Das Buch Du bleibst, was Du bist des Journalisten Marco Maurer erinnert uns an eine alte, stetig brennende Wunde der bürgerlichen Gesellschaft: Chancengleichheit. Haben Kinder aus benachteiligten Familien die gleichen Chancen, zu lernen und Abschlüsse zu erringen wie der Nachwuchs der Schönen und Reichen, wie man es abkürzen kann? Nein, haben Sie nicht! Schreibt @herrmaurer, wie er bei Twitter heißt. Und er hat Recht. Aber er hat halt auch nicht Recht. Nicht mehr. Glücklicherweise! Sein Werk ist, so aktuell es auf den ersten Blick anmuten mag, von gestern.
Die Zeit hat ihrem Autoren, der vor zwei Jahren mit einer brillanten wie erschütternden Geschichte die Seite eins des Wochenblattes bespielte, erneut viel Platz eingeräumt, um Frank-Walter Steinmeier, Cem Özdemir, Bahnchef Rüdiger Grube und andere im Jahr 2015 nochmal ihre Geschichte erzählen zu lassen. Diese individuellen Erzählungen des Aufstiegs werden mit einer Behauptung untermalt, die das ganze Buch durchwabert: In den 1970ern sei es einfacher gewesen als heute, die sozialen und gesellschaftlichen Barrieren zu überwinden – und aufzusteigen. „Wenn drei von vier Kindern den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht übertreffen, dann ist klar, dass hier irgendetwas schief läuft“, so illustriert Außenminister Steinmeier die Grundthese.
Sorry, werter Herr Außenminister, aber das ist Quatsch. Jedenfalls stimmt es nicht in dem Sinn, den Sie und auch Maurer insinuieren. Viele Kinder schaffen es heute nicht mehr, den Abschluss ihrer Eltern zu übertreffen, ja. Aber sie schaffen es nicht, weil der eben wahnsinnig hoch ist – und nicht etwa, weil das Bildungssystem so verdammt schlecht und ungerecht wäre.
Aber das ist nur ein historischer Fehler, gewissermaßen ein Timelag-Problem, das dem Autor (und einigen Rezensenten) unterläuft, weil sie die sehr eindrücklich geschilderten Bildungs-Geschichten aus den 1960er und 1970er Jahren einfach in die Jetztzeit verschieben. Aber auch ein sehr guter Text kann die historischen Fakten nicht übermalen – und schon gar nicht die aktuellen.
Die Abiturraten seit 2013 sind überhaupt nicht mehr mit denen der 1970er Jahre vergleichbar. Damals gab es nur etwa 20 Prozent Jugendliche eines Jahrgangs, die das Abi schafften, genauer: das Abitur machen durften. Inzwischen aber sind es 60 Prozent. Man muss sich vor Augen halten, was das bedeutet: Sechs von zehn Kindern eines Jahrgangs ergattern die Hochschulreife, und viele von ihnen studieren anschließend auch.
Das ist eine gigantische Zahl, deren vielfältige Auswirkungen und Implikationen in ihrer ganzen Breite noch gar nicht verstanden wurden. Nur eines ist vollkommen klar: Die scharfen Ausschließungstendenzen des Bildungssystems, die der Autor und seine prominenten Testimonials beschreiben, gibt es so nicht mehr. Jedenfalls dann nicht, wenn rund 60 Prozent der Schüler und Studierenden halbwegs gut durchs System manövriert werden. Auf deutsch: Wenn sie etwas daraus machen. Wenn sie die Chancen nutzen, die sie sich erarbeitet haben und die ihnen auch gegeben werden. Es findet gerade eine soziale Revolution bei der Zuteilung von Bildungschancen statt, ganz real – aber Marco Mauer sieht sie nicht. Maurers Text hätte in die Rubrik "Geschichte" ganz gut gepasst, in der Rubrik "Chancen" hat er nichts verloren.
Hier sind wir bei dem Teil, der auch ein sehr eindrucksvoll geschriebenes Buch auf eine Art wertlos macht. Denn die Probleme, die Maurer so eloquent beweint, sie sind aus der Zeit gefallen. Es gibt sie wohl noch, kein Bildungssystem war jemals oder wird irgendwann wirklich gerecht sein. Das so sehr beklagte, ungerechte dreigliedrige System aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium zum Beispiel, es löst sich seit rund zehn Jahren auf. Das bedeutet, längst stellen sich andere Fragen als die, die der Autor immerfort stellt.
Zum Beispiel ist es nicht mehr so spannend, wie wir den Anteil an Gymnasiasten, Studenten, Akademikern quantitativ erhöhen können, sondern heute ist die Frage wichtig, wie wir dieser großen Zahl qualitativ gerecht werden können.
Und es drängt die Frage, wie wir die duale Ausbildung retten können, die durch den Drang zu Abitur und Studium ausgezehrt wird.
Oder: Wie wir die heutigen Bildungsarmutskerne, die Ghetto- und Verliererschulen, knacken können. Dazu gehören gerade Sonderschulen und die so genannten Willkommensklassen für Flüchtlingskinder, die wie Pilze aus dem Boden schießen.
Oder: Wie wir die begonnene chaotische Metamorphose von einem geschlossenen dreigliedrigen System in ein beidseitig nach oben offenes zweigliedriges Schulsystem von Gymnasium und (vereinfacht) Sekundarschule sinnvoll meistern.
Davon steht leider zu wenig bei Marco Maurer, der sich bisweilen genau in dem gefällt, was er an manchen Stellen in seinem Text kritisiert: Wie eine elitäre Klasse von Akademikerkindern im Leben, gerade aber in den Medien mit schönen Worten die harten Fragen übertönt. Chancen und Gerechtigkeit freilich vertragen nicht eine Sekunde die anmutige Melancholie, die sich in Maurers Buch ausbreitet. Heute geht es nicht mehr darum, Nachteile zu bejammern, sondern Chancen zu ergreifen.
Marco Maurer Du bleibst, was du bist Droemer 2015, 384 S., 18,00 €
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