Irgendwo hier muss die Staatsgrenze gewesen sein: Nur Sand. So ähnlich suchen Ausländer in Berlin vielleicht nach Überbleibseln der Mauer. Hier ist Wüste, teilnahmslose Wüste, gespickt mit schwarzem Lava-Gestein, das von ganz anderen historischen Dimensionen erzählt.
Vor 15 Jahren, ein paar Monate früher als die beiden deutschen Staaten, haben sich die beiden Jemen vereinigt: die konservativ-islamische "Arabische Republik" im Norden und die sozialistische "Demokratische Volksrepublik" im Süden. Die Fußspuren von Arabiens einzigem Sozialismus sind heute arg verweht. Im melancholischen Hafenstädtchen Mukallah verzeichnet eine Speisekarte Proiler-Meat; der DDR-Broiler flog bis ans Arabische Meer.
Auf der Wiese des Fußballstadions sitzen ein
;ballstadions sitzen ein paar hundert Jungen und Mädchen kichernd in Reih und Glied; sie proben für die Vereinigungsfeier am 22. Mai. Ein Lehrer schwenkt mit heiligem Ernst einen scharlachroten Papierschmetterling. Zwischen den Kinderreihen stehen Mütter und Lehrerinnen wie besorgte Glucken; schwarze Glucken, die Frauen sind verhüllt bis auf einen Sehschlitz.Eine Äußerlichkeit, und nur das sichtbarste Zeichen, wie wenig von jenem Fortschritt blieb, den Südjemens autoritärer Sozialismus den Frauen bescherte. In den 23 Jahren Volksrepublik war der Schleier verpönt; schon während der britischen Kolonialzeit, die dem Sozialismus vorausging, demonstrierten in Aden Schülerinnen unverschleiert für nationale Befreiung. Später waren Frauen im Süden gebildeter und häufiger berufstätig als die Schwestern im konservativen Norden.Aber Jemens politische Zeitrechnung scheint erst mit dem Datum der Vereinigung zu beginnen, genauer gesagt: Im Jahr 1994, als der Süden den Bürgerkrieg verlor und der Norden seine Dominanz über die junge Demokratie festigte. Die militärische Niederlage oder auch die viermal größere Einwohnerzahl des Nordens erklären indes nicht alles. Offenbar wurzelten Säkularisierung und Modernisierung im Süden zu flach, im Vergleich zum religiös und kulturell tief wurzelnden Konservatismus des Nordens. Als im postsozialistischen Süden das Verbot der Polygamie fiel, fand eine beträchtliche Zahl von Männern die Mehrfach-Ehe attraktiv.In Aden sprechen viele Akademiker Deutsch; etwa 3.000 Südjemeniten studierten in der DDR, doch schrumpfte die Sozialistische Partei, der viele einmal angehörten, inzwischen zur Marginalität. Stärkste Oppositionskraft (und auch Stimme der Einheitsverlierer) ist eine gemäßigt-islamistische Partei; sie heißt Islah (Reform). In Aden stellt sie den Vize-Gouverneur; auch er spricht Deutsch, Wahid Rashid hat in Weimar Bauwesen studiert. Der 46-Jährige ist kein Wendehals, er war schon als junger Mann bei den Islamisten, damals im Untergrund. Wenn Wahid über den künftigen Jemen spricht, klingt er wie ein arabischer Wolfgang Thierse: Die demokratische Verfassung müsse "Lebenswirklichkeit" werden, das Denken der Jemeniten sei noch zu autoritär geprägt. Seine Islah-Partei findet besonders bei Frauen Anklang, bei den jungen gebildeten.Was für ein Land! Alle erdenklichen Einflüsse kreuzen sich hier: ein verleugneter Sozialismus, ein konservativer Islam, Stammesbande in allen Milieus, eine keimende Zivilgesellschaft, die Forderungen von Frauen - und alles unterlegt von alt-arabischer Kultur.Als der Jemen, noch zu Lebzeiten des Propheten, den Islam übernahm, lag bereits eine tausendjährige Blütezeit hinter den jemenitischen Königreichen. Arabia felix, fruchtbar und deshalb dichter besiedelt, nicht zu vergleichen mit der großen Sandbüchse im Norden, die sich später Saudi-Arabien nannte. Heute geben die Saudis allein für den Import von Autos das Äquivalent des jemenitischen Nationalhaushalts aus.Fern der schimmernden Glasfassaden hat ausgerechnet im armen Jemen das pluralistische Pilot-Projekt der Halbinsel begonnen. Bei den reichen Nachbarn sind Parteien verboten - im Jemen sind gleich 22 registriert, vom mächtigen Volkskongress des Präsidenten Ali Abdullah Saleh bis zu den kleinsten Gewächsen der Nasseristen. Außerdem fällt eine freiheitsdurstige Presse auf, es gibt Gender Studies an den Universitäten und Frauenbeauftragte in den Ministerien.Sie trägt Nadelstreifen: die einzige Frau im Kabinett, die einzige Menschenrechtsministerin der Welt. Vorher war sie Jemens erste Botschafterin. Amat Al-Alim Al-Soswa (47) ist ein Star, verehrt von allen ehrgeizigen jungen Jemenitinnen. Und natürlich ist sie die denkbar beste Werbung für einen neuen Jemen, jedenfalls gegenüber dem Westen. Amat Al-Alim verkörpert Emanzipation im Zeitraffer: Tochter einer Analphabetin. Studium im weltoffenen Kairo der siebziger Jahre; früh zog es sie zur arabischen Women´s lib; sie legte den Gesichtsschleier ab.Als Ministerin griff sie Missstände auf, die zu benennen vorher "als Beleidigung unserer Kultur galt", etwa den Kinderhandel. "Die Arabische Liga brauchte elf Jahre, um das Wort Menschenrechte zu akzeptieren. Aber Araber sind Menschen wie alle anderen", sagt Amat Al-Alim. Ihr selbst wurde lange vorgehalten, sie würde die Werte ihres Landes nicht respektieren. Frauen müssen das aushalten, meint sie. "Wir können nicht warten, bis sich unsere ganze Kultur geändert hat."Jemens Verfassung garantiert Frauen und Männern gleiche Rechte, doch von zehn Jemenitinnen können sieben die Verfassung nicht lesen. Tradition und Kultur sind mächtiger als Paragraphen, viele Väter nehmen ihre Töchter mit zwölf von der Schule. Dennoch ist an den Universitäten bereits ein Viertel der Studierenden weiblich, eine Elite bildungshungriger Mädchen drängt nach vorn, wie in vielen islamischen Ländern. Eine junge Ärztin sagt, sie lache über "die Horrorgeschichten", wenn ältere Kolleginnen von ihrer Diskriminierung erzählen. Eine Anwältin, die vor zehn Jahren verhöhnt wurde, als sie Jemens erste Frauen-Kanzlei gründete, kann sich heute vor Aufträgen kaum retten. Manches, was in Europa ein halbes Jahrhundert brauchte, geschieht hier in einem Jahrzehnt.32 Richterinnen sind wenig neben über tausend Richtern, aber sie sind zugleich viel, weil patriarchalische Koran-Interpretationen Frauen am liebsten gar nicht in dieser Position sehen wollen. Anders als etwa in Saudi-Arabien und Kuwait haben Frauen im Jemen das aktive und passive Wahlrecht. Aber im Parlament sitzt nur eine Frau zwischen 300 Männern. In den Gemeinderäten ist das Verhältnis 36 zu 6.000. Dabei gingen knapp 40 Prozent der Frauen zur Wahl, nur gaben sie ihre Stimme meist Männern. Frauen trauen Frauen keine Erfolge zu, weil sie an Entscheidungen nicht beteiligt sind. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, verlangt Jemens Nationaler Frauenrat eine Quote, ein Drittel der Parlamentssitze. Vor der Vereinigung war im konservativen Norden eine politisch aktive Frau noch ganz undenkbar - und nun bereits eine Quotendebatte!Frauen markieren den politischen Aufbruch, aber ihre Rolle steht auch im Schnittpunkt aller Widersprüche, im Fadenkreuz westlicher, islamistischer und reformistischer Ermahnungen. "Wir sind wie in der Mitte eines Sturms", seufzt Rashida Al-Hamdani, die Vorsitzende des Frauenrats. "Jeder ruft etwas anderes: rechts, links, vor, zurück! Ich war mein ganzes Leben nicht so verwirrt wie heute. Und ihr im Westen greift uns an, ohne zu begreifen, wie sehr wir leiden und eure Unterstützung brauchen."Im Jemen zeigt sich: Wenn Musliminnen nicht mehr vor prinzipiellen rechtlichen oder religiösen Barrieren stehen, dann beginnt das Ringen um eigenes Selbstverständnis. Islamisch geprägte Kultur betont Geschlechterunterschiede; ein androgyner Feminismus ist dem Denken auch der Vorreiterinnen fremd. Aber das ist nur ein grober Rahmen, um ganz unterschiedliche Antworten zu geben. Frage an zwei modern eingestellte Teenagerinnen: Könnte eine Frau im Jemen Taxifahrerin werden? "Nein", sagt die erste, "das würde unsere Gesellschaft nie akzeptieren." Ihre Freundin widerspricht: "Die Gesellschaft wird es erst nicht akzeptieren, aber die Frau muss sich durchsetzen."Jemen garantiert mehr Pressefreiheit als die meisten arabischen Länder. Ein Pressegesetz definiert "die Freiheit des Wissens, der Gedanken, des Ausdrucks, der Kommunikation und des Zugangs zu Information" als Bürgerrecht. Kein Journalist darf verhaftet werden. Das liest sich gut.Tatsächlich war 2004 jedoch das finsterste Jahr seit der Vereinigung, klagt das "Zentrum für Training und Schutz journalistischer Freiheit" in der Hauptstadt Sana´a. 120 staatliche Übergriffe; erstmals Gefängnisstrafen ohne Bewährung. Kritik am mächtigen Nachbarn Saudi-Arabien wird leicht kriminalisiert.Bemerkenswert für das Selbstverständnis der jemenitischen Journalisten ist der Fall des Chefredakteurs Abdul-Karim Al-Khaiwani: Er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er in seinem Oppositionsblatt die Niederschlagung eines bewaffneten schiitischen Aufstands attackiert hatte. "Seine Ansichten sind extremistisch, sie gefallen mir nicht", sagt Mahbub Ali, der Vorsitzende der Journalistenvereinigung, "trotzdem verteidige ich seine Freiheit. Wenn ein Journalist verhaftet wird, mache ich keinen Unterschied, ob er islamistisch oder sozialistisch, rechts oder links ist." Der Verhaftete wurde kürzlich vom Präsidenten begnadigt."Unser Ziel sind Zeitungen, in denen der Bürger blättert und sagt: Das ist eine freie Meinung!" erklärt Mahbub Ali. "In den vergangenen 50 Jahren haben die arabischen Herrscher in den Medien ihren besten Schutz gefunden. Das haben wir erst spät begriffen."Die Pressefreiheit hat wie andere Grundrechte gelitten, seit sich Jemens Regierung der US-geführten Anti-Terror-Kampagne anschloss. Vorausgegangen waren zwei Bombenanschläge im Hafen von Aden: auf das Kriegsschiff USS Cole (2000) und den französischen Tanker Limburg (2002). Hunderte von Jemeniten werden seither ohne Anklage in Haft gehalten, weil sie kundtaten, den Westen bekämpfen zu wollen. Die Regierung versucht zudem, alle 72.000 Moscheen des Landes unter ihre Aufsicht zu bringen, sie schloss Religionsschulen, siebt die Prediger.Begeisterte jemenitische Demokraten fühlen sich wie zwischen zwei Mühlsteinen. Der Herausgeber der englischsprachigen Yemen Times beklagt, dass sich anti-demokratische Maßnahmen des Beistands der Amerikaner erfreuen - zugleich bringt sein Blatt den US-Report über Menschenrechtsverletzungen im Jemen groß auf Seite eins. Amat Al-Alim, die Ministerin für Menschenrechte, kritisiert machtlos "die ungesetzlichen Verhaftungen" und entschuldigt sie mit dem Hinweis, im Kampf gegen den Terrorismus seien weltweit die Bürgerrechte eingeschränkt worden, auch in den viel älteren Demokratien. Die Ministerin im Zwiespalt hat schon drei Preise verliehen bekommen, zwei kamen aus den USA.Der Jemen seit 199022. Mai 1990 - Der seit 1967 unabhängige sozialistische Süden und der islamische Norden vereinigen sich zur Republik Jemen. Bis zu ersten gesamtjemenitischen Wahlen im April 1993 amtiert eine Übergangsregierung.Mai bis Juli 1994 - Südjemen wehrt sich gegen die wachsende Dominanz und den konservativen Kurs des Nordens und blockiert den Vereinigungsprozess. Am 5. Mai bricht ein Bürgerkrieg aus, bei dem der Süden nach zwei Monaten militärisch unterliegt. Danach wird der südjemenitischen Sozialistischen Partei jede Regierungsbeteiligung verweigert und die Scharia zur einzigen Rechtsquelle erklärt.April 1997 - Der Volkskongress erringt die absolute Mehrheit bei den von den Sozialisten boykottierten Parlamentswahlen, ihr Kandidat Ali Abdullah Saleh wird im September 1999 mit überwältigender Mehrheit als Staatsoberhaupt bestätigt.12. Oktober 2000 - Selbstmordanschlag eines mutmaßlichen Al-Qaida-Kommandos auf den vor Aden ankernden US-Zerstörer USS Cole - 17 Seeleute werden dabei getötet. Am 29. September 2004 verurteilt ein jemenitisches Gericht zwei der Täter zum Tode. September 2001 - Bei Lokalwahlen und einem gleichzeitigen Verfassungsreferendum kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen mit mehreren Toten. Der Volkskongress, die Partei von Präsident Saleh, gewinnt, während die islamistische Islah-Partei und die Sozialisten von massiven Fälschungen sprechen.September bis Dezember 2001 - Nach den Terroranschlägen in den USA werden bei massiven Einsätzen des jemenitischen Geheimdienstes Tausende mutmaßlicher Islamisten verhaftet und jahrelang ohne Anklage in unterirdischen Gefängnissen interniert.April 2003 - Erneut kann der Volkskongress die Wahlen für sich entscheiden. Er erringt 229 Sitze, die Islah-Partei 45, die Sozialisten kommen auf sieben Mandate. Beobachter kritisieren Unregelmäßigkeiten, sprechen aber von Fortschritten in Richtung Demokratie.
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