Dieser Ernst in den Augen. Sie war 18 Jahre damals; eine schöne junge Frau vor eleganter Atelier-Kulisse. Für den Fotographen hatte sie ihren besten Sari angezogen. Ein Bild wie aus einem Film, ein weitläufiges Leben versprechend, große Leidenschaften.
Sie war an diesem Tag um vier Uhr morgens aufgestanden, die Wäsche der Herrschaft einzuweichen. Ein Dienstmädchen im post-kolonialen Malaysia, Mitte der sechziger Jahre. Eng ist das Leben der Ernsten und Stolzen bereits in diesem Augenblick, es wird noch beklemmender werden, eine finstere Parabel auf männliche Gewalt und weibliche Ohnmacht, auf Erniedrigung und Selbsterniedrigung.
Opfer einer fröhlichen Wette
Dies ist die Geschichte der Inderin Manonmani, kurz Mani genannt. Eine sehr indische Geschichte,
Eine sehr indische Geschichte, auch wenn sie in Malaysia spielt. Die tamilischen Einwanderer aus Südindien haben ihre Sitten mitgebracht in die neue Heimat und ihre abgründigen Familienstrukturen, und aus diesem Stoff reproduzieren sich Dramen Generation um Generation. "Unsere Sitten, du weißt schon....", sagt Mani immer dann, wenn ihre Erzählung eine absurde Wendung nimmt, wenn Unbegründbares zu begründen ist. Mani ist jetzt 56, ihre Hände sind breit geworden von vier Jahrzehnten Putzen.Die Eltern lassen sich scheiden, als sie sechs ist. Mani und ihre Schwester werden den Vater viele Jahre lang nicht wiedersehen. Die Mutter darf nicht allein bleiben, also betritt ein Stiefvater die Bühne. Die Mutter, auch sie ein Dienstmädchen, kommt nur am Wochenende von der Arbeit nach Hause. Die beiden Mädchen leben mit dem Stiefvater allein in der Ein-Zimmer-Wohnung; er spielt und nimmt Drogen, braucht Geld. Noch gilt seine Gier nur dem Geld, anderes passiert später. Er stiehlt Mani das Schulgeld, das die Mutter ihr zusteckt, jagt sie mit einem Messer durch die Nachbarschaft, droht, sie zu töten, wenn sie die Schule nicht aufgibt. Mani ist 15, eine blendende Schülerin, sie weint und fleht.In der nächsten Szene vergewaltigt der Stiefvater Manis Schwester, zwei Jahre älter als sie. Die Schwester wird schwanger, sie muss den Verursacher der Schwangerschaft heiraten, obwohl es der Stiefvater ist. Das klingt unglaublich, aber so geschieht es - so verlangen es die Sitten.Mani ist inzwischen 18 - die junge Frau mit den ernsten Augen. Für Männer empfindet sie nur Abscheu, es dauert acht Jahre, bis sie in eine billige Falle tappt. Die indischen Gärtner ihres Arbeitgebers schließen eine Wette ab: Wer bekommt diese hübsche verschlossene Frau herum, die nie ausgeht und nie nach einem Mann schaut? Einer der Gärtner erzählt Manis Verwandten, sie sei schwanger von ihm. Mani streitet alles ab, das hilft ihr nicht. Ihre Mutter sagt: "Du musst ihn heiraten, dein Name ist beschmutzt." Sie heiratet und erfährt erst viele Jahre später, das Opfer einer fröhlichen Wette zu sein. Da ist sie emotional schon längst abgestumpft. Die Ehe ist in jeder Hinsicht aus Betrug geboren: Ihr Mann ist längst verheiratet, hat bereits eine Familie. Sie findet das ein paar Monate nach der Hochzeit heraus; da ist es zu spät.Eine Pseudo-Ehe nimmt ihren Lauf: Er kommt nur, um sich Geld zu holen und manchmal ein bisschen Sex. Sie fügt sich, denn sie trägt um den Hals jene Schnüre, die der Hindu-Priester im Tempel als Zeichen der Verheiratung verknotet hat. Mani wird die Schnüre noch 30 Jahre später tragen, immer treu dem Treulosen, so will es die Sitte. Aber in ihrer Erzählung hat der Ehemann keinen Namen, sie nennt ihn abfällig nur "dieser Mann".Sohn einer Zweitfrau1976 wird Ravintheran geboren, Ravi, der Sohn. Geliebter Ravi - auf den Jungen richtet sich ihre Hoffnung, auf ein wenig Glück. Sie arbeitet von früh bis spät. Wenn Zahltag ist, holt sich der Mann die Hälfte ihres Gehalts ab. Ravi wächst auf und erlebt den Streit, wenn der Vater die Mutter besucht. Noch weiß er nicht, dass der Vater eine andere Familie hat. Mit elf Jahren greift er in einen Kampf zwischen den Eltern ein, nimmt einen Stock, will den Vater schlagen. Mani erinnert die Szene genau; es ist das letzte Mal, dass ihr Sohn sie verteidigt.Wenig später erfährt er von Außenstehenden die Wahrheit über seinen Vater; er kommt aus der Schule nach Hause und fragt die Mutter: "Stimmt das?!" Er ist zwölf Jahre alt. "Von diesem Tag an hasste er mich", sagt Mani. "Ich wusste es damals noch nicht und verstand es erst Jahre später."Ravi hasst nicht den Vater, der Vater ist ein Mann, und Männer sind eben so. Die Heirat war Manis Fehler, sie hätte es besser wissen müssen. Darum ist sie schuld, dass Ravi mit der Schande leben muss, Sohn einer Zweitfrau zu sein. Die Inder schauen herab auf die Kinder der Zweitfrau, nur die der Erstfrau werden respektiert. Ravi sucht den Anschluss an die geachtete Familie seines Vaters, an seine älteren Halbgeschwister; er geht auf jede ihrer Familienfeiern. Er ist jetzt 16; er ist überzeugt: Mani - seine Mutter - ist eine schlechte Frau. Er kommt oft nachts nicht mehr nach Hause.Nun beginnt ein verzweifeltes Ringen. Mani kämpft um die Liebe ihres Sohns, und je mehr sie kämpft, desto mehr wird er sie verachten. Sie versucht, seine Zuneigung zu erkaufen, sie bezahlt ihm ein College in der Hauptstadt, der Sohn der alleinerziehenden Putzfrau fährt dort im Auto vor. Sie legt jeden Penny beiseite, isst nur das Einfachste, spart den Busfahrschein, alles ist für Ravi. Jeden Wunsch versucht sie ihm zu erfüllen, damit er sich seiner Herkunft nicht länger schämt. Ravi, der Verwöhnte, verliert jedes Maß, spielt sich auf wie ein Playboy. Und hasst die Mutter.Erfolglos versucht sich der Sohn später in allerlei Geschäften, scheitert als Autoverkäufer, scheitert mit einem Restaurant. Jeden Start bezahlt die Mutter. Ravi ist jähzornig, hat keine Ausdauer, verkraftet keine Niederlage und lässt sich von der Mutter aushalten. Sie gibt alles hin, was sie für ihr Altenteil gespart hatte. Auch Ravis Beziehungen zu Mädchen scheitern, schließlich verlangt er von der Mutter, sie müsse ihm eine Braut besorgen. Wenn er nachts nach Hause kommt, weckt er Mani, beschimpft sie, weil sie noch kein Mädchen gefunden hat: "Du taugst zu überhaupt nichts!" Seine Wutanfälle werden gewalttätig, er zerschlägt die Einrichtung - und er schlägt seine Mutter. Mani sagt es niemandem, zu groß wäre die Schande, aber andere sehen, dass sie jetzt Angst hat vor ihrem Sohn. Endlich kann sie eine Hochzeit für ihn arrangieren. Ein Mädchen aus der Hauptstadt, alles ist mehr ein Zufall. Ravi will eine große traditionelle Hochzeit, die ganze Verwandtschaft des Vaters soll kommen, er will seinen Freunden zeigen, dass er einen netten Vater hat und eine große Familie. Der Vater hat ihm zeitlebens nicht einmal ein Paar Schuhe bezahlt, aber das spielt keine Rolle. Mani muss zu "diesem Mann" gehen, Ravi verlangt es, muss ihm die Einladungskarte persönlich übergeben, muss den Kniefall machen, ihn bitten zu kommen. Warum geht der Sohn nicht selbst? "Das wäre gegen unsere Sitten", sagt Mani, "der Jüngste kann nicht einladen."Tüten voller Getränkedosen Hochzeit im gemieteten Saal: 300 Gäste, Mani hat ihre letzten Ersparnisse geplündert. Ravi ist groß und schlank, mit klaren Gesichtszügen, ein gutaussehender junger Mann. Die Zufalls-Braut kommt im geliehenen Mercedes. Ein Traumpaar, eine Traumhochzeit. Mani hat sich schön gemacht, im leuchtend blauen Sari, mit einem künstlichen Dutt, aber ihr dunkles Gesicht ist grau vor Nervosität. Wird "dieser Mann" wirklich kommen, um dem Brautpaar seinen väterlichen Segen zu geben? Er kommt. Er hat seine erste Ehefrau mitgebracht; sie steht neben ihm, als er das Brautpaar segnet. Mani steht am Rand, wie eine Statistin.Manchmal lauert ihr "dieser Mann" auf der Straße auf, immer noch will er Geld. Mani fürchtet Gerede, weil sie - eine Frau Mitte 50 - mit einem Mann auf der Straße steht. "Die Inder sagen dann: du hast einen Boyfriend." Einmal schlägt der Mann ihr ein Bein grün und blau, gleichfalls mit dem Vorwurf, sie habe einen "Boyfriend". Mani verbirgt ihr Unglück wie eine Schande, familiäres Scheitern darf nicht bekannt werden. Die Sitten! Santhi, so heißt Manis Nichte - das Kind der Schwester, gezeugt durch die Vergewaltigung damals. Santhi, heute 36, hat seit elf Jahren kein Wort mehr mit ihrer Mutter gesprochen. Die Mutter hat ihr nie erzählt, was geschah, aber Santhi muss es erfahren haben, und nun nennt sie ihre Mutter nicht mehr Mutter. Vor sechs Jahren starb Santhis Vater, der Vergewaltiger. Die Mutter ging nicht zur Beerdigung und weigerte sich, die hinduistischen Rituale der Witwe zu vollziehen. Das hat die Tochter zusätzlich erbost. Sie hat früher gesehen, wie der Vater die Mutter schlug mit Gummibaum-Holz, doch sie hält zu ihm, über den Tod hinaus.So schließt sich ein Kreis. Die Tochter des Vergewaltigers klagt die Mutter an, weil sie sich vergewaltigen ließ - so wie Ravi seine Mutter anklagt, weil sie eine betrügerische Ehe einging. "Es ist, als läge ein Fluch auf dieser Familie", sagt Mani, "immer sind die Frauen schuld, nie die Männer."Ravi wohnt mit seiner Frau jetzt direkt in Kuala Lumpur, ein paar Fahrtstunden entfernt. Mani bezahlt seine Telefonrechnung, aber wenn sie Geburtstag hat, ruft der Sohn sie nicht einmal an. Wenn Ravi Geburtstag hat, stellt sich Mani am Vorabend den Wecker, damit sie um Mitternacht aufwacht und garantiert die erste Gratulantin ist. Für die ständigen Kränkungen, die der Sohn ihr zufügt, hat sie keine Worte mehr und keine Tränen. Aber den Sohn loslassen, um ihre Ausbeutung zu durchbrechen, das kann sie nicht. "Ich bin seine Mutter", sagt sie, "zu wem soll er sonst gehen?"Neulich war sie bei einem indischen Wahrsager, sie wollte herausfinden, "warum da nie Glück war in diesen 56 Jahren meines Leben." Und sie hörte: Es ist Schicksal. Es wird sich nicht mehr ändern. Dies ist ihr letztes Leben, ihre siebte Reinkarnation, sie wird nicht wiedergeboren werden. "Vielleicht habe ich im vorigen Leben Schulden gemacht", sagt Mani, "jetzt zahle ich zurück mit Zinsen."Ein letztes Bild: Mani, das Haar grau gesträhnt, geht mit Tüten voller alter Getränkedosen zur Bushaltestelle. Ihr Sohn versucht sich gerade im Recycling-Business; deshalb sammelt sie leere Dosen in allen Haushalten, wo sie putzt. Sie wäscht die Dosen ab und haut sie dann mit einem Schuh flach. Ihr Sohn kommt nicht mehr oft. Aber wenn er kommt, wird sie ihm eine große Sammlung von Dosen geben.
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