Wenn Sandra Krautwaschl einkauft, wirft ihr die Verkäuferin den Käse mit Schwung entgegen – hinein in die Edelstahldose, die aus Hygienegründen nicht hinter die Theke darf. Wenn Krauwatschl sich die Zähne putzt, verwendet sie keine normale Zahnbürste und Zahncreme, sondern eine Bürste aus Holz und ein Pulver aus Birkenzucker. Und das sind nur zwei kleine Beispiele: Krautwaschl, ihr Mann Peter Rabensteiner und ihre Kinder leben seit fast drei Jahren ohne Plastik.
Es ist ein Traum, den heute viele Menschen träumen, wenn sie im Fernsehen Reportagen und Dokus über Plastik sehen oder in der Zeitung von den gesundheitlichen Folgen des allgegenwärtigen Materials lesen: Müllteppiche in den Ozeanen, winzige Kunststoffkörner am Urlaubsstrand oder die ewig überquellende Tonne für Verpackungsabfall – Plastik überschwemmt unseren Planeten in einer Weise, die kaum noch zu ignorieren wäre, wenn man als Plastikgegner nicht vor dem Problem stünde, dass ein Leben ohne diesen Stoff kaum noch möglich erscheint.
Auch Krauwatschls Familie war deshalb bescheiden: Einen Monat lang wollte die Familie auf Kunststoff verzichten. Sie kaufte Lebensmittel konsequent plastikfrei im Biomarkt oder auf dem Bauernhof, entsorgte sämtliche Plastik-Utensilien aus Bad, Küche, sogar aus den Kinderzimmern: kein Lego mehr, auch keine Puppen. Aber die befürchtete Rebellion blieb aus. Eigentlich fehle ihnen ja nichts, stellte Tochter Marlene am Ende des Monats fest. Also machte die Familie weiter. Inzwischen sieht Sandra Krautwaschl in den Einkaufsläden immer öfter auch Gleichgesinnte mit Stofftaschen und eigenen Dosen. Bricht da ein Zeitenwandel an?
Als der gebürtige Belgier Leo Hendrik Baekeland es vor 105 Jahren schaffte, den ersten Kunststoff herzustellen, war der Jubel noch groß gewesen. Viele Chemiker waren vor ihm an der Aufgabe gescheitert, einen Stoff zu synthetisieren, der alle idealen Eigenschaften eines Materials vereint: formbar, leicht, bruchfest, hitzebeständig, nicht leitfähig, billig und mithin in großen Mengen herstellbar. Einen Wunderstoff.Baekeland fand ihn, als er Phenol in Formaldehyd in einem Kessel erhitzte. Mit dem richtigen Druck und der richtigen Temperatur entstand eine zähflüssige Masse, die zu beliebigen Formen erstarrte. Und schnell Einzug in die Wohnungen fand: Rundfunkgeräte, Telefone und Toilettenbrillen wurden bald aus sogenanntem Bakelit gefertigt. An die Folgen dachte damals niemand. Plastik war die Lösung, und nicht das Problem.
Fast universell einsetzbar
Das hing nicht zuletzt mit seinem Grundstoff zusammen: Die wichtigste Basis fast aller modernen Kunststoffe ist Erdöl, ein zunächst komplexes Gemisch von Kohlenwasserstoffen, die durch „Fraktionieren“ in reine Substanzen getrennt und etwa durch Cracken in die gewünschten Ausgangsstoffe verwandelt werden können. Aus Öl entsteht so zum Beispiel Ethlyen – ein Gas aus recht kleinen Molekülen, aus denen sich aber chemische Ketten, sogenannte Polymere, bilden lassen. Aus Ethylen wird Polyethylen (PE) – einer der wichtigsten Kunststoffe überhaupt.
Polyethylen ist zäh, preiswert, es leitet keinen Strom und lässt sich durch Erhitzen jederzeit verformen. Kein Wunder, dass der milchig weiße Stoff fast universell einsetzbar ist: für Einkaufstüten, Folien, Flaschen, Getränkekisten und Mülltonnen. Neben den Thermoplasten, zu denen Polyethylen gehört, gibt es die Duroplaste (Bakelit) und Elastomere (Kautschuk). Eingesetzt werden sie je nach den Ansprüchen der Fertigung und Verwendung. Von PVC bis Nylon, von Polythylen bis Plexiglas, von Silikon bis Teflon hat heute jeder Lebensbereich sein eigenes Plastik. Mit der Gesamtmenge des bislang hergestellten Plastiks, ließe sich die Erde schon sechsmal einpacken. 144 Milliarden PET-Flaschen werden inzwischen pro Jahr produziert. Innerhalb von zehn Jahren ist der Verbrauch von Verpackungen in Deutschland um das Doppelte gestiegen. Längst ist dabei klar, dass man einmal hergestelltes Plastik nur noch schwer loswird. Die meisten Kunststoffe lassen sich biologisch nicht abbauen, also landen sie auf Deponien, werden verbrannt oder verschwelt, mit entsprechender Klima- und Umweltbilanz. Zwar legt die Politik immer mehr Wert auf Recycling. Plastik, das tatsächlich wieder zu Plastik verwertet wird, macht dem BUND zufolge aber etwa nur ein Drittel der Gesamtmenge aus. Damit das noch zunimmt, will Umweltminister Peter Altmaier bis 2013 die Wertstofftonne einführen. In die kommen weiterhin Verpackungen, alle Kunststoffe und Metalle. Sieben Kilogramm an Abfall pro Kopf und Jahr ließe sich zusätzlich wiederverwerten, rechnet das Ministerium vor.
Der Haken aber ist: Der Großteil an Plastikabfällen besteht aus unterschiedlichen Kunststoffen, die sich schlecht trennen lassen. Und selbst wenn Kunstoffe recycelbar sind, kostet das Energie, und das Material verliert an Qualität. Aus den meisten Kunststoffen wie PET-Flaschen lassen sich nur noch verkürzte Fasern gewinnen – etwa für Fleece-Pullover. Mehr als ein-, zweimal Wiederverwertung ist in den seltensten Fällen möglich. Dieses „Downcycling“ endet fast immer damit, dass der Kunststoff doch verbrannt wird oder in Deponien, auf Freiflächen oder im Meer landet – wie im Pazifik, wo zwischen dem amerikanischen Festland und Hawaii ein Plastikteppich von der Größe Mitteleuropas schwimmt. Hinzu kommen die lange unbekannten Risiken in der Herstellung, vor allem durch Weichmacher wie der Chemikalie Bisphenol A, die Sexualhormone nachahmt – und dadurch unfruchtbar und dick machen soll (siehe der Freitag Nr. 12/2012).
Von alledem hatte Sandra Krautwaschl gehört, als sie sich im Kino den Film Plastic Planet ansah. Da fielen ihr auch wieder die Bilder aus dem Urlaub in Kroatien ein: An den Stränden hatte sich der Müll zu Bergen gehäuft. Noch am Abend des Kinobesuchs beschlossen ihr Mann und sie, auf Plastik zu verzichten. Auch im neuen Abfallgesetz, das seit dem 1. Juni in Kraft ist, steht die Vermeidung vor der Verwertung. „An der Müllvermeidung besteht aber nicht das geringste Interesse“, sagt Susanne Rotter, die an der TU Berlin den Bereich Abfallwirtschaft leitet. Denn ein ganzer Industriezweig habe sich auf Abfallentsorgung und Wiederverwertung spezialisiert. „Die Vermeidung hat keine Lobby“, sagt Rotter. Ähnlich sieht es mit der Verknappung aus: Von Rohstoffmangel kann trotz Ölkrisen keine Rede sein. „Wir sind noch nicht am Punkt, an dem Rohstoffe so knapp sind, dass die steigenden Konsumraten nicht mehr bedient werden können“, sagt die Abfallexpertin.
Bis 2013 muss die Bundesregierung Programme zur Abfallvermeidung auflegen, schreibt die EU-Kommission vor. Im aktuellen Bundesgesetz stehen bereits ein paar Beispiele: Verbrauchern sollen mehr Anreize geboten werden, umweltfreundlich zu konsumieren, auch wird über einen Aufpreis für Verpackungsartikel nachgedacht. Susanne Rotter findet, man müsste schon viel früher ansetzen. Dann nämlich, wenn das Produkt noch als Idee in den Köpfen der Entwickler besteht. Produktdesigner und Abfallbeseitiger müssten endlich zusammenarbeiten. So ließe sich auf unnötiges Verpackungsmaterial verzichten. „Vermeidung muss kein Verzicht sein“, sagt sie. „Der Kunde will eine Funktion haben, nicht die Masse des Gegenstands.“
Während im Abfallgesetz Ideen von Ökodesign über Ökoindikatoren bis zum Ökozeichen herumschwirren, kümmert sich Michael Braungart längst um die Umsetzung. Der Chemiker und Unternehmer hat das „Cradle-to-Cradle“-Verfahren entwickelt. Der Grundgedanke: Wie lassen sich Produkte herstellen, ohne dass Müll entsteht? Dazu teilt Braungart die Abfälle in zwei Kategorien ein: Idealerweise gelangen alle Verschleißprodukte wie Autoreifen, Schuhsohlen oder Waschmittel in den biologischen Kreislauf – sie enden als Erde oder Kompost. Elektronik wie Computer, Fernseher oder Waschmaschinen gelangen wiederum in den technischen Kreislauf: Sie werden mit weniger Kunstoffteilen so produziert, dass sich all ihre Einzelteile zerlegen und zu neuen Produkten verwerten lassen. Der Kunde leiht sich die dann gewissermaßen aus und gibt die Einzelteile dem Hersteller zurück, wenn das Produkt ausgedient hat.
Von Limburg lernen
So produziert der Sportartikelhersteller Trigema Oberteile, die kompostierbar sind. Der amerikanische Möbelhersteller Herman Miller baut Stühle, die laut Herstellerangaben in fünf Minuten in ihre Einzelteile zerlegt werden können und sich zu 99 Prozent wiederverwerten lassen. Ganz der Cradle-to-Cracle-Idee verpflichtet hat sich die niederländische Provinz Limburg, wo Familienbetriebe und Großunternehmen ganz auf Produktionskreisläufe setzen (siehe der Freitag 22/2011).
NABU-Umweltexpertin Indra Enterlein bezweifelt jedoch, dass sich die Kreisläufe ganz schließen lassen. Den Ansatz von der Wiege zur Wiege findet sie zwar charmant, weniger aber das Plädoyer für einen unbegrenzten Konsum. Mit reinem Gewissen könne jeder verschwenderisch einkaufen, argumentiert Braungart, denn in Zukunft ließen sich Produkte immer wieder neu verwerten. Auch Sandra Krautwaschl sieht das skeptisch. Ihr Motto lautet vielmehr: Weniger ist mehr. Kleidung kauft sie inzwischen aus zweiter Hand, die der Kinder tauscht sie mit Bekannten. Vor Kurzem hat sich die Familie ein Auto gekauft, nachdem sie monatelang ohne gelebt hatte. Das aber teilt sie mit Bekannten im Nachbardorf. „Im Großen und Ganzen ist es jetzt ausgereizt“, sagt Krautwaschl.
Anfangs erteilten sie sich auch für die Wasch- und Spülmaschiene ein „Benutzungsverbot“. Aber das Waschen und Spülen per Hand raubte Krautwaschl zu viel Zeit, die Geräte wurden wieder eingeschaltet. Auch die Plastikringe unter den Flaschenverschlüssen, die Skijacke für Tochter Marlene oder die Plastikregler an den Elektrogeräten toleriert die Familie. Zu dogmatisch wollen sie ihren Plastikverzicht auch nicht betreiben.
Ohnehin komme es ihr auf etwas anderes an. Durch das Experiment sei ihr bewusst geworden, wie viele überflüssige Dinge sie besitze. „Welcher Gehirnwäsche wir da unterliegen: Wir müssen immer weiter konsumieren, ständig Dinge kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen“, sagt Krautwaschl. Der Plastikverzicht bedeutet Entschleunigung: Früher machte sie häufig im Supermarkt halt, schmiss ein paar eingeschweißte Produkte in den Einkaufswagen, um davon etwas zu Hause in der Mikrowelle aufzuwärmen. Jetzt fährt Sandra Krautwaschl mit dem Rad zur Arbeit, auch um einzukaufen. Bis sie ein Gericht zubereitet hat, dauert es heute eben länger. Abends spazieren ihr Mann Peter und die 12-jährige Tochter Marlene die 800 Meter zum Bauern, wo sie zwei Milchflaschen aus Glas auffüllen.
Krautwaschl überprüft jetzt häufiger, was sie wirklich machen will und was nicht, was sie wirklich braucht und was nicht. „Ich habe wieder ein Tempo aufgenommen, das dem Menschen entspricht“, sagt sie. An ihrem alten Leben vermisst sie eigentlich nur eines so richtig: die Kartoffelchips. Aber auch wenn die Verlockung groß ist, die Plastikverpackung ist Tabu.
Von Sandra Krautwaschl ist jetzt das Buch Plastikfreie Zone (Heyne) erschienen. Sie betreibt darüber hinaus das Blog kein Heim für Plastik , in dem sie ihr Experiment dokumentiert
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