Glückliches Ende bei G8

Schulpolitik Das Turboabitur hat die Attraktivität des Gymnasiums verringert. Das wertet die Gesamtschule auf. Folgt nun ein demokratisches Schulwesen?

Die Aktion „Atemlos zum Abi“ war von Anfang an ohne Plan. Der Weg zur Hochschulreife wurde um ein Jahr verkürzt, Schüler gehen seitdem statt neun nur noch acht Jahre lang auf eine weiterführende Schule. Offizieller Name der Operation war G8, Gymnasium mit acht Jahren. Nur: Eine pädagogische Reform des Gymnasiums blieb aus. Das Turboabitur war möglicherweise gut gemeint, in jedem Fall aber schlecht gemacht. Trotzdem könnte es sich nun als Gewinn für das deutsche Schulsystem erweisen.

An der Ex-und-Hopp-Reform litten zunächst die Schüler genauso wie die Schulen, und die Elternschaft wurde in ihrer Auffassung bestärkt, dass Politik Schule überhaupt nicht kann. Nun wollen viele Politiker die Reform hin zum achtjährigen Gymnasium durch Lockerungen und Ausnahmen entschärfen.

Erstmals zwei gleichwertige Schulformen

Das wird, so ist zu befürchten, die aufgeschreckten Gymnasien zwar nicht zur Ruhe bringen. Paradoxerweise liegt im G8-Desaster dennoch eine historische Chance: Die Abiturienten könnten klug auf Gymnasium und Gesamtschule verteilt werden.

Das Land Niedersachsen versucht das jetzt. Die rot-grüne Koalition will den Gesamtschulen den gemütlicheren Weg zum Abitur ebnen. Das soll eine Entscheidung zurücknehmen, die die schwarz-gelbe Vorgängerregierung gegen wütende Proteste von Gewerkschaften, Gesamtschulen und Eltern durchgesetzt hatte: dass auch die integrierenden Schulen das Schnellabi durchführen müssten – weil es angeblich ungerecht wäre, wenn nur Gymnasien das Abitur nach acht Jahren vergeben.

Ein solcher Zickzackkurs ist kaum nachvollziehbar, am wenigsten für die Eltern. Warum sollte daraus noch etwas Gutes entstehen können? Weil die Verteilung „G8 am Gymnasium“ und „G9 an der Gesamtschule“ erstmals zwei gleichwertige Schulformen nebeneinander schaffen würde, die beide eine anspruchsvolle Schülerklientel anziehen.

Eltern wollen mehr Zeit

Die Erfahrung aus Niedersachsen deutete dies bereits seit längerem an: Viele Eltern, die ihre Kinder sonst wie selbstverständlich aufs Gymnasium schickten, wählten immer häufiger die Gesamtschule, weil dort ein Jahr mehr Zeit zum Abi ist. Daraus entstand in Niedersachsen ein kleiner Boom an den Gesamtschulen – und die Gymnasien fürchteten erstmals in ihrer rund 200-jährigen Existenz um ihre Vorrangstellung als privilegierte Abituranstalten. Genau das war der Grund, warum die konservative Schuladministration in Niedersachsen auch die Gesamtschulen auf den Schnellkurs zwingen wollte. Man kann das durchaus bösartig nennen.

Berlin ist als Stadtstaat ein Sonderfall. Dennoch lässt sich hier seit drei Jahren beobachten, dass das Turboabitur eine neue, gute Balance entstehen lässt zwischen Gymnasien und Gesamtschulen, die in der Hauptstadt Sekundarschulen heißen. In Berlin gilt das Prinzip „G8-Gymnasium G9-Sekundarschule“. Nun ist im dritten Jahr hintereinander etwas Überraschendes geschehen: Die am meisten nachgefragten Schulen sind nicht die Gymnasien, sondern Sekundarschulen – und das, obwohl der Elternwille das wichtigste Kriterium für die Entscheidung ist.

Als das Experiment „freie Wahl zwischen Gymnasien und Gesamtschulen“ unter dem damaligen SPD-Schulsenator Jürgen Zöllner 2010 begonnen hatte, war allgemein ein großer Run auf die Gymnasien befürchtet worden. Einige hatten sogar geglaubt, die Sekundarschulen verkämen zu Restschulen, weil alle auf die Gymnasien drängen. Das war eine Fehleinschätzung.

Wo ist die Crème der Schüler?

Die Schulwahl in Berlin ist kompliziert, keine Frage. Und es schimpfen immer einige Eltern. Aber dennoch ist bei den Abwägungen, die auch akademische Eltern führen, immer dieses Argument zu hören: „Ich würde mein Kind gerne aufs Gymnasium geben, aber wenn es das Abitur an der Sekundarschule in neun Jahren machen kann, dann gebe ich ihm gerne diese Zeit.“

Das schafft eine völlig neue Situation. Seit Einführung der Gesamtschulen in den siebziger und achtziger Jahren hatten deren Anhänger immer den Creaming-Effekt beklagt. Das bedeutete, dass bei einem Nebeneinander von Gymnasium und Gesamtschule stets die Eliteanstalt die Crème der Schüler bekommt – und die guten Schüler aus der Gesamtschule herausziehen würde.

Tatsächlich zeigen Studien seit den siebziger Jahren, dass die Gesamtschulen nie mit den Gymnasien mithalten konnten, weil das bürgerliche Publikum lieber dem homogenen Original vertraute, als der heterogenen Alternative, der die Leistungsspitze fehlte.

Das ist nun anders, zumindest in Berlin. Nicht alle, aber viele Sekundarschulen haben Schüler mit Gymnasialempfehlungen an Bord. Sie wirken wie positive Vorbilder und verhindern jenen Effekt, der in der Pisa-Forschung unter dem Stichwort „differenzielle Lernmilieus“ beschrieben wird. Er bedeutet, vereinfacht gesagt, dass sich gute und schlechte Schüler in unterschiedlichen Schulformen konzentrieren. So entstehen, im schlimmsten Fall, auf der einen Seite Schulen voller hoffnungsloser Fälle, und auf der anderen Seite sammelt sich die Elite der Schülerschaft in den Gymnasien.

Vergleicht man die sozialstrukturelle Verteilung zwischen den Schulformen, so ist Berlin, wenn man so will, auf dem Weg zu einer demokratischen Schule – zum ersten Mal in der deutschen Geschichte. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden einheitliche Abschlussprüfungen an den höheren Schulen eingerichtet. Daraus entstand erst das Abitur und dann die Gymnasien als die privilegierten Prüfungsorte dafür. Damals tat sich ein tiefer Graben zwischen den Gymnasien und den anderen Schulen auf, den Latein-, Stadt-, Bürger- und Realschulen. In Berlin kommt das Abitur gewissermaßen nach Hause zum Volk.

Und in Bayern?

Dennoch ist die Reform kein Selbstläufer. Wer genauer hinschaut, wird feststellen: Das Gymnasium ist durch die rabiate G8-Einführung immer noch verunsichert. Und die Sekundarschule kann ihrer neuen gymnasialen Klientel nicht immer die anspruchsvollen Angebote machen, die diese sich wünscht. Was bedeutet das? Im Ringen um eine gute und demokratische Schule ist allenfalls ein Etappensieg erreicht. Jetzt gilt es, das neue zweigliedrige System pädagogisch zu unterstützen: Das Gymnasium müsste seine Lehrpläne deutlich entschlacken; die Lehrerschaft der Sekundar- und Gesamtschulen muss lernen, mit ihren heterogenen Schülergruppen umzugehen.

Die offene Frage ist: Wie könnte ein Nebeneinander von Schulen mit zwei Geschwindigkeiten zum Abitur eigentlich in Bayern gelingen? Immerhin hat der Pisa-Primus praktisch keine Gesamtschule, von der legendären Willy-Brandt-Schule abgesehen.

Die bayerische Antwort könnte heißen, das neunjährige Abitur auch an den Realschulen anzubieten. Nirgends in Deutschland sind Realschüler besser als in Bayern. Es wäre eine Belohnung für die bayerischen Realschullehrer, wenn sie ein Abitur abnehmen dürften. Das Abi dort würde gewiss den Run auf diese Schulform verstärken. Und die bayerischen Betongymnasien müssten sich dann nach Schülern strecken – und reformieren.

Allerdings wäre eine solche Reform auch für die Realschulen in Bayern nicht zum Nulltarif zu haben: Sie müssten die bisherigen Hauptschulen aufnehmen. Glücklicherweise hat der listige bayerische CSU-Kultusminister Ludwig Spaenle diesen Schritt schon vorbereitet. Er hat die Hauptschulen einfach in Mittelschulen umbenannt. Damit sind sie vom Namen her schon so nah an den Realschulen dran, dass man sie gut fusionieren kann.

Christian Füller schreibt für den Freitag vor allem über Bildungsthemen

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Geschrieben von

Christian Füller

http://christianfueller.com

Christian Füller

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