Krieg der Knöpfe

Ausstellung Wie steht es um die Protestkultur? Um diese Frage zu klären, blickt die Schau „Politische Kunst im Widerstand in der Türkei“ bis in die 1970er Jahre zurück
Ausgabe 29/2015

Die Fotos könnten so auch an einem schmuddeligen Amüsement-Pavillon irgendwo in der Türkei hängen: Eine Frau mit üppigem Dekolleté posiert lasziv vor giftgrünem Hintergrund, zwei Motive sind es, in Reihen von je acht Bildern zu einer Plakatwand montiert. Sie lächelt – sie lächelt nicht. Es sind Hologramme, die, je nach Standort des Besuchers, ein fröhliches oder ein trauriges Gesicht zeigen. Darunter ein grellgelber Schriftzug: „Ich gebe mein Leben“. Die Zeile stammt aus einem arabesken türkischen Liebeslied, aufopfernd, selbstlos. Man kann sie aber auch als Kritik an den zunehmenden Gewaltverbrechen gegen Frauen in der Türkei lesen. In der Unterzeile wird die Künstlerin expliziter: „Die Liebe von Männern kostet jeden Tag das Leben von drei Frauen“.

Der böse Blick hat mich berührt (2011) lautet der Titel dieses Werks der feministischen Künstlerin CANAN, die für ihre Collage selbst Modell stand. „In meiner Kunst verarbeite ich die Geschichten von Menschen aus meiner direkten Umgebung“, sagt sie. „Für mich ist alles Persönliche immer auch politisch.“ Ihr Werk provoziert, es rührt an gesellschaftliche Tabus und wurde deshalb nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland zensiert. Eine Installation mit Barbiepuppen zum Thema Inzest und Gewalt innerhalb der Familie war in Bad Ems als zu pornografisch empfunden worden. Erst mit Hilfe von Anwälten konnte sie ausgestellt werden.

CANAN ist eine von rund 20 Künstlerinnen und Künstlern, darunter auch Kollektive, deren Werke die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin zeigt. Die Ausstellung Politische Kunst im Widerstand in der Türkei schlägt einen weiten Bogen: Vom 1. Mai 1977 – als bei einer Kundgebung auf dem Istanbuler Taksim-Platz brutal gegen Gewerkschafter und Demonstranten vorgegangen wurde und über 30 Menschen starben, etliche verletzt und Hunderte verhaftet wurden – bis hin zu den international bekannten Gezi-Park-Protesten 2013. Die Schau wirft Schlaglichter auf verschiedene Phasen des türkischen Widerstands, in denen die Künstler die offizielle Geschichtsschreibung herausforderten und alternative Lesarten aufwiesen.

Eine Collage aus Plakaten der Arbeitergewerkschaft DİSK aus den 70er Jahren gibt Einblick in die Selbstdarstellung linker Bewegungen jenseits des türkischen Mainstreams. Mehrheitlich sind sie in Rot gehalten, zu sehen sind stilisierte Hände und die Erdkugel, mit großem Pathos wird zur internationalen Solidarität der Arbeiter aufgerufen. Die Collage des 2003 gegründeten unabhängigen Fotografen-Kollektivs Nar Photos ist das einzige Werk, das sich direkt mit dieser Zeit beschäftigt. Sie verdeutlicht, wie humorvoll und auch selbstironisch die moderne Protestkunst ist verglichen mit der strengeren, die Arbeiter heroisierenden Widerstandskunst der 70er, auf die sie sich bezieht und die sie weiterentwickelt.

Nicht nur Istanbul

Immer wieder geht es darum, wie die Grenze zwischen dokumentarischer und künstlerischer Arbeit überschritten wird. So sind Aufnahmen Tausender von Demonstranten zu sehen, die nach der bis heute nicht aufgeklärten Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 mit dessen Konterfei auf die Straße gingen. Daran knüpft vis-à-vis die Arbeit von Nalan Yırtmaç an. Für ihre Streetart bedient sich die 46-Jährige der Fotografien verschleppter und getöteter armenischer Oppositioneller, Journalisten und Schriftsteller aus Istanbul. Sie stilisiert die Porträts der Opfer mit Sprühschablonen zu modernen Ikonen. „Meine Arbeit ist eine Entschuldigung an die Opfer und gleichzeitig ein Vorwurf an die Regierung“, sagt sie. Eine Haltung, die programmatisch für die Gezi-Bewegung war: Man ist nicht länger bereit, Tabus der offiziellen Geschichtsschreibung zu verschweigen. Indem sie ihre Anklage in den öffentlichen Raum trägt, schreibt Yırtmaç sie in das kollektive Gedächtnis ein.

Die Schau beschränkt sich jedoch nicht auf Istanbul, sie bildet gesellschaftliche Proteste und deren künstlerische Verarbeitung landesweit ab. Beeindruckend ist etwa das Video Adult Games (2004) von Erkan Özgen, der 1971 im südöstlichen Mardin geboren wurde. Es thematisiert den alltäglichen Kampf in der Osttürkei, einem Landstrich, der seit Jahrzehnten von Repression, ethnischen Konflikten und Bürgerkrieg geprägt ist. Ein Dutzend maskierte Kinder stürmen einen Spielplatz. Ihr Spiel gleicht dem Straßenkampf von Aktivisten gegen die Polizei und führt die Allgegenwart des Konflikts erschreckend deutlich vor Augen.

Bezeichnend ist, dass es aus den Jahren um den Militärputsch von 1980 keine Arbeiten gibt. Diese Lücke verdeutlicht, welches Ausmaß die brutale Unterdrückung jeglicher kritischer Stimmen in dieser Zeit der Angst und Autozensur hatte. Die heutige Generation, wagt man angesichts der Vielfalt der Werke zu hoffen, wird so schnell nicht wieder verstummen.

Info

Politische Kunst im Widerstand in der Türkei nGbK, Berlin, bis 30. August 2015

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