Sexuelle Gewalt Alessandro Piperno zieht in seinem Roman „Die Verfolgung“ einen haarsträubenden Vergleich, der die Missbrauchsdebatte nicht weiterbringt
Alessandro Piperno ist mit seinem neuen Buch etwas gelungen, was eigentlich nicht geht. Er hat daraus eine betörende Stilübung gemacht – und zugleich eine erschreckende und abstoßende Abhandlung über sexuelle Gewalt. Einmal ist Die Verfolgung ein kleines Kunstwerk des spiralförmigen Erzählens. Der 1972 geborene italienische Schriftsteller, der gleich mit seinem Debütroman Mit bösen Absichten auch bei uns bekannt wurde, nähert sich seinem Thema in Kreisbewegungen. Dazwischen präpariert er Einschübe, Reflexionen und Rückblenden, die den Leser bisweilen über viele Seiten entführen und ihm wieder und wieder neue Sichtweisen eröffnen. Besonders gut gelingt dies dem in Italien und Frankreich gefeierten Romancier, al
eierten Romancier, als er den Kern seines Themas freilegt. Wie beim Schälen einer Artischocke wird die Antwort auf die entscheidende Frage jedes Missbrauchs differenzierter und substanzieller beantwortet: Was ist passiert, als sein Held, der 48-jährige Leo Pontecorvo, mit der kindlichen Freundin seines Sohnes allein einen Nachmittag verbrachte?Der erfolgreiche Kinderarzt war an diesem Tag des gemeinsamen Skiurlaubs der Familie Pontecorvo mit Camilla, der Freundin des jüngeren der beiden Söhne, dazu bestimmt, den Tag mit dem asthmatischen Mädchen zu gestalten. Camilla ist eine Kindfrau, die „zu groß und zugleich zu klein ist für ihr Alter“. Interessanterweise will sie mit den Pontecorvos in den Skiurlaub fahren – mit der beinahe gleichen Energie aber möchte sie eben nicht Ski fahren. Es kommt der entscheidende Moment, auf den man so gespannt ist, weil man verstehen will, ob und – falls ja – wie sexuelle Gewalt ausgeübt wurde: „Er hatte sie berührt, wie sie berührt werden musste. Mit diesen entschlossenen, präzisen Gesten, die jedoch frei von jeder Gewalt waren.“ Aber da errettete Leo die 12-Jährige nur von einem Asthmaanfall, ansonsten gab es nur Briefe, deren Inhalt der Leser nicht erfährt.Das sind die intensivsten Stellen des Buches, fesselnd, atemlos, aber es wird darüber zu sprechen sein, ob sie auch inhaltlich gelungen sind. Denn das zweite Kapitel ist zugleich ein ungeheurer Affront, von dem man nicht weiß, welche Absicht Piperno hegt – in ihm steckt eine Verschwörung biblischen Ausmaßes.Ein ParadoxAlessandro Piperno beginnt die Beschreibung der tatsächlichen oder vermeintlichen Tat mit einem virtuosen Dialog. Der ins Unglück zu stürzende Held und seine Frau Rachel streiten darüber, ob die italienischen Sicherheitskräfte recht daran taten, die Festnahme der Männer zu verhindern, die einst auf dem gekaperten Kreuzfahrtschiff Achille Lauro einen Reisenden töteten. Um es genau zu sagen: Die Festnahme von palästinensischen Terroristen, die den Juden Leon Klinghoffer exekutiert hatten, durch US-amerikanische Sreitkräfte. Die jüdischen Eheleute duellieren sich geradezu um das Recht der Regierung Craxi, den Amerikanern die Stirn zu bieten, dass es den Leser erst entzücken muss und dann aufs tiefste betrüben: Denn Leo Pontecorvo, der lässige reiche Jude, der sein Volk anders als Rachel nicht mehr in der ewigen Opferrolle sehen mag, wird am Ende des Romans als Opfer dastehen: Als Opfer „der kleinen Nutte“, wie er dauernd wiederholt, die ihn mit einem abgefeimten Plan so tief in den Verdacht gedrückt haben wird, dass er als versuchter Vergewaltiger eines Kindes dasteht.Ohne sich verteidigen zu können, weder juristisch noch moralisch noch irgendwie sonst, allein gelassen, wird er sein Schicksal mit der gleichen Fügsamkeit annehmen, „mit der sich so viele seiner Glaubensgenossen vor einigen Jahrzehnten in plombierte Wagons haben verladen lassen, ohne sich zu wehren“.„Missbraucher = Opfer = Juden“: Diesen wahnwitzigen Vergleich zieht Piperno, und es wird an dieser Stelle Zeit, nicht mehr über das Buch zu sprechen, sondern über den Autor und über den Verlag, der ein solches Buch auf den Markt bringt. Welchen Diskurs will der Fischer-Verlag damit in Deutschland beginnen, immerhin einem Land, das sich seit Januar 2010, als die systematischen Missbräuche am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurden, in einer Art Ausnahmezustand bei den Berichten über sexuelle Gewalt befindet? Vermutlich will man gar keinen Gegenspin erzeugen, der „zeigt“, dass hier nicht ein armes Kindlein Opfer von Priestern, Pädagogen oder Päderasten ist, sondern ein 12-jähriges Mädchen zur Täterin werden kann, die einen vollkommen unschuldigen Mann so schachmatt setzt, dass die Ermittlungsbehörden, die Öffentlichkeit, selbst die Familie und der Anwalt den armen Leo Pontecorvo fallen lassen, von einem Augenblick zum nächsten? Nein, vermutlich geht es nur darum, zu dem gerade sehr aktuellen Thema Missbrauch etwas beizusteuern, irgendetwas, und sei es ein völlig abstruser Vergleich.Literatur ist frei, und es geht überhaupt nicht darum, den möglichen Zusammenhang zwischen historischer Tätergesellschaft und Missbrauch einem Denk- und Diskurstabu zu unterwerfen. Im Gegenteil. Es ist alle geistige Anstrengung wert zu diskutieren, warum in einem über dreijährigen Marathon der Enthüllungen von kriminellen wie intellektuellen Taten und Täterlobbys es möglich ist, dass die wirklich nachhaltige Empathie hier doch eher dem Täter gilt, seiner Psyche, seinen Tatmotiven, dem möglicherweise verführerischen Kontext, dem er erlegen sein könnte. Piperno fehlen, so eindringlich er seinen Helden untergehen lässt, beim Beschreiben dessen, was zwischen Erwachsenen wie zwischen Erwachsenen und Kindern körperlich geschieht, die Worte, er ist buchstäblich blind für die Nuancen von Macht und Sexualität, von Scham und Schuld, die in asymmetrischen sexuellen Verhältnissen zutage treten. Um es genauer zu sagen: Sein Held Leo soll blind dafür sein, aber der Autor darf es nicht.Wir stehen in Deutschland vor einem empirischen wie geistigen Paradox. Der Maskenmörder und Kinderschänder ruft große öffentliche Abscheu hervor. Aber die Zehntausenden Opfer sexualisierter Gewalt, die es jährlich gibt, auch diejenigen, die nach vielen Jahren den Mut finden, vom Missbrauch durch, sagen wir, Klaus Kinski oder den Odenwald-Haupttäter Gerold Becker oder einen bekannten Pater zu berichten, können dennoch nur wenig Hilfe erwarten. Stoff für Romane und literarische Bearbeitungen von sexuellem Missbrauch, wie der Tatbestand juristisch heißt, gäbe es genug. Vielleicht geht es dann auch mal eine Nummer kleiner. Erinnern wir uns. Als die literarische Zeitschrift Akzente sich dem Thema näherte, machte sie es Hartmut von Hentig möglich, die Missbrauchsvorwürfe gegen seinen Freund und Mitbewohner Gerold Becker irgendwie mit Jesus Christus in Verbindung zu bringen – weil auch der das Gute gewollt, aber dennoch gekreuzigt worden sei. Warum muss Missbrauch immer gleich mit den ultimativen religiösen Figuren und Fata verknüpft werden?Akt der FluchtDie Geschichte der Päderastie ist ein seit der griechischen Antike nicht enden wollender Versuch, sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu bagatellisieren. Man darf das nicht unterschätzen. Denn es ist für den einzelnen Täter sehr praktisch, sich im Schönreden der Tat vor sich selbst und der Gesellschaft einer Ideologie zu bedienen. Das beginnt mit dem pädagogischen Eros des Sokrates, setzte sich mit dem Hohelied auf die Inversen in der Jugendbewegung fort und machte Zwischenstation bei den 68ern, als diese die sexuelle Befreiung der Kinder als Ideologie propagierten und einige die Kinder dabei auf ihren Schwanz lenkten. Sie hat sich festgesetzt in den Kindfrauen der Mode-Fotografie und im Film. Und es gibt die Rechtfertigungsliteratur auch als verzweifelten Akt der Flucht in eine überdimensionale Parabel wie bei Pipern o mit dem verfolgten Juden.Von ganz weit hinten klingt das ideologische Rüstzeug für das Kindsopfer an, das schrecklich sei – und doch unvermeidbar für das Überleben des Volks. Vielleicht ist es aber viel einfacher: „Solange man nicht begreift, dass die sexuelle Ausnutzung der kindlichen Unterlegenheit zu unserer Kultur gehört wie zu jeder bisher bekannten, werden wir nicht erkennen, dass wir nicht über ein paar sexuelle Außenseiter sprechen, sondern über uns“, schrieb Arno Widmann gerade in einem Feuilleton.
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