Rock me!

Literatur Statt zukunftsweisender Utopien gibt es jede Woche einen neuen Skandal zu bestaunen: Warum die Literatur es in diesen Zeiten nicht mehr mit der Politik hält

Es gab eine Zeit, in der sich Künstler, Schriftsteller zumal, vehement ins Politische mischten. Dabei war in der Regel klar, wo ihr Herz schlug: nämlich bei der SPD (wenn nicht noch weiter links). Dann kam eine Zeit, in der man sich wunderte, dass die Schriftsteller der Linken fernblieben. Und jetzt ist vielleicht die Zeit angebrochen, in der man sich darüber nicht einmal mehr wundert.

Warum ist das so? Warum sind Initiativen wie die für Frank-Walter Steinmeier, an der sich etwa Julia Franck, Moritz Rinke, Tilman Spengler und Sten Nadolny beteiligen, die Ausnahme geworden? Warum hat Günter Grass mit seinem fast bedingungslosen Eintreten für die SPD und ihre jeweiligen Kanzler(kandidaten) kaum Nachfolger gefunden? Ich versuche es mit einer möglichst einfachen Antwort: Es liegt daran, dass Links nicht mehr rockt. Das klingt, ich gebe es zu, ziemlich unseriös. Aber es stimmt, leider! Und ich will es erklären.

Literatur gedeiht am besten auf Schulterplätzen. Natürlich sucht sie sich dafür Riesen aus. Denn auf den Schultern von Riesen profitiert man von deren Größe, von ihrer Kraft und ihrem Einfluss. Man kann sich, selbst wenn man so ein machtloser Zwerg ist wie die Literatur, sogar noch etwas größer machen als der Riese. Überdies kann man dem Riesen beständig ins Ohr flüstern, man kann seinen Bart zausen und ihm den Kopf waschen.

Die abendländische Literatur war auf den Schultern der Religion groß geworden; in der Auseinandersetzung mit ihr und in der Kritik am religiösen Weltbild hatte sie sich gefunden. Als im 18. Jahrhundert der Riese Religion beständig schrumpfte, verließ sie seine Schultern und suchte sich neue. Es waren zuerst die der Aufklärung, dann die der linken Ideologien. Links rockte.

Engl. to rock: erschüttern, schwanken, schütteln, taumeln, wanken. – So wie die linken Ideologien seit dem 19. Jahrhundert die Welt erschütterten und die alten Ordnungen ins Wanken brachten, so haben sie auch die Literatur beständig bewegt und herausgefordert. Wohin der Riese ging, dahin ging auch der Zwerg: als Lobredner oder als Kritiker, als Parteidichter oder als Sezessionist, Häretiker und Märtyrer. Mal explizit, mal unausgesprochen haben der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts politisch-soziale Konzepte und Utopien der Linken zugrunde gelegen, gelegentlich auch als Feindbilder und Gegenkonzepte gedient. Und selbst diejenige Literatur der Moderne, die keine „Botschaft“ im traditionellen Sinne mehr transportierte, blieb doch implizite politisch; es hatte sich eine Art Junktim zwischen der literarischen Avantgarde und der fortschrittlichen (also linken) Politik gebildet.

Doch am 9.11.1989 ging der Riese in die Knie. Anfangs mochte man noch glauben, es sei nur der real (nicht) existierende Sozialismus in Osteuropa, der sein historisches Versagen habe eingestehen müssen. Doch die folgenden Jahre bewiesen, dass das Politische arg geschrumpft ist – egal welcher Couleur! Optimisten vertrauten damals darauf, dass der ­Export westlicher Lebensformen (sprich: Ökonomie) in den Osten und nach Asien dort westliche Ideale wie die der Freiheit, der Menschenrechte und der Mitbestimmung implantieren würde. Tatsächlich hat sich in den letzten 20 Jahren ein globales Wirtschaftsgefüge etabliert, das zeitweise ohne Rücksicht auf irgendwen tut, was es will. Und die politischen Führungen der einzelnen Staaten, egal ob sie sich noch links oder rechts nennen, stehen der Ökonomie immer machtloser gegenüber. Politik ist, wie die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich gezeigt hat, vielfach zu einem Reparaturbetrieb geworden, der vor Ort die schädlichen Wirkungen dessen zu mildern versucht, was irgendwo anders auf der Welt angerichtet wurde.

Politik, auch linke, agiert heute fern der Utopien, durch die sie einmal mit der Literatur kommuniziert hat. Sie ist notgedrungen auf eine kleinschrittige Tagesarbeit konzentriert, deren Aufgaben immer anderswo diktiert werden. Folgerichtig geht den politischen Parteien ihre Trennschärfe und damit ihre Kenntlichkeit zunehmend verloren, worunter die Linke ganz besonders leidet. Politisches Denken in gesellschaftlichen Entwürfen prägt nicht mehr länger das Individuum als Bürger. Zurückgeworfen auf schier ökonomische Interessen mutiert die Bürgerschaft vielmehr zu einer Konsumentenschaft, die allenfalls noch ein letztes gemeinsames Interesse hat, nämlich dies: möglichst alles als Schnäppchen zu bekommen. Folgerichtig ist die Literatur, zumeist heimlich und beschämt, von den Schultern der Politik herabgestiegen. Auf den Schultern von Zwergen sind Zwerge nicht viel besser erkennbar oder hörbar. Natürlich verwaiste dabei insbesondere die Linke.

Und wo sind sie angekommen, die Schriftsteller? Auf dem Boden einer Mediendemokratie, besser: in einer Talk- und Quoten- und Umfragekultur, die schon allein durch ihre Geschwindigkeit noch den kommunikativ alertesten Dichter abhängt. An die Stelle der früheren – und weiß Gott auch oft genug lähmenden – Grundsatzdiskussionen über die richtige Gesellschaftsordnung ist eine Praxis der Ad-hoc-Skandalisierung einzelner politischer Ereignisse getreten. Jede Woche ein Skandal, eine schnelle Reaktion, eine personelle Umbesetzung, ohne dass ein politischer Zusammenhang erkennbar würde.

Für den Entwurf, geschweige denn die Realisierung eines großen Ganzen bleibt ja auch bei bestem Willen keine Zeit mehr. Politik hat heute einen so kurzen Atem, weil Bettina Schausten, die Phytia der Quoten, in immer kürzer werdenden Abständen die allein noch relevanten „Trends“ verkündet, an denen man sich orientiert. Hier können Schriftsteller nicht mehr mitreden. Geschwindigkeit ist nun mal nicht ihr Ding.

Und ein weiteres ist ihnen fremd. Literatur weiß nicht, wie man zu Konsumenten spricht. Noch immer ist dem Schriftsteller die Vorstellung eingepflanzt, sein Thema sei stets das große Ganze, die conditio humana, die Vorstellung vom rechten Leben. Und für solche Vorstellungen will man – wie früher die politischen Parteien – Mehrheiten, wenn nicht gar gleich alle gewinnen. Jeder Roman ist für die Menschheit geschrieben, nicht für „Zielgruppen“.

Doch zeitgenössische Politik, auch linke, arbeitet heute für Konsumenten in wechselnden Interessensgruppen. Und jeder Konsument pflegt sein eigenes autonomes Weltbild, in das er sich weder von der Politik noch von ihren Schulterhockern hineinreden lässt. Man lebt für sich und tut sich nur noch fallweise zusammen, um Mengenrabatte zu nutzen. Folglich kann der Dichter nicht mehr Seit an Seit mit den gegenwärtigen Politikern gehen, die sich in der Zielgruppenversorgung aufreiben. Denn zumindest einer von beiden wandelt nicht mehr „auf der Menschheit Höhen“ (Schiller), und ganz gewiss sprechen die beiden nicht mehr die gleiche Sprache.

Klinge ich eigentlich bitter? Ja. Und wünsche ich mir die Zeit der überschaubaren Volkswirtschaften und der großen ideologischen Auseinandersetzungen zurück? Eine Zeit, in der ein realer Kniefall vor einem Mahnmal eine dramatische Szene war und der Dichter das Lied der Partei singen konnte. Eine Zeit, in der es etwas bedeutete, wenn mich ein Spitzenpolitiker nach Hause eskortierte. – Die Antwort lautet eindeutig: nein!

Denn ich darf mir das nicht wünschen. Jedes Zurück ist bloß Folklore. Der Zeitgeist hat das Junktim von literarischer Avantgarde und fortschrittlicher Politik ad acta gelegt. Ich muss vielmehr daran arbeiten, der Literatur, will ich sie nicht als Zwerg am Boden verkommen lassen, einen neuen Riesen zu suchen; einen Riesen, von dessen Schulter aus sie wirken kann. Sicher wird das nicht die entfesselte globale Ökonomie selbst sein. Bewahre! Aber es muss eine Kraft sein, die unsere Welt, deren einzige Grundlage das Wirtschaften zu werden droht, wieder zu erschüttern wissen. Mit einem Wort: Ich muss als Schriftsteller dahin, wo es rockt.

Einstweilen bin ich noch auf der Suche.

Burkhard Spinnen, geboren 1956 in Mönchengladbach, lebt als freier Schriftsteller in Münster. Im Frühjahr erschien von ihm das Kinderbuch Müller hoch drei

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