Wir brauchen jemanden an der Spitze des Wahlkampfs, der Siegeswillen und Siegeszuversicht verkörpert." Mit dieser Begründung schlug Michael Glos, der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Wolfgang Schäuble als dritten Bewerber für die Kanzlerkandidatur der Union vor. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte am 1. November 2001 das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen "Mangels eines für eine Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Tatverdachts" eingestellt.
Aber hängt der Wahlerfolg wirklich vom Siegeswillen des Spitzenkandidaten ab? Eher brauchen die Mitglieder und Sympathisanten eine Persönlichkeit, hinter der sie sich versammeln können, die nach innen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt und nach außen ihre Visionen vertritt. Für die Union stellt sich einzig die Frage, wer von den drei Personen, die jetzt im Gespräch sind - Schäuble, Angela Merkel, Edmund Stoiber -, die Bedingung am besten erfüllt.
Im Frühjahr soll über die Kanzlerkandidatur entschieden werden, damit den Medien nicht so viel Zeit bleibt, den guten Ruf des Herausforderers zu beschädigen. Der Zeitplan wird vom Vorbild der SPD bestimmt, wie Stoiber am 24. Oktober noch einmal präzisierte: "Die SPD hat sich relativ spät zwischen Lafontaine und Schröder entschieden. Diese Erfahrungen wollen wir uns zunutze machen, und wer uns etwas anderes rät, will uns Schaden zufügen."
Die Parallele erweist sich aber als problematisch. Denn nach der Nominierung des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder hat die SPD kontinuierlich Wählerstimmen verloren, die meisten in der heißen Phase des Wahlkampfs. Wie die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte, betrug ihr höchster Wähleranteil 52 Prozent im April und nahm dann kontinuierlich um 12 Prozent ab bis auf 39,9 Prozent am 27. September 1998. Ein Grund für den immer noch hohen Wähleranteil lag darin, dass die Grünen rund ein Drittel ihrer Wähler verloren, als ihr Beschluss zum Benzinpreis von 5,00 Mark pro Liter bekannt wurde und viele zur SPD wechselten.
Im Jahresvergleich hat der Wechsel vom Vorsitzenden Oskar Lafontaine zum Ministerpräsidenten Gerhard Schröder die SPD rund 4 Prozent Stimmen gekostet. Das zeigt der Vergleich des Wähleranteils von 44 Prozent am 19. September 1997 mit dem Ergebnis von 39,9 Prozent am Wahltag. In der gleichen Zeit blieben CDU-Wähler mit ihrem Spitzenkandidaten Bundeskanzler Helmut Kohl bei ihrer Wahlentscheidung. Am 19. September 1997 waren es 37 Prozent und ein Jahr später am Wahltag 37,5 Prozent.
Dass der Stimmenverlust der SPD nicht noch größer war, lag wohl auch daran, dass sich ungefähr zwei Drittel der Wähler einen Regierungswechsel wünschten. Nach 16 Jahren Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP dominierte der politische Wechsel alle anderen Themen. 1998 brauchte die "Kampa" der SPD nur diese Wahlabsicht zu bestärken: "Wir sind bereit." Von einer solchen Rahmenbedingung kann die Union heute nur träumen.
Woran also will sie sich ein Beispiel nehmen? Will sie auch Stimmen verlieren? Ihr Wähleranteil liegt derzeit bei rund 36 Prozent.
Ein weiterer Grund für die Irrelevanz des Vorbilds der SPD liegt in der Macht der Medien. Immer dann, wenn sie interessierte Leser, Hörer und Zuschauer mit genuinen Neuigkeiten überraschen, denen diese keine eigenen Erfahrungen entgegensetzen können, prägen Berichte und Bilder die Meinungen. Der erste Eindruck ist kaum noch zu korrigieren, wie die Grünen mit ihren erfolglosen Erklärungen zum Benzinpreis von 5,00 Mark erfahren haben. Und so stand auch für SPD-Anhänger mit der Nominierung Schröders die Meinung fest. Alle nachfolgenden Berichte über den gutaussehenden, sympathischen Kanzlerkandidaten, der wegen seiner permanenten Medienpräsenz auch "Liebling der Medien" genannt wurde, haben sie bis zum Überdruss befestigt. Die verstärkende Wirkung von Wahlberichterstattung und Wahlwerbung ist von internationalen Forschungsprojekten immer wieder bestätigt worden.
Die Medien müssen die tatsächliche Komplexität des Wahlkampfs auf Personen vereinfachen: Kohl gegen Schröder, Stoiber gegen Schröder, Merkel gegen Stoiber, Schäuble gegen Merkel. Aber der Wahlkampf wird nicht in den Medien, sondern im Wahlkreis gewonnen. Die Wahlentscheidung fällt im persönlichen Umfeld, das heißt in Gesprächen mit Verwandten, Freunden, Arbeitskollegen und so weiter. Die persönliche Auseinandersetzung ist für Meinungsbildung und -änderung von entscheidender Bedeutung. Infolgedessen können Mitglieder und Sympathisanten in persönlichen Begegnungen am besten wahlentscheidende Wechselwähler gewinnen. Die Parteien wissen das auch und mobilisieren im Wahlkampf als erstes ihre Mitglieder. Diese Absicht steht wohl auch hinter zehn Regionalkonferenzen, von denen Angela Merkel gerade die erste absolvierte. Wie schon eingangs gesagt: Die Mobilisierung der Mitglieder ist die wichtigste Aufgabe eines Spitzenkandidaten. Das haben auch 16 Jahre lang die Wahlsiege der CDU mit Bundeskanzler Helmut Kohl dokumentiert.
Der Poker um den Zeitplan, den sich die Union gegenwärtig erlaubt, lenkt von diesem Sachverhalt nur ab. Genauer gesagt, werden jedenfalls Stoiber und Schäuble abgelenkt. Denn Frau Merkel hat mit der Mobilisierung ja schon begonnen.
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