Herr Mehner hat wieder offen

Ein Mann sitzt auf dem Arbeitsamt und weiß, dass er nie wieder einen Job bekommen wird. Keine Chance. Dann entscheidet er sich Freitag, 16. Mai 2003, 11 Uhr vormittags. ...

Freitag, 16. Mai 2003, 11 Uhr vormittags.

Der Blick in das italienische Restaurant erfasst im ansonsten leeren Gastraum eine Gruppe von acht Personen. Was drinnen geschieht, läuft für den Beobachter als Stummfilm ohne Untertitel. Leute in Bewegung. Sie setzen sich, gestikulieren, reden, nicken sich zu. Dann tritt auch optisch Ruhe ein. Für Momente erstarrt die Szene zum Foto. Einer der Männer steht auf, redet, setzt sich. Pause. Nun geht aus der Gruppe einer nach dem anderen zu dem Redner. Jeder drückt ihm einen Briefumschlag in die Hand. Anschließend stoßen sie mit Sektgläsern an.

Etwas Besonderes ist passiert. Sieben Leute haben insgesamt 5.000 Euro übergeben. Ohne Vertrag, ohne Quittung, ohne Bedingung. Ein Darlehen zum Überleben. Startkapital für einen Neuanfang.

Der Italiener und der Buchladen sind Schräg-Gegenüber-Nachbarn. Der Italiener heißt Norbert, ist Hesse und betreibt das "Casa Plesser". Matthias Mehner ist der Buchhändler. Norbert kennt den Buchladen, aber der Herr Mehner war noch nie in seiner Kneipe. Er geht selten aus. Sein Weg hat zwei Richtungen: Zu den Büchern im Laden und zu den Büchern zu Hause in Strausberg. Er vermisst nichts. Wirklich leer wäre sein Leben ohne den Buchladen und ohne die Bücher.

Er ist gut aufgehoben in dieser kleinen Straße im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Er mag die Leute, die nach neuen und alten Titeln fragen, die wie die pensonierte Lehrerin mal schnell ihre Tasche für ´ne Stunde bei ihm abstellen, den Studenten, der telefonieren möchte, die Kinder, die bei ihm Hausaufgaben machen. Und die Leute mögen ihn. Manchmal denkt Matthias Mehner, dass er richtig Glück hat.

Jeden Vormittag balanciert jemand aus dem "Casa Plesser" eine Tasse Cappuccino rüber zum Buchladen. Irgendwann hat das angefangen und gehört nun zum Alltag der Straße. Immer so um Zehn.


12. Mai 2003 - ein Montag, den keiner der Beteiligten vergessen wird. Die Freundin des Wirtes bringt den Kaffee. Der Laden ist leer und der freundliche Buchhändler stumm, und sie weiß, es ist etwas Schlimmes passiert. Herr Mehner weint. Ihm ist gekündigt worden. Der Besitzer macht den Laden dicht. Mit Büchern ist kein Geschäft zu machen. Es ist das Übliche passiert: Die kleine Pleite in der großen. Matthias Mehner ist nur ein Arbeitsloser mehr in der Jahresstatistik. Er ist 47 Jahre alt. Eine Nummer, die nichts zählt.

Arbeitslosigkeit - ein alltägliches Gesellschaftsevent mit Statistiken, Pressemeldungen und entschlossenen Statements dagegen. Schleichende Gewöhnung an das Virus der Verwüstung. Das Unnormale wird zur Norm in der Gesellschaft. Matthias Mehner steht in seinem Laden. Gedanken laufen Amok. Was ist mit den Buchbestellungen für Frau Burdach, die seit 1967 hier ihre Bücher kauft? Was sag ich den Kunden? Bin ich morgen noch hier? Was mach ich nur?

Gut, dass Norbert, der Wirt, schnell rüber kommt. Sein "Casa Plesser" ist die gute Stube der Straße, Klatschbörse, Diskussionsforum, Club der Solidarität - und ein gutes Restaurant. Genug Gründe für die Stammgäste. Man geht nicht weg, wenn man hingeht. Vor neun Jahren kam Norbert hierher und ist nun einer von der Plesserstraße. Er kennt inzwischen die Familien und ihre Geschichten. Weiß, dass die Straße das Ende der DDR-Welt in Treptow war, die Bekennerkirche und Pfarrer Hilse Zuflucht für jene, die auf die andere Seite wollten. Eine tote Ecke. Heute sieht es hübscher aus. Aber "gucken Sie sich doch mal um: Die Kungerstraße, die Elsenstraße ... die kleinen Läden sind zu zwei Drittel kaputt gegangen." Das Leben wird regelrecht vertrieben. Nein, der Buchladen muss bleiben. Außerdem sei der Mehner so ein Typ, dem man gern hilft. "Das ist ein Mensch, der für andere da ist und für sich nicht so kämpfen kann".

Norbert geht also am 12. Mai sofort zu Herrn Mehner. Fragt, beruhigt und sieht: Die Bücher werden schon abgeholt. Viel Hoffnung bleibt nicht, auch wenig Zeit für eine Lösung. Was wäre, wenn ... Vorsichtig dreht Matthias Mehner den Gedanken hin und her: Den Laden selber übernehmen? Das Wort liegt in der Luft: Ich-AG - der Weg für Rausgekickte auf den freien Markt. Friss oder stirb. Die Mechanismen funktionieren. Matthias Mehner ruft im Arbeitsamt an. Ja klar, ja gern. Komm´se her. Matthias Mehner atmet tief. Für 5.000 Euro überließe der Besitzer ihm den Bücherbestand, die alte Einrichtung, das Drumherum. Der Haken: Keine Bank gibt ihm einen Kredit. 5.000 Euro - die hat er nicht. Wie auch.

Wenn Matthias Mehner sich erinnert an sein Leben, erinnert er sich an Bücher. Zu Hause die wunderbare Ausgabe des Kinderbuchverlages von Grimms Märchen. Weltliteratur in Leinen - Russen, Franzosen, Engländer - stand bei den Eltern im Regal. In der Schule Der stille Don oder Werner Holt, "der hat mich sehr beeindruckt." 1963 beginnt Matthias Mehner die Ausbildung zum Buchhändler. Liest Böll, Frisch, Aitmatow. Nach der Lehre arbeitet er in der Berliner "Karl-Marx-Buchhandlung" in der Politecke, da wo neben Wissen auch viel Ideologie stand und manches gar nicht. Er liest Amerikaner wie Faulkner, Steinbeck, Hemingway, sowjetische Literatur über den Zweiten Weltkrieg wie Shukows Memoiren. Von Katyn oder dem Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt liest er nichts. Tabus, die erst nach der Wende schmerzhaft aufbrechen und ein anderes Licht auf die DDR werfen, die er erlebte.

1992 übernimmt eine große Buchkette die Karl-Marx Buchhandlung. Doch die erhofften Umsätze bleiben im Sog des neuen Bunten und der neuen Sorgen aus. Matthias Mehner wird entlassen. Er läuft und fragt, bewirbt sich. 1994 fängt er in der Buchhandlung Plesser Straße, ehemals Theodor Fontane, an.

Arbeitssuche als Lotteriespiel. Bis zu diesem 12. Mai im vergangenen Jahr hat Matthias Mehner eine kleine Zukunft. Nur Geld hat er nicht. Ja, sagt Norbert, der Wirt, das war alles von einer Stunde zur anderen. "Da habe ich Bofi angerufen. Der war auch ganz aufgeregt und ist gleich gekommen."

Bofi ist Manfred Bofinger. Bekannt und beliebt als Autor, Karikaturist, Buchillustrator. Die personalisierte Seele der Plesser Straße. Für den menschenfreundlichen und genauen Weltbetrachter gibt es nur eine Position: Helfen. Sofort. "Das ist eine Frage des Anstands. Das hat auch was mit uns zu tun - und vor allem mit Herrn Mehner. Der wäre kaputt gegangen. Da kann man nicht einfach zusehen." Er sagt: Unser Buchladen. Er erzählt von Matthias Mehner. Er spricht von Solidarität seines Kiezes und von Entsolidarisierung der Gesellschaft. Er kann Verhältnisse nicht schön reden, in denen Menschen ihre Würde genommen wird. Und er will vor allem nicht zum Komplizen dabei werden. Er macht dieses Gesellschafts-Spiel nicht mit.

Manfred Bofinger und die Leute aus der Plesser Straße handeln. Es ist der persönliche Aufstand gegen die allgemeine Gleichgültigkeit.

Auch Matthias Mehner hat zu tun. Am nächsten Tag Termin im Arbeitsamt. Warten auf den Aufruf. Versuch, die Zukunft zu denken. Er weiß, dass er nie wieder eine Arbeit bekommt. Keine Chance - damit muss er es nun versuchen. "Ich hatte keine Wahl. Die sind doch froh, wenn einer aus der Statistik geht. Der Mann vom Arbeitsamt sagte: Ich befürworte ihren Antrag."

Matthias Mehner verlässt die Sammelstelle arbeitsloser Existenzen als Existenzgründer und mit dem Mut der Verzweiflung. In der Tasche den Ausstiegspakt und finanzielle Förderbedingungen: Im ersten Jahr monatlich 600 Euro, im zweiten schon weniger, im dritten noch weniger. Bei Überschreiten einer bestimmtem Gewinngrenze fällt die Förderung ganz weg.

Sein Soll und Haben (das besonders) wird regelmäßig überprüft. Gewinnspanne - der künftige Selbstausbeuter muss lächeln, findet es aber nicht lustig. Noch hat er die 5.000 Euro Startkapital nicht zusammen.

Er weiß nicht, dass Manfred Bofinger und Norbert, der Wirt, daran arbeiten, mit Telefonaten, Gesprächen, Fragen. Die schlechte Nachricht kursiert und mobilisiert. Bofinger erzählt es Günter Meyer, dem Regisseur. Thomas Munter, Bofingers Schwager, wird einbezogen, Brigitte Lemke, Nachbarin der Familie des Karikaturisten, rausgeklingelt. Norbert ruft Wilfried Krämer, Besitzer eines Auto-Dienstes an, setzt Jens Jagsch in Kenntnis und informiert Katrin Ehrhardt, Lehrerin am Gymnasium um die Ecke.

Ihre Motive ähneln sich. Günter Meyer, der Filme über Wünsche, Träume und Realitäten dreht (unter anderem DDR-Kinderfilmserien wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, oder die Einheitssatire Die Trotzkis) bringt es auf den Punkt: Wer sich über Arbeit definiert, für den sei eine solche Situation furchtbar. Nicht nur Günter Meyer kann sich das vorstellen. Sie sind sich alle einig: Der "Bücherwurm" darf nicht schließen. Da machen sie nicht mit. Sie bilden zusammen eine uneigennützige Kredit-Gesellschaft.

Der "Bücherwurm" ist das Thema der Straße. Im "Casa Plesser" wird der Plan spruchreif.

Jeder gibt, was er kann. Kein Problem. Schwieriger wird es sein, den bescheidenen Mann zur Annahme des Darlehens zu bringen. "Er hätte nie auch nur nach einem Euro gefragt. Niemals." Norbert, der Wirt, ist sich sicher. Er und Manfred Bofinger übernehmen den Part. Zwei Tage später bitten sie Herrn Mehner in das "Casa Plesser". Es ist Freitag, der 16. Mai des vergangenen Jahres. Ein besonderer Tag. "Ohne diese Hilfe in nur zwei Tagen wäre ich nicht hier und der Buchladen wahrscheinlich geschlossen. Das war, wie das nur unter Freunden geht", sagt Matthias Mehner. Vertrauen, Vertrautheit und Solidarität als Lebenform. Haltbar über einzelne Momente hinaus - und ansteckend.

Im Blumenladen hängt ein selbst gemachtes Plakat: "Rettet unseren Buchladen". Der vietnamesische Gemüsehändler bietet seinen Lieferwagen für Transporte an. Über die Lehrerin Katrin Ehrhardt empfiehlt die Schule den Schulbuchkauf bei Herrn Mehner. Schüler sammeln Unterschriften. Die Bekennerkirche macht Propaganda für den Buchladen. Studenten verteilen Protest-und Werbezettel. Bewohner des Wagendorfes Lohmühlenstraße verfassen ein Unterstützerschreiben. Wie auf Verabredung kaufen alle Bewohner der Plesserstraße und viele des umliegendes Kiezes ihre Bücher ausschließlich bei Herrn Mehner. Fremdgehen wäre einfach unanständig.

Naja, vielleicht passiert es mal aus Neugier und weil etwas anderes auch reizvoll ist. Manfred Bofinger verhandelt mit Verlagen über günstige Lieferbedingungen. Für den Laden gestaltet er eine große Zeichnung mit einem Vierzeiler: Bücherwurm und Leseratte sind wunderbar besoffen - Herr Mehner, der geschlossen hatte, hat endlich wieder offen.

Der Laden läuft. Sorgen, Stress und Schlaflosigkeit gibt es noch, aber Matthias Mehner bekommt wieder Luft.


Sonnabend, 1. März, 2004.

Zehn Monate nach der Entscheidung treffen sich die Hauptakteure wieder im "Casa Plesser". Das Darlehen ist zurückgezahlt. Da war Herr Mehner eigen, obwohl ihn keiner drängte. Nun sitzen sie hier und reden über Gott und die Welt, die große und ihre kleine. Matthias Mehner trinkt Cappuccino, stützt den Kopf auf die Hand und lächelt.

Wenn die kleine Gesellschaft nach draußen guckt, sieht sie ihren Buchladen.


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