Heimgekehrt in das Dorf seiner Ahnen

Nachruf Die Regenbogen-Nation sollte Nelson Mandela nicht zu einem Heiligen verklären und sich darauf beschränken, auf den nächsten Messias zu warten
Ausgabe 50/2013

Bei seiner Geburt gab Mandelas Vater ihm den Namen Rolihlahla, was umgangssprachlich so viel heißt wie „Unruhestifter“. Als hätte er geahnt, welche Stürme sein Sohn verursachen und überstehen würde. Jetzt sind sie vorüber. Mandela wird seine letzte Ruhe auf eigenen Wunsch in Qunu finden, wo er nach dem Tod des Vaters aufgewachsen ist. Unter den Xhosa heißt es, er sei heimgekehrt in das Dorf seiner Ahnen.

Überall in der Welt wird getrauert. Aufrichtig getrauert? Hat die bundesdeutsche Politik so rasch vergessen, wie lange man beste Kontakte zum Apartheid-Regime pflegte und in Mandela den Anführer einer radikalen – heute würde es heißen: terroristischen – Organisation sah? Weshalb das weiße Südafrika bestens mit deutschen Waffen versorgt wurde. Vielleicht steckt in den vielen Lobpreisungen ja auch Erleichterung darüber, dass vieles von dem an sozialem und moralischem Wandel doch nicht zustande kam, wofür Mandela und der ANC einst standen. Afrikanische Führer, die wie Patrice Lumumba im Kongo oder Thomas Sankara in Burkina Faso viel energischer als Mandela gegen die Interessen von Konzernen und Ex-Kolonialmächten handelten, wurden weggeputscht, ermordet und im Westen eher geächtet als betrauert.

Südafrikas Präsident Jacob Zuma hingegen darf man den Schmerz über den Verlust des einstigen Mithäftlings auf Robben Island abnehmen. Sein Versprechen „We will always love you, Madiba“ bleibt jedoch weit hinter dem zurück, was das Land tatsächlich braucht. Mandelas Vermächtnis zu bewahren, kann nicht bedeuten, dass sich zu weißen Ausbeutern nun schwarze gesellen. Dass inzwischen nicht nur weiße, sondern auch schwarze Polizisten Massaker unter protestierenden Arbeitern anrichten, wie das im August 2012 im Umfeld der Marikana-Mine geschehen ist. Und dass die Kluft zwischen Arm und Reich so groß ist wie nie zuvor am Kap und der ANC auf diese Zustände allein mit Worten reagiert. Es braucht mehr als Denkmäler für Mandela. Davon gibt es genug.

Die jungen Wilden des ANC

In der Bilderwelt des 20. und 21. Jahrhunderts haben Milliarden von Menschen Mandela aufblühen und altern sehen. Man erinnert sich des jungen schwarzen Anwalts beim Rivonia-Prozess, des grauhaarigen Mandelas nach 27 Jahren Haft, der ersten Szenen nach der Freilassung im Februar 1990 und der Aufnahmen mit Präsident Frederik de Klerk, als beiden 1993 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Man sieht Mandela bei den ersten freien Wahlen 1994 in Südafrika, mit Politikern wie Bill Clinton und Kofi Annan, Mandela mit Künstlern wie Michael Jackson oder bei den großen „46664 Concerts“ (die 46664 war seine Häftlingsnummer), die der Hilfe für HIV-Infizierte dienen sollten. Nie brauchte er diese Prominenten, um die eigene Popularität zu steigern, jeder fühlte sich geadelt, neben ihm fotografiert zu werden.

Als Sohn eines Häuptlings wurde Mandela am 18. Juli 1918 in Mvezo, einem Dorf im Distrikt Umtata in der Transkei, geboren. Wer damals als südafrikanisches Kind in einem Hospital für Afrikaner zur Welt kam, in einem Bezirk für Schwarze lebte und später – wenn überhaupt – eine Schule nur für Schwarze besuchte, wurde von Geburt an politisiert. So konnte denn auch Mandela zu Lebzeiten keinen Zeitpunkt benennen, an dem er sich entschied, sein Leben dem Freiheitskampf widmen zu wollen. „Es war eine Anhäufung von tausend verschiedenen Dingen, tausend Kränkungen und tausend Momenten, die Wut in mir erzeugten, eine rebellische Haltung, das Verlangen, das System zu bekämpfen, das mein Volk einkerkerte“, schrieb er in seiner Autobiografie.

Es verwundert nicht, dass bereits an der Fort Hare Universität, einem intellektuellen Zentrum des Widerstandes, sein politisches Engagement begann. In Fort Hare lernte er Oliver Tambo kennen, mit dem er später die erste schwarze Rechtsanwaltskanzlei Südafrikas gründete, um als Jurist auf dem Weg in die schwarze Elite zu sein. Dann aber stieß er zu den jungen Wilden im ANC, die sich nicht mit Gesprächskreisen begnügten, sondern Aktionen wollten – denen eine einzige Nation aus vielen Stämmen und die Befreiung der Afrikaner durch Afrikaner vorschwebte. Den Gedanken, einer weißen Regierung könne das Wohl der Schwarzen am Herzen liegen, wiesen sie zurück. Hatte man ihnen nicht 87 Prozent ihres Territoriums geraubt durch den Land Act von 1913, hatte man sie nicht in übervölkerte Slums verfrachtet durch den Urban Act von 1923, hatte man ihnen nicht die Zukunft verbaut durch das Verbot, einen Fachberuf auszuüben, wie das 1926 dekretiert wurde?

Mandela trat 1944 dem ANC bei und half, gemeinsam mit Walter Sisulu und Oliver Tambo die ANC Youth League zu gründen. Dass er Tambo Jahrzehnte später, nach dessen Rückkehr aus dem Exil, noch danken konnte, hat ihm viel bedeutet. Mandela wusste es besser als viele andere und sprach es aus, dass Tambo der Mann gewesen sei, der in den Zeiten harter Repressionen durch das Apartheid-Regime den Untergang des ANC verhinderte und ihn stattdessen zu einer Organisation mit Macht und internationalem Einfluss machte.

Noch in den fünfziger Jahren bekannte sich der ANC zum Prinzip des Gewaltverzichts. Die Wende brachte das Massaker von Sharpville im März 1960, als 69 Demonstranten erschossen wurden. Unter dem Eindruck dieses Exzesses der Polizei sprach Mandela von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes und wurde 1961 Anführer des Umkhonto we Sizwe, des bewaffneten Flügels der Befreiungsbewegung – verfemt, verfolgt, vor Gericht gestellt, freigesprochen, wieder ins Gefängnis verbannt, dann 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt wegen Sabotage und Planung des bewaffneten Kampfes, wie es im Urteil des Richters Quartus de Wet hieß.

Es folgen 27 Jahre Internierung, davon mehr als 18 auf Robben Island. Weitere acht Jahre verbringt er im Gefängnis Pollsmoor in Kapstadt. 1985 bietet man ihm die Freiheit an, sollte der ANC auf bewaffneten Widerstand verzichten. Mandela lehnt ab. Erst weitere fünf Jahre später wird er freigelassen. In geheimen Gesprächen haben sich zuvor der ANC und die Regierung – damals noch unter Präsident Pieter Willem Botha – geeinigt, gemeinsam auf einen friedlichen Übergang hinzuarbeiten. Noch am Tag der Freilassung, am 11. Februar 1990, hält Mandela seine historische Versöhnungsrede vor mehr als 100.000 Menschen im Stadion von Soweto. Es ist wohl sein größtes Verdienst, dass in Südafrika die Apartheid ohne Bürgerkrieg abdanken kann.

Erinnern ja, verklären nein

Was dann kommt, hat wenig Ähnlichkeit mit dem, wovon Mandela in vielen Nächten vor seiner Freilassung träumte. „Ich hatte Sehnsucht danach, einige Fäden meines Lebens, das ich als junger Mann geführte hatte, wieder aufzunehmen, morgens ins Büro zu gehen und abends zu meiner Familie nach Hause zu kommen.“

Als es 1990 so weit ist, glaubt er, dazu kein Recht und mit 71 Jahren auch keine Zeit mehr zu haben. Er führt schwierige Verhandlungen nicht nur mit den Präsidenten in jener Zeit – erst Botha, später de Klerk –, auch mit schwarzen Führern, die andere Vorstellungen von der Zukunft des Landes haben als der Afrikanische Nationalkongress. Er kämpft um Frieden in der Provinz Natal, die zu einem Schlachtfeld wird, auf dem Zulus Zulus töten. Er sucht zu vermitteln zwischen weißen Ängsten und schwarzem Überschwang in einer Zeit der Transformation, die unwiderruflich sein soll. „Von all den Themen, die den Friedensprozess behinderten“, schrieb er später, „war keines so verheerend und frustrierend wie die Eskalation von Gewalt im eigenen Land.“ Die Polizei schürte sie teilweise mit aller Vehemenz, als wollte man vor dem Abtritt der weißen Herrschaft so viele Schwarze wie möglich töten. Auch auf der anderen Seite haben mit der Aussicht auf einen Wandel nicht allein die Friedfertigen das Sagen.

Nelson Mandela stärkt in dieser Situation die Basis des ANC und gewinnt 700.000 neue Mitglieder für sein Versöhnungswerk, zu dem es aus seiner Sicht keine Alternative gibt. Das alles sei als enorme Leistung eines außergewöhnlichen Menschen erinnerlich, aber verklären sollte man nichts, meint Denis Goldberg, ein alter Kampfgefährte, als wir im März 2013 über Mandela reden. „Dieses Land darf auf ihn nicht wie auf einen Heiligen schauen und dann auf den nächsten Messias warten. Woher sollte der kommen? Und vor allem – wer sollte das sein? Es gilt, sich zu erinnern und von Mandela zu lernen – strategisches Denken, Integrationsvermögen, Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Diese Tugenden braucht unser Land mehr als jede Heldenverehrung und unzählige Straßen oder Schulen, die seinen Namen tragen.“

Der Nachholbedarf war riesig

Im Post-Apartheid-Südafrika herrschte Anfang der neunziger Jahre zunächst eine fast schon euphorische Aufbruchsstimmung. Davon getragen gewann der ANC 1994 die ersten freien Wahlen mit mehr als 62 Prozent der abgegebenen Stimmen – Mandela wurde Präsident. In fünf Jahren Regierungszeit gelangen ihm wichtige Reformen: Vom Staat finanzierte preiswerte Häuser sollten das Elend in den Townships mindern, Schwarze bekamen auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen, eine primäre Gesundheitsfürsorge wurde für alle Südafrikaner kostenfrei. Was allein in der Bildung nachgeholt werden musste, war ungeheuer. Als sich „Madiba“, wie ihn seine Anhänger nennen, 1999 zurückzog, waren viele ernüchtert und desillusioniert. So, wie sie ihn erwartet hatten, kam der Wandel nicht zustande, auch wenn Thabo Mbeki als Nachfolger Mandelas für den ANC mit sagenhaften 66 Prozent Stimmenanteil noch einmal einen überragenden Wahlsieg feiern konnte.

Mandela hat als Politiker immer das parlamentarische System des Westens bewundert. „Ich halte das britische Parlament für die demokratischste Institution der Welt“, erklärte er im Rivonia-Prozess und hielt daran fest. „Ironischerweise ist es diese Demokratie, die im Südafrika von heute zu einer nie da gewesenen Ungleichheit geführt hat“, sagt Professor Adam Habib, Vizekanzler der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. „Aber wenn die vom ANC einst gesetzten Ziele nicht erreicht wurden, ist das nicht das Ende der Geschichte.“

Nur wer wird sich dieser Geschichte annehmen? Welche Kader? Es war ein Vorzug Mandelas, dass er vielen Aktivisten die Chance zur politischen Karriere geben wollte, sowohl im ANC als auch in der Gewerkschaft COSATU. Er schätzte die Kompetenz derer, die nicht im Exil waren, deshalb Südafrika oft besser kannten als die Emigranten und Verantwortung übernehmen sollten.

Als Staatsoberhaupt sind Mandela zu seinen Lebzeiten Thabo Mbeki und Jacob Zuma gefolgt. Es gibt weiterhin eine achtbare Zahl kluger und begabter ANC-Politiker. Wie viele davon allerdings Mandelas Credo folgen, Diener des Volkes zu sein, ist schwer zu sagen. Von Gewalt gegenüber politischen Gegnern bleibt Südafrika ebenso wenig verschont wie von Korruption und Misswirtschaft. Warum sollte es am Kap anders sein als in vielen anderen Staaten? Wegen Mandela? Ist Indien ein Paradies, weil es einst Mahatma Gandhi gab?

An seinem 80. Geburtstag, am 18. Juli 1998, heiratete Mandela Graça Machel, die Witwe des einstigen mosambikanischen Präsidenten Samora Machel. Sie stand ihm zur Seite, als 2005 sein zweiter Sohn an Aids starb; den ersten hatte er bereits 1986 bei einem Flugzeugunglück verloren. Sie war bei ihm, als die Urenkelin während der Fußball-WM 2010 ums Leben kam und die ganze Nation ihn im Stadion erwartete. Madiba litt, aber er kam, diszipliniert wie immer, und diente seinem Land. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.

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