Die Front in den Köpfen

Ukraine In der Hafenstadt Mariupol kann sich entscheiden, ob der Waffenstillstand hält oder der Bürgerkrieg mehr als den Donbass erfassen wird
Ausgabe 13/2015
Kampfpause: Milizionär des ultranationalistischen Asow-Regiments
Kampfpause: Milizionär des ultranationalistischen Asow-Regiments

Foto: Andrew Burton/Getty Images

Manchmal ist es besser, in Mariupol den Mund zu halten. Ein Mann lehnt an einer Mauer im Viertel Wostotschny und hält sein Morgenbier in die Sonne. Als er hört, dass jemand etwas auf Englisch sagt, fängt er an zu keifen. Die Flasche schwenkt er in der Hand, als wolle er sie werfen. Die Englischlehrerin Margo Stakhiv beschleunigt ihren Schritt und biegt um die Ecke in eine unbelebte Gasse. Dort sind kaum Fußgänger unterwegs, niemand ist in Hörweite. „Ich habe Sie gewarnt. Die Leute in Wostotschny mögen keine Europäer“, flüstert sie.

Die Mauern der Wohnblöcke ringsherum tragen Narben wie Pockengesichter. Die Überreste der Raketen, die im Januar auf dem Wochenmarkt in Wostotschny einschlugen, haben sich wie lange Nägel in den Beton gebohrt. Die Stadtverwaltung zählte seinerzeit 30 Tote. Die Menschen in Wostotschny glauben bis heute, es seien viel mehr gewesen. Zwei Monate und ein Waffenstillstandsabkommen später sitzen die Bewohner des Viertels abends in ihren Wohnküchen und beobachten manchmal ein Wetterleuchten am Himmel, das keines ist. Sie bereiten ihr Abendessen zu, während draußen nur wenige Kilometer entfernt, in der umkämpften Ortschaft Schirokino, Mörsergranaten explodieren. Diese Waffen dürfte seit dem Minsker Abkommen eigentlich keine Seite mehr einsetzen, aber wer hält sich schon daran? So gehen die Leute in Wostotschny mit der Angst ins Bett, eines der Geschosse könnte ihren Block treffen. Welche Sirene wird sie warnen? Es gibt keine, und selbst wenn es eine gäbe, wie sollten sie rechtzeitig vom vierten oder fünften Stock in den provisorischen Bunker im Keller rennen? So schnell läuft kein Mensch. Bleibt nur die Hoffnung, dass es wieder gut geht in dieser Nacht.

Margo Stakhiv lebt in einem Mariupoler Bezirk, der direkt an Wostotschny grenzt. Auch sie hat oft das Grollen der Geschütze in der Ferne gehört. Sie könne inzwischen den Geräuschen entnehmen, ob die Front verharrt oder sich bewegt. Wenn Letzteres zutraf, habe sie das Radio einfach lauter gestellt. Seit drei Wochen aber sei alles ruhig. „Man hört nicht einmal mehr den Gutenachtgruß, den sie sich sonst über die Front hinweg geschickt haben.“

Margo packt. Das Ticket für die Fahrt nach Kiew ist schon gelöst, die Einladung für ein Vorstellungsgespräch eingetroffen. Sie will nur noch weg aus Mariupol, keine Angst mehr haben und morgens in einem anderen Land aufwachen. Sie müsse einer Stadt den Rücken kehren, in der sie es immer schwerer habe, sie selbst zu sein. „Ich habe Hemmungen, in Mariupol ukrainisch zu sprechen“, sagt die 23-Jährige, die zur russischsprachigen Mehrheit in der Stadt gehört. „Seit dem Raketenangriff im Januar ist es noch schlimmer geworden.“ Damals rückten die Ukrainischen Freiwilligen des Asow-Regiments als Erste am Ort des Einschlags an. Für viele Bewohner war das der Beweis: Die Asow-Kämpfer wussten vorher Bescheid, dass es ein solches Blutbad geben würde.

Lenins Rächer

„Es wird geglaubt, was die Verwandten in Russland sagen. Dass die Ukraine an allem die Schuld trägt und ihre Armee auch diese Geschosse abgefeuert hat“, erzählt Margo. Dass die OSZE das Gegenteil sagt, interessiere nicht weiter. „Die russischen Medien sagen, dass die Europäer Komplizen der ukrainischen Faschisten sind. Also glaubt den Europäern niemand.“ Die ukrainischen Soldaten, erst recht die Kämpfer der Freiwilligenverbände, würden viele als Besatzer empfinden. „Dabei waren es die Separatisten, die im Sommer Geschäfte geplündert haben.“ Ein Dreivierteljahr nachdem die ukrainischen Truppen Mitte Juni 2014 Mariupol zurückerobert haben, wettert Margos Mutter tagtäglich gegen die ukrainischen Behörden und Soldaten. Margo kann das nicht länger ertragen, aber es gibt keinen „Plan B“ für den Fall, dass sie sich in Kiew nicht über Wasser halten kann. Einen Rückfahrschein nach Mariupol würde sie auf keinen Fall kaufen.

Vielleicht war es der schwerste Fehler der ukrainischen Truppen, nach ihrer Rückkehr nach Mariupol das Lenin-Monument zu schleifen. Lenins Statue unweit der Universität wurde vom Sockel entfernt und ein Holzkreuz vor dem leeren Postament aufgestellt. Eines Nachts verschwand dieses Symbol spurlos. Seither liefern sich die Stadtverwaltung und Lenins Rächer einen verbissenen Zweikampf. Wer hat den längeren Atem? Die einen stellen ihr Holzkreuz auf, die anderen rücken umgehend mit Äxten an, um es zu fällen.

Maks Nikolaenko wundert es nicht, dass viele in Mariupol den Statuensturz bis heute als ein Sakrileg empfinden. „Vor dem Zweiten Weltkrieg war Mariupol eine ukrainische Stadt. Danach kamen Menschen aus der ganzen Sowjetunion hierher – die meisten in dem Gefühl, nicht Russland oder die Ukraine sei ihr Heimatland, sondern die UdSSR.“ Auch er stamme aus Russland und kenne die Mentalität der Leute. „Ich bin nicht erstaunt, dass viele in Mariupol weder ukrainisch bleiben noch unter die Herrschaft der Separatisten aus Donezk fallen wollen, sondern hoffen, dass irgendwann die russische Armee einrückt und für Ordnung sorgt.“

Der 30-jährige Ingenieur arbeitet für Metinvest, eine Filiale, die zum Firmenimperium Asowstal des Donezker Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Sein Gehalt sei in einem Jahr von umgerechnet 800 auf 150 Dollar geschrumpft. Asowstal fehlt der Nachschub an Eisenerz und Steinkohle aus den Gebieten der „Donezker Volksrepublik“. Deshalb hat der Betrieb für seine Angestellten Kurzarbeit angeordnet, während der Krieg die Inflation anheizt und die Preise steigen lässt. Die Kalamitäten bei Asowstal reißen die ganze Wirtschaft Mariupols in den Abgrund. Metinvest ist Mariupol, und Mariupol ist Metinvest. Haben die Metaller kein Geld, kaufen sie nichts in den Geschäften, Cafés und Restaurants bleiben leer. Maks Nikolaenko glaubt, „die Menschen in Mariupol wollen nur eines – Frieden und Sicherheit, egal zu welchem Preis und unter welcher Flagge“.

Nikolaenko trifft sich gern mit seiner Freundin Alina Malygina im Café La Rochelle in der Innenstadt. Die Wände sind dekoriert mit Bildern von Catherine Deneuve, Jean-Paul Belmondo und Gérard Depardieu. Édith Piaf und Yves Montand hauchen aus den Musikboxen ihre Chansons. Maks und Alina stammen aus Russland, träumen aber von einem Dasein in Westeuropa. Die Ukraine ist für sie wie eine Brücke in ein Leben, in dem sie vielleicht einmal ohne Visum nach Paris reisen können. „Unsere Familien allerdings, auch die Freunde und Kollegen, sind ganz anderer Meinung“, räumt Maks ein. Vor einem Jahr hätten sie sich vor allem dank des Internets über die Ereignisse in Kiew, auf der Krim und im Donbass informiert. Verwandte hätten dagegen das russische Fernsehen vorgezogen. Als die ukrainischen Truppen die Stadt den Separatisten wieder abnahmen, sei die Angst vor Gräueltaten groß gewesen.

„Für viele war klar, dass uns Faschisten erobert hätten, obwohl hier niemand Kinder umgebracht oder Leute aufgehängt hat“, meint Alina. „Die Tatsache, dass es nicht einmal eine nächtliche Ausgangssperre gibt, ändert nichts am Gefühl, in Mariupol unter einem Besatzungsregime zu leiden. Es ist schon paradox, sie wollen von der Regierung in Kiew mehr finanziellen Beistand, lehnen aber die ukrainischen Truppen ab.“ Ihr Freund findet das weniger widersprüchlich, weil für ihn Mariupol ein aus der Zeit gefallenes Stück späte Sowjetunion ist. „Die Menschen können mit Patriotismus nichts anfangen. Es gibt für sie nur die eigene Familie und den Staat, der sie zu versorgen hat.“ Welcher Staat das erledige, sei ihnen gleichgültig.

„Sidoris“ Keller

Wie lässt sich eine Stadt verteidigen, die vielleicht gar nicht verteidigt sein will? „Budweiser“ und „Sidori“ stellen sich diese Frage nicht. Die beiden Kämpfer des Freiwilligenbataillons Dnipro nennen lediglich ihren „Nom de Guerre“, mit dem sie auch über Funk kommunizieren, damit die andere Seite so wenig wie möglich weiß. Sie haben Verwandte in der „Donezker Volksrepublik“, denen es nicht gut bekäme, würde bekannt, dass jemand aus der Familie für die Kiewer Regierung kämpft. Jedenfalls nehmen sie das an. Ob die Leute in Mariupol sie mögen, ist „Budweiser“ und „Sidori“ egal. Sie hätten andere Dinge zu tun, als sich darum zu kümmern. Die Aufständischen würden ihre schweren Waffen verstecken, um die OSZE-Beobachter zu täuschen. Sobald es dunkel sei, würden sie aus allen Rohren feuern. Dass es früher oder später zu einem Angriff auf Mariupol kommt, stehe für sie fest. Deshalb auch die Jeep-Patrouillen durch Mariupol mit dem Maschinengewehr in Griffweite. „Natürlich kann ich verstehen, dass die Menschen Angst haben, wenn sie bewaffnete Männer wie uns sehen“, räumt „Budweiser“ ein. „Aber wer etwas gegen Leute hat, die ihr Land verteidigen, soll doch nach Russland gehen.“

„Sidori“ sieht es genauso: „Wenn ich Insekten im Haus habe und die der Meinung sind, das sei ihr Zuhause, werde ich sie trotzdem vernichten.“ Die Frage, was das Bataillon Dnipro zu tun gedenkt, um auch jene in Mariupol zu überzeugen, die sie als Besatzer sehen, hat sich mit dem Insektenvergleich erübrigt. Der Bürgerkrieg ist kein Sittenbabel und zieht seine Fronten auch in den Köpfen.

„Budweiser“ und „Sidori“ haben ihre Kommandozentrale in einem Kellergeschoss mitten in Mariupol. Einer muss draußen Wache schieben, weil auf das Büro der Selbstverteidigungskräfte Samooborona schon Brandsätze geschleudert wurden. Im Inneren des Raums hängt ein Verteilerkasten, den die Flammen schmelzen ließen. Ansonsten glänzt das Gewölbe in einem hellen Gelb, das die Freiwilligen nach dem letzten Anschlag über den Ruß gepinselt haben.

Maxim Svetloff zieht nicht einmal den Anorak aus, um ein Interview zu geben. Nervös spielt der Kommandeur der Mariupoler Samooborona mit seinem Autoschlüssel, als müsste er längst unterwegs sein. Gut 200 Männer zählt Svetloff zu seinem Korps – mindestens tausend Bürger aus Mariupol will er trainiert und dabei gezeigt haben, wie man sich mit einem Messer verteidigen kann. Glaubt er selbst, dass seine Truppe irgendetwas ausrichtet, sollte die Stadt angegriffen werden? „Wir tun, was wir können!“ Auf die Frage, warum das Gros der etwa 470.000 Bewohner von Mariupol glaubt, es sei besser, sich nicht auf eine Selbstverteidigung vorzubereiten, gibt er eine kurze Antwort. „Die meisten Menschen wollen nun einmal keinen Krieg.“ Und er selbst, warum will er sich in ein vielleicht aussichtsloses letztes Gefecht stürzen?

Jetzt wird der russischstämmige Mann grundsätzlich. „Die Russen sind unsere Brüder. Aber wenn mein Bruder mir vorschreiben will, wie ich zu leben und mit wem ich mich abzugeben habe, dann darf ich mich wehren.“ Mit seiner Entrüstung über den großen Bruder ist der Partisan Maxim Svetloff ziemlich allein in einer Stadt, die apathisch abzuwarten scheint, welches Schicksal ihr zugedacht ist.

Cedric Rehman ist freier Autor und hat für den Freitag schon aus der Türkei und aus Syrien berichtet

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