Sie haben ja ein Loch in ihrer Strumpfhose“, sagt er und senkt den Blick auf ihre Oberschenkel, lässt ihn dort ruhen. Das Loch ist ganz schön weit oben, es ist nur zu sehen, weil der Rock im Sitzen ein Stück nach oben rutscht. „Hat Sie dort ein Vampir gebissen?“, sein Ton ist ölig geworden, und Sarah Liedtke merkt, wie sie rot wird. Der Mann lacht, genießt die Verunsicherung, die er bei ihr auslöst. Er ist ihr Professor, sie hat eine Stelle als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl.
Noch vor ein paar Wochen hat er ihr in einer mündlichen Prüfung eine sehr gute Note gegeben. Als er sie anschließend fragt, ob sie mit ihm einen Kongress organisieren möchte, wertet sie das als fachliche Anerkennung und nimmt die Stelle an
Stelle an. Nun zweifelt sie: Wollte er mich nur, um sich an mich ranmachen zu können?Sarah Liedtke heißt eigentlich anders. Der Professor ist inzwischen Dekan – und Sarah Liedtke kein Einzelfall. An der Humboldt-Universität zu Berlin gibt es deswegen jetzt eine Kampagne gegen sexuelle Belästigung und einen Empowerment-Workshop für Frauen. Auf einer Podiumsdiskussion redet sogar der Präsident der Universität.Wo liegt die Grenze?Bei einer europaweiten Online-Befragung von Studentinnen im Rahmen des EU-Projekts gendercrime.eu gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, während ihres Studiums sexuelle Belästigung erlebt zu haben. Auch der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist das Thema vertraut. Die Fälle reichen von Anzüglichkeiten und unerwünschten Einladungen bis zu Übergriffen und Vergewaltigungsdrohungen von Professoren. Sexuelle Belästigung findet sich an jedem Arbeitsplatz. Vor allem aber dort, wo das Machtgefälle zwischen den Statusebenen besonders groß ist und die Chefs männlich sind. Das ergab eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Und es trifft auch auf die Uni zu: Sie ist ein sehr hierarchisch strukturierter Raum – und ein männlich dominierter.Nach der Vampirbiss-Unterhaltung achtet Sarah Liedtke genauer auf des Verhalten ihres Professors. Er lädt sie mittags oft zum Essen ein. Meist besprechen sie Berufliches. Nicht immer. Er erzählt ihr von einem Film, der ihn sehr bewegt hat – es geht um eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau. Dann beginnt er sie zu fragen, ob er sie nicht einmal abends „schick zum Essen ausführen“ dürfe. Irgendwann war eine Grenze überschritten worden, denkt Sarah Liedtke. Nur wann?Hätte ich irgendwann deutlicher nein sagen müssen?, fragt sie sich. Habe ich ihm womöglich suggeriert, die Anziehung beruhe auf Gegenseitigkeit? Sarah Liedtke beginnt, ihre eigene Wahrnehmung zu relativieren, denn die Übergänge zwischen einem guten Betreuungsverhältnis und einem Flirt sind häufig fließend.Aber was hat sich der Professor eigentlich zuschulden kommen lassen? Sexuell belästigt fühlt sich Sarah Liedtke eigentlich nicht. Dennoch haben die Avancen ihres Professors sie in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. Als er die Option einer Promotion in den Raum stellt, schiebt sie den Gedanken sofort beiseite. Sie kann das Angebot nicht einmal mehr als fachliche Auszeichnung anerkennen.Zu Beginn dieses Jahres, als die Anzüglichkeiten des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich landauf, landab in den Medien diskutiert wurden, empörten sich viele Männer: „Man wird doch noch flirten dürfen.“ Natürlich darf man das. Aber eben nicht überall – dort etwa, wo Hierarchien Abhängigkeiten erzeugen. Ohne Zweifel stehen Professor und Studentin in einem Machtverhältnis: Der Professor hat einen unerschöpflichen Fundus an Studentinnen, aus dem er immer neue Hilfskräfte rekrutieren kann. Die Studentin interessiert sich vielleicht für seinen Forschungsschwerpunkt. Ihren Professor kann sie also nicht so einfach auswechseln. Karriereschädigend ist die Scham erzeugende Grenzüberschreitung demnach vor allem für sie.„Besonders häufig kommt es zu dieser subtilen Form der sexuellen Belästigung in Studiengängen mit vielen Frauen und einem großen Selektionsdruck“, sagt Susanne Plaumann, stellvertretende Frauenbeauftragte der Technischen Universität Berlin. Studentinnen seien besonders häufig Opfer sexueller Belästigung: Sie seien jung, auf Förderung durch den (immer noch meistens männlichen) Dozenten angewiesen und meist nur kurzzeitig beschäftigt.Im Kampf um Anerkennung an einer anonymen Uni oder in großen Fachbereichen ist das Hinübergleiten auf die Flirt-Ebene schnell passiert. Und selten wird es von beiden Seiten gleich interpretiert. Oft verschwimmen die Formen der Anerkennung – die fachliche und die private. Oft empfindet die Studentin eine Einladung zum Kaffee also durchaus als positives Signal. Ihr Professor nimmt sich Zeit für sie, er hat Interesse an ihrer Person – und sicher, Kompetenz ist sexy.Hier zeigt sich die Ambivalenz des Hierarchie-Flirts: Es ist schwer, die Grenze zu definieren, bei deren Überschreitung aus Sympathiebekundungen auf einmal Machtdemonstrationen werden.Einige Frauenbeauftragte äußeren im Gespräch die Vermutung, dass derlei Grenzüberschreitungen in den Geisteswissenschaften häufiger vorkommen als in den Naturwissenschaften. Verlässliche Zahlen gibt es dazu nicht. Nur Erfahrungswerte. Doch sie leuchten ein, wenn man bedenkt, dass der Austausch in der Kunstgeschichte, der Philosophie oder der Germanistik stärker als in anderen Disziplinen auf einer von persönlichen Vorlieben geprägten Gesprächskultur gründet. Kurz gesagt: Die fachliche Anerkennung ist nicht immer scharf von einer privaten abzugrenzen. Schließlich geht es bei intellektuellen Fachfragen immer auch um Haltungen.Aber wie geht man als Studentin damit um? Den Flirt des Professors zu thematisieren, war für Sarah Liedtke keine Option. Einmal ausgesprochen, hätte die Grenzüberschreitung wirkmächtig zwischen ihr und dem Professor gestanden, und beide hätten sich dazu verhalten müssen. Er wäre vermutlich peinlich berührt gewesen, hätte seine Avancen vielleicht noch nachdrücklicher formuliert. „Ich hätte dann nicht weiter für ihn arbeiten wollen“, sagt sie. Und so findet sie immer neue Ausreden, nicht mit ihrem Chef abends essen zu gehen, versucht, nicht mit ihm allein zu sein.Sich an die Frauenbeauftragte ihrer Uni zu wenden, kommt Sarah Liedtke nicht in den Sinn. Sie wüsste nicht, wie sie das Geschehene benennen sollte. Sexuelle Belästigung erscheint ihr zu drastisch. Einen Begriff für eine Anmache in Abhängigkeitsbeziehungen gibt es nicht. „Es gibt eine große Dunkelziffer“, sagt auch Christine Lüders von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Die europaweite Online-Befragung von Studentinnen im Rahmen des eingangs zitierten EU-Projekts ergab, dass Studentinnen dazu neigten, Vorfälle zu bagatellisieren.Ein Blick in die USAHeute, das Arbeitsverhältnis ist schon gut ein Jahr beendet, spricht Sarah Liedtke ihren Professor auf sein damaliges Verhalten ihr gegenüber an. Nein, er wolle normalerweise nicht mit seinen Studentinnen abends essen gehen, sagt er. Dann gibt er offen zu: „Du faszinierst mich.“ Sarah Liedtkes Professor hat sich keine Gedanken gemacht. Nicht über das Abhängigkeitsverhältnis, nicht über die Hierarchie zwischen ihnen, nicht über die Macht, die er als Chef über sie hatte.„Ich wollte dich besser kennenlernen, nicht nur auf einer professionellen Ebene, auch privat,“ sagt er. Aber er hat sich nicht gefragt, ob sie die Möglichkeit gehabt hätte, seine Offerte abzulehnen. Als Sarah Liedtke ihn darauf hinweist, wird ihm das Gespräch sichtlich unangenehm. „Dein Vertrag lief schließlich nur ein halbes Jahr“, verteidigt er sich. Dass sie eine mögliche Promotion bei ihm ausschloss, tut ihm leid. „Aber du hattest doch sowieso anderes vor“, wischt er den Gedanken beiseite.Natürlich machten auch männliche Studierende diese Erfahrungen, meistens, sagen die zuständigen Antidiskriminierungsstellen, seien jedoch Frauen betroffen. Vermutlich weil immer noch 80 Prozent der Professoren Männer sind. Und weil viele Männer nach wie vor nichts dabei finden, am Arbeitsplatz mit ihren weiblichen Angestellten zu flirten oder privaten Austausch anzuregen.Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick in die USA. Dort herrscht im Bewusstsein männlicher Chefs eine weit größere Sensibilität für das Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – auch für ihre subtilen Formen wie das aufdringliche Verteilen von Komplimenten oder das Aussprechen von Einladungen. Und es gibt in den Staaten die oft genutzte Praxis, derlei Grenzüberschreitungen juristisch zu ahnden.Mit dem Bewusstsein, dass es rechtliche und damit berufliche Konsequenzen hat, wird ein Professor es sich genau überlegen, ob er seine Rolle als Vorgesetzter leichtfertig verlässt. Angst vor einer möglichen Kündigung würde vielleicht auch in Deutschland dazu führen, dass sich Professoren ihrer Machtposition, die sie als Lehrende, Chefs und Prüfer über ihre Studierenden haben, bewusster werden.
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