Datenschutz statt DigiBlaBla

Bildung Das Buch "Die digitale Bildungsrevolution" macht es sich zu einfach. Lehrer brauchen keine Lobhudelei des neuen Lernens, sondern Antworten für den pädagogischen Alltag
Birgt digitale Bildung den Schrecken George Orwells?
Birgt digitale Bildung den Schrecken George Orwells?

Bild: Damien Meyer/AFP/Getty

"Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt", schreiben die Autoren. "Jede richtige und falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird genau erfasst."

Es ist die Welt eines Bildungs-Überwachungsstaates, die in dem Buch Die digitale Bildungsrevolution aufscheint. Ermöglicht durch Online-Kurse, die Algorithmen von Lernplattformen und die Observierungsfunktion digitaler Lehrerzimmer. „Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird", steht da. Und tatsächlich sprechen die Autoren aus, worum es geht: "Digitale Bildung birgt ... den Schrecken George Orwells."

Geschrieben hat das Buch kein kritischer Bildungsnerd und kein Schul-Che-Guevara, sondern der Vorstand der feinen Bertelsmann-Stiftung. Jörg Dräger bläst allerdings wegen der Überwachungsschule die große Veränderung des Lernens nicht etwa ab. Digitale Gagdets und das Netz bleiben bei ihm cool, ja notwendig. Dräger und sein Co-Autor Ralph Müller-Eiselt schränken nicht mal ein, sondern fahren ungerührt fort. "Deutschland braucht die digitale Bildungsrevolution“, heißt der Abschnitt nach der Schüler-Stasi-Passage. Erst warnen, dann einfach weiter machen – das kriegt nur Dräger hin, Ex-Roland-Berger-Berater, Ex-Wissenschaftssenator in Hamburg, aber immer Vermarktungsgenie. Jetzt vermarktet er Lernen2.0 – und sich.

Das Netz und seine Plattformen bieten enorme Möglichkeiten, das Lernen besser und leichter zu machen. Das beweisen kollaborative Schreibblogs von Schulen im ganzen Land. Oder die fantastischen multimedial gestalteten E-Books von Schulklassen, bei denen jeder Schüler sein individuelles produziert. Oder die Möglichkeiten, besondere Schüler durch die multimedialen Möglichkeiten ins Lernen zu integrieren - seien es hochbegabte Schüler, solche mit Handikaps oder Flüchtlingskinder. Aber ganz so leicht wie die Bertelsmänner Dräger und Co. können es sich Lehrer selbstverständlich nicht machen. Sie haben mehr Verantwortung als die elitären Buchschreiber. Etwa für die Unversehrtheit ihrer Schülerpersonen. Sie müssen auch Eltern Rede und Antwort stehen. Ihre Antwort auf die Frage nach Datenschutz in Lernplattformen kann nicht heißen: Fortschritt! Bildungsrevolution!

Das Netz bringt für Schüler nicht nur Kollaboration und Kreativität, sondern sehr konkrete, alltägliche Risiken. Zum Beispiel beim Datenschutz: künftige Lehrer und auch Arbeitgeber sehen eben nicht nur die Erfolge, sondern auch die Unglücke in den Lernbiografien ihrer Schüler. Oder beim "digitalen Exhibitionismus": die Verführung, ja, der Zwang sich im Netz zu präsentieren, öffnet Persönlichkeitsverletzung, Mobbing und Grooming von Schülern Tür und Tor. Das nackte Kleinkind auf Facebook hinterlässt genauso eine ewige Spur im Netz wie das Sexting-Foto, das das Teenie-Mädchen seinem Freund schickt. Oder Strahlung: Ob man das für real hält oder nicht, in Lehrerzimmern herrscht oft Angst vor Strahlen. Eine Schulleiterin muss eine solche Furcht adressieren – anders als der mächtige Bertelsmann-Chef. Er und sein Co-Autor werden der Unterzeile ihres eigenen Buches nicht gerecht: sie zeigen eben nicht, "wie man den radikalen Wandel des Lernens gestalten könnte", schon gar nicht sicher.

Soll man die Digitalisierung der Schulen deswegen gar nicht ersten Angriff nehmen? Nein. Aber man muss Antworten geben, die Lehrern in der täglichen Arbeit helfen und Eltern die begründeten Sorgen nehmen. Der Datenschutz, das zeigen Lehrerblogger-Netzwerke wie der allwöchentliche EducationChat auf Twitter, spielt derzeit eine größere Rolle als der Kinderschutz vor Missbrauch im Netz. Man muss also aufzeigen, dass es Mittel gegen den Missbrauch von Big Data in der Schule gibt, und zwar gerade dann, wenn man die Individualisierung des Lernens vorher gefeiert hat.

Inzwischen gibt es in mehreren Bundesländern Beispiele, wie man Datenschutz auf Lernplattformen organisieren kann. In Bremen etwa haben Landeselternrat, Personalvertretung, Lehrerbildungsinstitut und die Plattform itslearning gerade eine Dienstvereinbarung über den Schutz der Daten ausgehandelt und unterschrieben. Ein Element: Die Plattform vergisst die Aufs und Abs der Schüler nach einem Jahr. Die Lehrer fühlen sich so auf dem Weg ins virtuelle Lernen auf sicherem Boden. Auch die Eltern stimmen dem virtuellen Klassenzimmer nun öfter zu.

Die Diskussion über die digitale Schule gibt es schon lange. Es wird höchste Zeit, dass wir den Diskurs endlich aus der Lobhudelei und der Kritiklosigkeit eines oberflächlichen DigiBlabla herausholen.

Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können DVA, 240 Seiten, Euro 17,99 (E-Book 13,99)

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