"Es war eigentlich nicht geplant, das Internet-Projekt Anthologie der Kunst auch noch auszustellen", bemerkt Jochen Gerz beim Rundgang durch den Hallenbau des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Überwältigt wird der Betrachter von der schieren Masse der Beiträge, Antworten auf die Frage: "Was könnte, angesichts Ihrem Bild der Kunst heute, eine noch unbekannte Kunst sein?" Wie Mosaiksteine ließ der Künstler, der schon lange nicht mehr selbst Hand anlegt, die 312 Beiträge an 15 Orten des 300 Meter langen Gebäudekomplexes verteilen, der neben dem ZKM die Städtische Galerie und die Hochschule für Gestaltung beherbergt. Oftmals können die quadratischen Felder, auf denen Texte oder Bilder zu sehen sind, gar nicht vor Ort entziffert werden, sondern dienen als Anreiz, sich selber Gedanken zu machen oder aber das Archiv im Internet aufzusuchen.
Dabei wären die sehr unterschiedlichen Statements auch Häppchenweise zu haben gewesen. Das Internet-Projekt startete 2001 für ein Jahr, nachdem Gerz als Honorarprofessor der Hochschule der Künste in Braunschweig die Möglichkeit dazu erhielt. Er wählte sechs Theoretiker und sechs Künstler aus, die auf die Frage nach einer noch unbekannten Kunst antworten sollten. Diese wiederum wählten jeweils einen neuen Autor aus. Während dieser 26 "Generationen" von Teilnehmern waren immer nur die jeweils aktuellen Beiträge verfügbar.
Gerz´ "plurales" Werk" ist abgesichert von geballter Theorie, dem französischen Strukturalismus, Foucault, Guattari Deleuze: Der Tod des Autors, der Diskurs als ästhetische Form, das Werk als unabgeschlossener Prozess, das Bild als lesbare Schrift - all diese Ideen werden eingelöst. Es ist also nicht zu rütteln an der Legitimation dieser unsinnlichen, schwer lesbaren Wort- und Bildkaskade. Wer sich überfordert fühlt, kann ja in Ruhe die schöne Dokumentation zur Hand nehmen und Nachhilfeunterricht nehmen. Dort sind einige Beispiele der Diskurse der Hilflosigkeit zu finden, aber auch originelle Beiträge, die sich den Vorschriften des neuen Denkens entledigen oder sie spielerisch anwenden.
Jordan Crandall meint, vielleicht würden "unerwartete Erlebnisse, simple Vorkommnisse wie ein Unfall, die im Gedächtnis haften bleiben und beim Nachdenken außergewöhnlich komplex werden", ästhetische Qualität gewinnen. Sina Najafi verordnet der zeitgenössischen Kunst "zehn Klistiere". Sie fordert die Anonymisierung der Kunstwerke und Kritiken, das Verbot von Rezensionen in Kunstzeitschriften, die Anzeigen abdrucken, und die Begrenzung von Produktionskosten für Kunstwerke, um das "Aufblähen von Kunst" zu stoppen. Außerdem sollen Künstler eine Kritik pro Jahr schreiben und Kritiker ein Werk pro Jahr schaffen. Adela Vaetesi geht so weit, dass in Zukunft "nicht das künstlerische Objekt selbst, sondern der auf das Objekt bezogene Text" zur Kunst wird.
Vielleicht ist es schon so weit. Dafür spricht die Dominanz der Texte in dem Mosaik, obwohl genauso viel bildhafte Statements vorhanden sind. Einprägsam ist Jackie Changs Werbung Bohemian, die einen mit Marcel Duchamps "Rad" tätowierten männlichen Oberarm zeigt. Zahlreiche Fotoarbeiten brillieren durch schnelle Deutbarkeit, grafische Monatagen imitieren Science Fiktion. Klar und rätselhaft zugleich ist der Beitrag von Jo-Ey Tang, der einen unter der Tür durchgeschobenen Brief fotografiert hat, der aber merkwürdigerweise die Innenseite, das Futter, zeigt, so dass fraglich ist, ob überhaupt etwas darin ist.
Vielleicht ist es müßig, die Beiträge zu bewerten, doch gelangt der Leser so zu einem eigenen Standpunkt und wird selbst zum Autor. Auch andere Aspekte des gesamten Projekts geben zu denken. So verzichtete Gerz auf Hierarchien. "Wo hat Enwezor, der Leiter der letzten Documenta, das Adressbuch erhalten", fragte Gerz in Karlsruhe vor Journalisten. "In Kassel natürlich", findet er und will damit belegen, wie bedeutsam solche Kontexte sind. In der Anthologie kommen nur wenige bekannte Namen vor. Aus Deutschland wurde Verena Kuni ausgewählt, Susanne von Falkenhausen und Rosemarie Trockel. Die meisten Teilnehmer kommen aus New York, auch wenn sie anderer Abstammung sind. Obwohl das Internet, den Zugang zum entferntesten afrikanischen Staat möglich machte, leben fast alle Künstler in internationalen Zentren. Solche und andere Überlegungen machen deutlich, wie begrenzt die Kunstöffentlichkeit trotz demokratischer Medien ist, wenn große Projekte von einer einzelnen Person dirigiert werden.
"Es gibt Wichtigeres, als die Wahrheit über die Kunst zu erfahren", meint Gerz. Und die ganze Runde nickt beseligt. Die schwerste aller Fragen ist aus dem Weg geräumt. Es gibt nur Bedingungen, Kontexte, Haltungen. Da passiert es, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Auf der Rückseite des Kataloges ist ein schönes Zitat von Land-Art Künstler Robert Smithson zu finden: "Eine unbekannte Kunst? Um mich herum sehe ich nichts anderes als das Unbekannte."
Jochen Gerz: Anthologie der Kunst. Städtische Galerie Karlsruhe beim ZKM. Noch bis zum 7. August. Im Frühjahr 2006 ist die Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen. www.anthology-of-art.net. Katalog, Dumont, Köln 2005, 384 S., 48 EUR
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