Krähennest

Kehrseite Kehrseite I

Oft stehen Umzugswagen vor der Tür. Die Fenster bleiben dunkel - nach und nach. Noch drei, noch zwei, noch eins. Alle Lichter aus. Es kommen Männer in Arbeitsanzügen. Das Gelände wird umzäunt. Die Versorgungsleitungen werden gekappt. Alle Türen und Fenster herausgerissen, nachdem alle Badewannen, Waschbecken, Toiletten, Duschen, Küchenherde und Einbauschränke ausgebaut wurden.

Es ist gerade kein Bagger frei in der Firma. Der Block muss warten. Eine Krähe fliegt quer durch das Haus.

Die Gehwege und Zufahrtsstraßen werden mit Erde bedeckt. Eine Planierraupe verrichtet diese Arbeit. Jetzt hängen die Männer Decken über die Zäune. Die Planierraupe fährt auf einen Tieflader und wird abtransportiert.

Der Bagger kommt. Zuerst schlägt er die Balkone ab. Die Fensteröffnungen scheinen noch größer zu werden, sich zu weiten, als wollten sie etwas gebären. Aber was? Die Krähe trug kein Samenkorn im Schnabel. Was die Mieter hinterließen, liegt in blauen Plastiksäcken vor den Türhöhlungen. Ausgeschieden.

Auf der anderen Straßenseite haben sich Mütter mit ihren kleinen Jungen versammelt. Sie sitzen in der Sonne und sehen dem Bagger zu. Sie sehen den Regenbogen, der sich im Wasserstrahl des Feuerwehrschlauches bildet. Das Wasser wird verhindern, dass das Bild im Staub verblasst. Der Schlauch spritzt das Wasser auf die entfernteste Ecke des Blocks. Dorthin greift der Bagger, hakt sich fest und reißt die erste Platte aus dem Schachbrettmuster.

Es beginnt zu regnen. Der Schlauch hat ausgedient. Die Mütter bringen ihre Kinder in trockene Wohnungen.

Der Bagger schält die Außenwand ab. Sichtbar werden die Durchbrüche zu den Küchen, die Fototapete vom Inselparadies, die Holzpaneele. Noch ehe die Krähe sich überlegen kann, auf der Palme ein Nest zu bauen, ist die schon versunken im Betonberg. Das Erdgeschoss bedeckt sich mit rechtwinkligen Teilen eines Riesenpuzzles.

Der Baggerfahrer schraubt und klopft an der Schaufel seines Rückbaubaggers. Er hat ein Daumenkino in der Hosentasche. Bedient er es mit dem rechten Daumen, wächst ein Neubaublock in die Höhe. 20 Jahre später macht der linke Daumen, dass das Arbeiterwohnsilo wieder verschwindet.

Die Baggerschaufel wird ausgewechselt. Erfolglos. Ein Lastwagen bringt eine werksneue glänzende Schaufel.

Inmitten grüner Sträucher und Wiesen liegt ein grauer Berg. Langgestreckt wie drei Neubaublocks mit je vier Aufgängen. Langgestreckt wie ein müder Arbeiter am Abend oder wie ein gestrandeter Fisch, orientierungslos.

Der Bagger sammelt die nassen staubigen Lappen vom Zaun in einen Container. Füllt ihn wie die Mütter im Supermarkt ihre Einkaufswagen. Zwei Jungen schleichen sich um die Ecke des Bauzauns. Sie haben etwas entdeckt. Ein paar gelbe Tennisbälle. Hinterlassenschaft eines Mieters. Sie lassen sie die Straße hinabrollen und laufen ihnen nach.

Die Planierraupe ist zurück. Sie fährt vorsichtig auf den Schuttberg. Unter ihr geben die Betonteile nach.

Niemand scheint so recht zu wissen, was mit dieser grauen, bröseligen Masse anzufangen wäre. Hinstreuen auf die aufgeweichten Pfade könnte man sie. In Fundamente eingießen könnte man sie. Sie würde dann wispern von den einstigen Bewohnern der Platte. Geschichten würde sie erzählen von schweißigen Hemden und dünnen Kindern und vom weißen Pudel aus Nummer 5. War eigentlich schon jemand gestorben hinter diesen hellhörigen Wänden?

Es regnet. Es regnet so ausdauernd, dass kein grauer Betonstaub sich ansammeln kann auf den Büschen. Forsythien. Gelb blühten sie vor den schwarzen Fensterhöhlen. Die Mütter brachen ein paar Zweige ab. Aber die Söhne hatten keinen Blick für die gelben Blütensterne.

Das Betontier wird kleiner. Bruchstücke, in Container verpackt, werden aus der Stadt gefahren, abgekippt. Eine Maschine frisst die Brocken vorn in sich hinein, zermalmt sie und speit sie als graue Krümel wieder aus. Zwei Pyramiden werden aus diesen grauen Krümeln aufgehäuft.

Das Erdgeschoss wird wieder sichtbar. Noch immer nagt der Bagger an der Platte, legt die Teile flach auf die Erde. In den Pausen raucht der Baggerfahrer und trinkt viel Apfelsaft aus einem Tetrapack von Aldi.

Tagelang scheint ein großes Tier auf der Stelle zu hüpfen und das Fundament zu zertreten. Das muss zerhämmert und aus der Erde gezerrt werden, muss auch durch die Maschine, die den Beton zermahlt.

Eine graue Ebene liegt da, wo 20 Jahre lang die Neubaublöcke standen. Fast alle Maschinen sind verschwunden, es könnte sein, dass Ruhe einkehrt.

Jetzt werden die Wege und Straßen wieder freigelegt. Ein Mann fegt geduldig mit einem Straßenbesen, der immer wieder vom Stiel fällt. Die Fläche wird glatt gewalzt. Lastkraftwagen bringen Mutterboden. Es reicht nicht für das ganze Areal. Ein nobles Auto steht am Straßenrand. Jemand geht über die Ebene. Er trägt einen Anzug und versucht, die Schuhe sauber zu halten. Einen Arbeiter weist er in die nächsten Aufgaben ein. Eine grüne Wiese soll wachsen.

Fünf Tauben und die Krähe fressen sich satt.

Dann kommen die Hundebesitzer.

Carmen Winter, Jahrgang ´63, lebt in Frankfurt/Oder als freiberufliche Autorin. Sie schreibt Lyrik und Prosa sowie Sachtexte für Kinder und Erwachsene. Gemeinsam mit dem Percussionisten Hermann Naehring veranstaltet sie Konzertlesungen.


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