Kindeswohl geht vor Elternrecht

Verfassungsauftrag Kinderschutz Das sollte sich eine Demokratie schon noch leisten können

Auf dem "Kindergipfel" kurz vor Weihnachten vereinbarte die große Koalition einen Aktionsplan in Sachen Kinderschutz. Damit seien "Maßstäbe gesetzt" verkündete Kanzlerin Merkel. Gemeint ist ein "Netz der Hilfe", bei dem es verbindliche Einladungen zu Vorsorgeuntersuchungen geben soll. Nicht gemeint und weiterhin umstritten ist die Verankerung des Kinderschutzes als Staatsziel im Grundgesetz.

"Aber natürlich müssen Kinderrechte in die Verfassung. Da gehören sie hin." Für Ursula Hörnlein, Fachmedizinerin für Pädiatrie, ist das keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die niedergelassene Kinder- und Jugendärztin in Berlin nimmt sich Zeit für unser Gespräch über ihre Erfahrungen. Es mache sie traurig, dass immer wieder Kinder vernachlässigt und dadurch sterben würden. Aus ihrer Praxis weiß sie sehr genau, dass einem Kinderarzt schon die ersten Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch auffallen.

"Es ist mein Beruf festzustellen, ob es einem Kind gut geht. Wenn ich Symptome erkenne, die darauf schließen lassen, dass etwas nicht stimmt, dann kümmere ich mich. Dann melde ich das dem Jugendgesundheitsdienst und überweise das Kind in die Klinik. Vor drei Wochen gab es einen solchen Fall - sexueller Missbrauch. Aber nach der Entlassung aus dem Krankenhaus kam das Kind wieder zu den Eltern." Da müsste es klare Richtlinien geben. Für Halbherzigkeiten und Entscheidungsstarre der Politik hat Hörnlein wenig Verständnis. Sie erwarte klare Entscheidungen - alleiniges Kriterium sollte das Wohl des Kindes sein.

In der UN-Kinderrechtskonvention sind die Rechte des Kindes festgeschrieben. 1990 hat Deutschland diese Magna Charta unterzeichnet - 1992 trat sie hierzulande in Kraft. Kinderrechte ins Grundgesetz, das wäre die gebotene Konsequenz nach all den Fällen verwahrloster und getöteter Kinder im vergangenen Jahr - es wäre zudem ein Regulativ, um mit den sozialen, mentalen und moralischen Verwerfungen umzugehen, die Arbeitslosigkeit, Armut, Angst und Gewalt zu verdanken sind. Schlicht gesagt: Kinderschutz ist von der sozialen Frage nicht zu trennen, den Bildungs- und Lebenschancen überhaupt. Das führt keineswegs zur Diskriminierung armer Menschen und ihrer Familien, sondern hilft, Realitäten zu respektieren.

Nicht einmal als Echo

Der viel beschworene Aufschwung kommt in den Armutsbiotopen nicht an, nicht einmal zeitweise, nicht einmal als Echo. Sollten Kinderrechte in der Verfassung verankert sein, dürfte sich daran auch nichts ändern, sehr wohl aber wären damit gesetzgeberische Entscheidungen zugunsten des Kinderwohls beeinflussbar. Kinderrechte als Staatsziel - eine Demokratie sollte sich das schon noch leisten können.

Freilich hält der bayerische Familienminister Singhammer einen derartigen Verfassungsauftrag für nicht praktikabel. Der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, Jürgen Gehb, befürchtet für das Grundgesetz gar die bunte Beliebigkeit eines "Neckermann-Katalogs", in dem nach Tieren und Kindern (!) auch noch der Schutz von "Dicken, Dünnen und Greisen" aufgenommen werde. Sprach der Mann zur FAZ und begab sich ins Weihnachtsfest. Soviel zu Maßstäben. Niemand muss sich darüber wundern: Moral sei "sowieso ein Luxus", gaben 26 Prozent der Befragten in der kürzlich vorgestellten Studie Deutsche Zustände an.

Im nun vorliegenden Aktionsplan zum Kinderschutz erkennt Ursula Hörnlein teilweise das System und Elemente des DDR-Kinderschutzes. Der Vergleich dränge sich auf, denn "man muss nicht noch einmal erfinden, was es schon gab". Wie etwa Beratung und Betreuung von der Schwangerschaft, über die Entbindung und anschließende regelmäßige Säuglingsbetreuung bis zu jährlichen Schuluntersuchungen später. Ganz zu schweigen von der monatlichen Diagnose für jedes Kind in der Krippe und den halbjährlichen Arztvisiten im Kindergarten. Es gab ein Netz von betrieblichen und kommunalen Hilfen, von Kontrollbesuchen in Problemfamilien bis zur behördlichen Vernetzung, wenn es um das Wohl eines Kindes ging.

Kein Haus oder Auto

Das erscheint heute mehr denn je erforderlich angesichts von jährlich cirka 700.000 Kindern, die mit Gegenständen geschlagen werden. Oder von mehr als 72.000 Fällen von Gewalt gegen Kinder im Jahr 2007 - oder von 190 gewaltsam zu Tode gekommenen Kindern. Mit dem "verbindlichen Einladewesen" zu Vorsorgeuntersuchungen, wie dem am 19. Dezember im Kanzleramt vereinbarten Aktionsplan zu entnehmen ist, wird gewiss mehr im Sinne wirksamer Prävention getan. Ob sich das durchsetzt, wird man sehen. "Wenn Eltern nicht wollen, dann kommen sie nicht", sagt Ursula Hörnlein und freut sich trotzdem über den kleinen Schritt. Der größere - hin zum verpflichtenden Arzt-Besuch - wäre ihr lieber, weil sicherer.

Jedes Kind hat ein Recht auf gesundheitliche Fürsorge und Pflege - wie dieses Recht wahrgenommen wird, kann nicht im Ermessen oder Gutdünken der Eltern liegen. Schließlich ist ein Kind nicht das Eigentum seiner Eltern wie ein Haus oder Auto. Vielleicht für manchen schwer zu begreifen, aber Kindeswohl geht vor Elternrecht. Gottseidank.

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