VON DER KUNST ZUR POLITIK Eine Ausstellung im Badischen Kunstverein erinnert an Chris Reinecke und die Utopie der kollektiven Kunst in den sechziger Jahren
Aus parteipolitischen Gründen wird gerne in der Vergangenheit der 68er gewühlt: Nun steht die ganze Bewegung auf dem Prüfstand. Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer rechnete in der Zeit mit der halbgaren Haltung der damaligen Studenten und heutigen Professoren ab, und verdammte noch schnell die Konzeptkunst als leere, fantasielose Phrase. Dennoch, Herr Bohrer, beziehen sich sehr viele Künstler weiterhin auf die sechziger Jahre, auf Minimal Art und Konzeptkunst, auf Performance und, wie beispielsweise die österreichische Gruppe Wochenklausur, auf die Intervention in den Alltag. Chris Reinecke gehörte zu den Pionierinnen einer solchen Gegenkunst. Doch während die Kinder der '68er-Bewegung die Hinwendung zum Sozialen als Strategie nutzen, um sich w
gie nutzen, um sich weiterhin als Künstler zu positionieren, verlor Chris Reineke das eigene Werk lange Zeit aus dem Blick. Sie machte keine Kompromisse. Ihre Radikalität in dieser Sache war beispielslos. Der Badische Kunstverein dokumentiert ihren bemerkenswerten Weg von der Kunst zur Politik.Karlsruhe gehörte zu den Orten, die 1968 unversehens in den Bann der Bewegung gerieten. "Lidl übernimmt die Akademie" verkündete ein Spruchband über der Einfahrt der Staatlichen Akademie. Zuvor war der ASTA geschlossen zurückgetreten, weil die in Aussicht gestellte Mitbestimmung der Studenten nicht eingelöst worden war. An die Wände gemalte Parolen wie "Altersheim für Professoren" und "Die Akademie den Studenten" ließen keinen Zweifel am Unmut der angehenden Künstler. Ein Stein landete im Fenster des Rektoratszimmers. Die Polizei rückte an. Chris Reinecke gehörte mit Jörg Immendorff zum aus Düsseldorf gerufenen Lidl-Team, das die Absetzung der Professoren klarer formulierte als die Karlsruher Malergemeinde. Die im Lichthof veranstalteten absurden Aktionen Immendorffs fanden jedoch laut zeitgenössischen Presseberichten wenig Anklang. Dennoch fuhr Professoren wie Horst Antes oder Georg Meistermann und dem Rektor Hans Kindermann der Schreck in die Glieder. Noch heute wird in der Akademie kolportiert, dass einmal ein Rheinländer auf den Tisch des Rektors geschissen habe. Faktisch blieb die Aktion ohne Konsequenzen: Der Bildhauer Kindermann blieb bis zu seiner Pensionierung 1971 im Amt.Lidl heißt soviel wie Dada, ist ein lautmalerischer Begriff, der symbolisch steht für "das Offensein nach allen Seiten". Die Politik kam später. Die 1939 in Potsdam geborene Chris Reinecke hatte bereits in Paris Malerei studiert, als sie 1965 an der Düsseldorfer Akademie den neun Jahre jüngeren Jörg Immendorff kennenlernte. Karl-Otto Götz und Gerhard Hoehme sind zwar liberaler als die Pariser Vertreter des Aktstudiums, vermittelten aber auch keine Perspektive. Die Akademie befand sich im Umbruch: Joseph Beuys förderte die Fluxusbewegung, arbeitete selbst an der Erweiterung des Kunstbegriffs. Reinecke und Immendorff ließen sich anstecken, kreierten ihren Austritt aus der Kunst. "Wir wollten heraus aus den Institutionen und unsere eigene Akademie gründen, in der wir ganz frei umgehen konnten, mit uns und unseren Besuchern, Studenten oder Schülern", sagt sie heute über ihre Beweggründe.Dazu gehört Reineckes Utopie einer kollektiven Kunst. Vorläufer der Lidl-Aktivitäten war der Aktionsabend "Frisches", den Reinecke und Immendorff 1966 noch in ihrer Privatwohnung veranstalteten. An der Wand hing ein Lattengerüst, auf dem sieben Körperfragmente aufgehängt waren, die von den Besuchern beliebig zusammengestellt werden konnten. Heute prominente Künstler waren eingeladen: Beuys, Franz Erhard Walther, Nam June Paik und Charlotte Moorman. Im Frühjahr 1968 eröffnete das Paar den "Lidl-Raum", ein Tanzraum in Düsseldorf, ebenerdig, sehr häßlich, aber sehr brauchbar, mit Schaufenster zur Straße hin.Im Lidl-Raum hielt Reinecke so genannte "Appetizer" bereit, wie Flugblätter konzipierte Papierarbeiten. "Zum sehen, fühlen, hören, zum greifen, denken, zum bewegen", steht auf einem dieser Zettel, bei dem kein ästhetischer Eigenwert aufkommen sollte. Sicherheitshalber vermerkte Reinecke das Verfallsdatum: "Gültig bis Mai 69." Sinnliche Wahrnehmung war schon vor Lidl ein zentrales Thema der Künstlerin. Das zeigen ihre Umgebungskleider, die sie 1967 vorführte. Die aus durchsichtiger Plastikfolie bestehenden Kleider sollten von Besuchern angezogen und beschriftet werden. "Derjenige, der das anzog, der konnte sich darauf die Umgebung notieren lassen: riechen, hören, schmecken. Das haben die Leute auch mitgemacht."Chris Reinecke brachte im Lidl-Raum Männern das Häkeln bei und Frauen das Löten. Animation zum Rollentausch ohne feministische Programmatik. Mit der Zeit wird der Lidl-Raum zur Anlaufstelle für Bürgerinitiativen, für wohnungssuchende Studenten. Im Februar/März 1970 löst sich das Lidlteam auf, gegründet wird das "Büro Olympia", das sich direkt gesellschaftspolitischen Fragen, in diesem Fall der kritischen Auseinandersetzung mit der in München geplanten Olympiade, widmete. Aber auch dessen Laufzeit war begrenzt. Im Juli desselben Jahres heißt Reineckes Forum "Selbsthilfe Wohnen". Sie hilft bei der Beantragung von Wohngeld, klärt über skandalöse Wohnverhältnisse auf. 1971 macht sie ihren Austritt aus der Kunst für mehr als zehn Jahre wahr, reist nach Griechenland und Italien, arbeitet als Kunstlehrerin in Düsseldorf.Der Badische Kunstverein erinnert nicht nur an eine wichtige Impulsgeberin der Kunst der sechziger Jahre, sondern zeigt auch ihr Spätwerk. Auf Papierstücken dokumentiert Reinecke seit Mitte der achtziger Jahre ihre alltäglichen Erfahrungen, klebt sie zu Bändern zusammen, schafft Verflechtungen. Es entstehen riesige Tableaus. Ihre auf die Bewegung des Körpers zielenden Bewusstseinsanalysen wirken wie nachgetragene Notate, Grundstoff einer Kunst, die sich in politisierten Seiten in Sozialarbeit auflöste. Heute würde man so etwas natürlich nicht mehr machen, sagt Reinecke. Damals sei sie naiv gewesen. Doch auch nachdenklich machend radikal, möchte man hinzufügen.Badischer Kunstverein, Karlsruhe, bis 16. April. Die im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2001, erschienene Monographie mit Beiträgen von Susanne Rennert, Barbara John und Stephan von Wiese kostet 38,- DM.
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