel Bohley zu den Montagsdemonstrationen in der Welt und die "Erklärung von Angehörigen ehemaliger DDR-Oppositionsgruppen" zu Hartz IV (siehe Freitag 38 vom 10. September). Unter der sperrigen Überschrift steht ein gnadenlos unmissverständlicher Text. Kein "Gelaber. Das machen die Parteien und ihre Häuptlinge. Wir wollen Klarheit."

Die Idee dazu entstand an einem Sonntag im August. Die Montagsdemonstrationen machten Schlagzeilen und verursachten einen moralischen Rülpser bei den "üblichen Verdächtigen. Lengsfeld, Gauck, Clement. Also, da mussten wir was sagen." Wir. Die Freunde aus DDR- und Wendezeiten sind Freunde und Gefährten geblieben. Partnerschaft haltbar über die bewegten Jahre des Anfangs hinaus. Nicht mit allen. Manche sind bequem und schwach geworden, lau und feige, andere wurden korrumpiert und ließen sich gern verführen. "Einige können nichts anderes. Die brauchen einfach die Posten." Über die spricht Reinhard Schult jetzt aber nicht. Er spricht von denen, die sich treu geblieben sind. Carlo Jordan, Sebastian Pflugbeil, Bernd Gehrke, Thomas Klein, Leonore Ansorg, Renate Hürtgen und Wolfgang Templin ("Templin, ja, der hat sich wieder eingeholt").

Sie diskutieren, streiten, einigen sich auf eine gemeinsame Erklärung. Wer macht´s? Reinhard? - "Ja, ok, ich mach es." Am 29. August geht der von rund 60 Leuten unterschriebene Appell an die Medien. In Leipzig werden 12.000 Exemplare verteilt. Wolfgang Templin verliest den Aufruf vor Demonstranten in Senftenberg. Inzwischen gibt es eine zweite Erklärung an westdeutsche Gewerkschafter mit der Aufforderung, sich mit dem Protest gegen die Hartz-Gesetze zu solidarisieren (siehe unten).

Hartnäckigkeit ist das Mindeste, was man ihm bescheinigen kann. Erkennbar auch der Spaß an anarchistischer Aktion. Er erzählt die Geschichte des illegalen Rundfunksenders. Mit Freunden aus der autonomen Szene in Westberlin wurde 1986 der "Schwarze Kanal" installiert, "der erste unabhängige Sender der DDR. Wir im Osten haben die Texte gemacht, die Musik ausgesucht, selbst gemachte Programmzettel verteilt, und die im Westen haben es gesendet. Da stand die Stasi dann wieder bei uns auf der Matte, machte uns mit Störsendern platt und auf der anderen Seite in Kreuzberg suchte die Westberliner Polizei die Dachböden nach dem Sender ab. Aber es war ´ne schöne Sache."

Mauer, Flug nach Westen und FDJ

Reinhard Schult, Jahrgang 1951, wächst im geteilten Berlin auf. Vom Vater spricht er nicht. Er lebt mit seiner Mutter im Schwesternwohnheim eines Krankenhauses. Während der Schulzeit steht er vor der irrwitzigen Wahl zwischen "Jungen Pionieren" und Micky-Maus-Heften. Dann die Fluchtvorbereitungen der Kleinfamilie: Über Westberlin soll es nach Frankfurt gehen, dort hat die Mutter Arbeit gefunden. Die Koffer sind gepackt, der Zehnjährige ist aufgeregt und neugierig, der Flug für den 13. August 1961 gebucht. "Morgens um sechs schrie eine Schwester über den Flur: Inge, die Grenze ist zu." Er wird sich merken: Manchmal kommt alles ganz anders. Es macht ihn wach für Situationen und widerständig. "Ich bin nie ein Herdentier gewesen. Erziehung im christlichen Sinne und so eine Art natürliche Aufsässigkeit. Ich war auch in der Jungen Gemeinde, und dann war da wieder der Druck, diesmal mit Jugendweihe und FDJ. Ich wollte nicht und wurde prompt abgelehnt für die Oberschule. Hat natürlich keiner so gesagt. Und dann bin ich in der 9. Klasse doch in die FDJ."

Er macht Abitur mit Berufsausbildung zum Maurer. Sein Berufswunsch Pfarrer geht nach einem Jahr Theologiestudium in den Zwängen und der Bürokratie von Glaubensritualen sang- und klanglos unter. Reinhard Schult arbeitet nun als Maurer und baut am sozialistischen Stadtbild mit. Am 13. August 1979 wird er verhaftet. "Ein Kollege wollte in den Westen abhauen. Ich habe davon gewusst. Er wurde dann erwischt und hat mich verpfiffen." Zugriff am helllichten Tage auf der Straße, Vernehmung und Hausdurchsuchung. Dabei werden Texte von Pannach, Kunze und Biermann gefunden, die Reinhard Schult abgetippt und "ein bissel im Betrieb gestreut" hatte. Er bekommt acht Monate und weiß nun genau: Jetzt erst recht.

Kaum draußen betreibt er in einer konspirativen Gruppe politische Bildung, über Rudolf Bahros "Alternative" und zur polnischen Solidarnosc-Bewegung, nimmt an Seminaren über Kommunismus und an Friedenswerkstätten der Kirche teil, organisiert Büchertransporte von West- nach Ostberlin und Schulungen zur Strafprozessordnung der DDR. "Die Gefahr einer Verhaftung sahen wir immer und wollten es denen so schwer wie möglich machen. Ich habe zum Beispiel wöchentlich die Blätter aus meinem Kalender gerissen. Wir hatten konspirative Wohnungen und haben uns nie zweimal am gleichen Ort getroffen."

Grünheide, Kirche und Magistrat

Hartnäckig, listenreich und immer offener verfolgen sie ihr Ziel, ein Stück gesellschaftlichen Freiraum zu schaffen, selbstbestimmt zu leben, den Staat etwas zurückzudrängen. "Das war christliche Überzeugung, aber natürlich auch marxistische Analyse und Kritik am Kapitalismus, war anarchistische Kritik am Staat. Das ging nicht nur in eine Richtung - aber wir hätten uns schon als Linke bezeichnet. Staatskritische Sicht der DDR, sicher, aber es gab auch bei vielen von uns die Vorstellung, vom Boden dieses Sozialismus aus zu diskutieren und zu agieren. Denn so wie Honecker dachte, in 50 Jahren stehe die Mauer noch, so haben wir das auch gedacht."

Derweil rast die DDR im Sturzflug auf ihr Ende zu. Auf dem Radar der Geschichte wird es sichtbar: Anflug 1989. Kein Treibstoff mehr, die Navigation versagt, Trudeln, die Systeme fallen aus. Absturz. Doch am Ende entsteht eine neue politische Kultur.

Am 9. September 1989 treffen sich in Grünheide 30 Leute. Bärbel Bohley und Katja Havemann hatten Menschen eingeladen, "denen wir vertrauten, die in der Opposition aktiv waren, die aber auch die ganze Bandbreite der Opposition repräsentierten." Reinhard Schult gehört zu den Erstunterzeichnern, die in ihrem Aufruf feststellen: "In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Sie fordern einen offenen und öffentlichen Dialog zur Veränderung, Schluss mit Bevormundung und Ausgrenzung. Feststellungen und Forderungen, die für Reinhard Schult längst wieder aktuell sind. Nachzulesen in dem Aufruf "Wir haben es satt", den DDR-Bürgerrechtler vor drei Jahren verfasst haben.

Am 21. September 1989 melden Jens Reich und Sebastian Pflugbeil das Neue Forum im Berliner Magistrat an. Am 22. September informiert eine kurze Pressemitteilung, dass die Organisation verfassungsfeindlich sei und nicht zugelassen werde. Ein "Rechtsgutachten" des Ministeriums für Staatssicherheit bewertet den Aufruf des Neuen Forums als "staatsfeindliche Hetze". Der Witz dabei war, meint Reinhard Schult, dass "das doch nicht als Paukenschlag zur Offensive gegen das Regime gemeint war. Wir wollten aus dem engen Raum der Kirche, der langsam immer miefiger wurde, rauskommen."

Das Verbot hat keine Wirkung mehr. Immer mehr Menschen demonstrieren montags und nach Arbeitsschluss: "Wir sind das Volk". Das Neue Forum kommt unter Zugzwang: Man braucht arbeitsfähige Strukturen. Am 1. Oktober trifft sich die Crew der Erstunterzeichner in der Wohnung von Sebastian Pflugbeil und erarbeitet einen neuen Aufruf, in dem das Neue Forum als "legale politische Plattform" definiert wird. Die Bürger sollen in Wohngebieten und Betrieben eigene Gruppen bilden und sich vernetzen. Sie tun es. Am 8. November 1989 wird die neue Organisation formell zugelassen. Am 9. November fällt die Mauer. Es ist wie damals bei der gescheiterten Flucht am 13. August 1961, nur umgekehrt. Aber auch jetzt kommt alles ganz anders.

"Für diesen obskuren Fall hatten wir kein Konzept. Wir wollten die DDR demokratisieren und hatten nun den Westen auch noch am Hals." Die friedliche Revolution mutiert zur Spielwiese fremder Interessen. Es ging um pure Macht. "Dem hatten wir so gut wie gar nichts entgegen zu setzen." Reinhard Schult vertritt das Neue Forum am Runden Tisch. Das Land fiebert. Illusionen und Konflikte, Erfolge, Hoffnungen und Defizite. Sturm auf die Stasi-Zentrale, Canossagang der Übergangsregierung Modrow nach Bonn, vorgezogene Wahlen im März 1990, Währungsunion, die ersten Arbeitslosen, Wiedervereinigung.

Deutlich in Erinnerung ist ihm die Nacht zum 1. Juli 1990, dem Tag des neuen Geldes. "Da flog aus den Kaufhallen alles raus, was Ost war. Für mich war klar: Wir sind mit 16 Millionen Konsumenten der neue Absatzmarkt. Das lief doch prima für die westdeutsche Wirtschaft." Im September ist er bei der Volkskammerbesetzung dabei - ein letzter Versuch, Änderungen im Einigungsvertrag durchzusetzen. Umsonst. Nein, zum Jubeln war ihm nicht. Denn vorher, in der Wendezeit, "war die DDR das demokratischste Land in Europa".

Später vertritt Reinhard Schult das Neue Forum im Berliner Abgeordnetenhaus. Nicht bereit, sich dem Polit-Zirkus anzupassen, steigt er 1995 aus und geht in die Uckermark. Nach kurzer Zeit ist er stellvertretender Bürgermeister von Fredersdorf - und kehrt doch zurück. Leben auf dem Land ist gut, aber in der Nähe des Zentrums noch besser. So lebt er heute in einem Dorf bei Berlin. Denn eins mit sich selbst ist er nur dann, wenn er sich einmischen kann.


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