Im Nerv getroffen

Bildung Eine Welle von Einser-Abis spült das traditionelle Gymnasium weg. Es wird Zeit für eine völlig neue Lernkultur
Ausgabe 29/2015
Schön, wenn so viele Abitur machen. Nur fehlt dazu die Infrastruktur
Schön, wenn so viele Abitur machen. Nur fehlt dazu die Infrastruktur

Foto: Hans Blossey/Imago

Stephan Dorgerloh ist kein besonders aufregender Typ. Ihm ist ein Wortwitz zu eigen, auf den man sehr genau Acht geben muss. Bloß nicht auffallen! Dorgerloh ist Kultusminister, da gehört das praktisch zur Stellenbeschreibung. Aber jetzt hat er sich was einfallen lassen – er hat Öl ins Feuer gegossen. Kurz vor den Sommerferien ließ Dorgerloh das Schuljahr bilanzieren. Seine Pressemitteilung steuert auf eine Zahl zu, die man geradezu suchte. Weil es derzeit das Thema ist: das Abitur! 25 Prozent der Sachsen-Anhaltiner Abiturienten haben ein Einser-Abitur bekommen. Jeder Vierte Bestnote! Verkündete Dorgerloh. Es scheint eine neue olympische Disziplin zu sein: mehr Abiturienten und zugleich mehr Einser! Vor allem die Ostländer schwelgen in den Rekordzahlen. In Thüringen sind es 38 Prozent mit einer Eins. Bald werden die Westländer nachziehen.

Lebenslüge der Deutschen

Die Debatte lodert schon länger. Angefangen hat es mit Julian Nida-Rümelin. Er beklagte, dass zu viele Schüler das Abitur machen wollten. Der Philosoph nannte das Akademisierungswahn – ein neuer Kampfbegriff war geboren. Zwei Jahre ist das her. Seitdem wird in immer neuen Varianten vor zu vielen Abiturienten gewarnt. Marcel Helbig, Forscher des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung, hat sich die Gymnasialzulassungen seit 1949 angeschaut und fand etwas Interessantes heraus: Wenn es große Jahrgänge gibt, dann ist es schwer, aufs Gymnasium zu kommen und das Abi zu kriegen. Gibt es aber nur wenige Schüler, drückt man am Gymnasium ein Auge zu – und schleppt auch mittelmäßige Schüler durch. Damit war die große Lebenslüge der Deutschen aufgedeckt. Das Gymnasium ist keine meritokratische Anstalt, die streng nach Leistung aufnimmt. Sie vergibt ihre Berechtigungen nach Angebot und Nachfrage.

Nun ist die Empörung groß. Die FAZ fordert die Kultusminister zum Handeln auf. Weniger Abiturienten! Keine Noteninflation mehr! Der Präsident des Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, stößt ins gleiche Horn. Die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Patricia Lips (CDU), sagt gar: „Wenn die Länder wieder verstärkt Maßnahmen ergreifen würden, um den Übergang in weiterführende Schulen differenzierter zu steuern, würde ich dazu nicht Nein sagen.“ Auf gut Deutsch: Der Zugang zum Abitur soll wieder schwerer werden. Aber das geht ja nicht mehr. Der Geist ist aus der Flasche. Rechnerisch machen gerade 60 Prozent eines Jahrgangs Abitur. Das heißt, das Gymnasium ist die neue Hauptschule. Es findet eine erdrutschartige Veränderung der Bildungslandschaft statt. Aber da das Gymnasium im Zentrum der Veränderung steht, geht die Post nun richtig ab. Der Bildungsbürger ist in seinem Nerv getroffen.

Als Hamburg das Gymnasium unten um zwei Jahre kürzen wollte, stoppte das Bürgertum die Reform qua Volksabstimmung. Ähnlich läuft es mit der Verkürzung der Gymnasialzeit von oben – der Einführung des achtjährigen Gymnasiums G8. Sobald die bürgerlichen Eltern merkten, dass man Hand an ihre Schule legte, drängten sie auf Rückbau zum G9. Und die Politik gibt nach. Der Merksatz lautet: Wer das Gymnasium anfasst, der bekommt es mit den Eltern zu tun. Wer versucht, den Elternwillen zu umgehen oder gar zu brechen, der wird abgewählt.

Der Krach ums Abi ist nicht verwunderlich. Das Gymnasium ist eine deutsche Institution. Als 1834 das Abitur per Kabinettsorder des preußischen Königs eingeführt wurde, damit die Vorprüfungen an Universitäten wegfallen konnten, hatte das Gymnasium gewonnen. Es war nun Sprungbrett und Nadelöhr zugleich geworden. Wer nach oben wollte, musste aufs Gymnasium und Abi machen. Allerdings durften nur sehr wenige mit. Jeder Erweiterungsversuch seitdem, sei es der Streit um die Realgymnasien in den 1860er Jahren oder die Bildungsexpansion in den 1970ern, wird von aufgeregten Debatten begleitet. Hier die Lordsiegelbewahrer von Exzellenz und Qualität. Dort diejenigen, die die ökonomische Notwendigkeit von mehr Qualifikationen, also mehr Abiturienten betonen.

Das ist heute ähnlich, aber am Ende doch ganz anders. Die einen hängen zwar noch immer ihrem Bild von der Traumfabrik Gymnasium nach, nennen wir es das Feuerzangenbowlen-Gymnasium. Die anderen aber haben dieses Gymnasium durch die Öffnung längst ruiniert. Das Abitur kann nicht 60 Prozent und mehr eines Jahrgangs reich und glücklich machen. Das geht weder von den Chancen her, die den Abiturienten später geboten werden können. Noch von den Eignungen her, welche die neuen Oberschüler eben nicht immer mitbringen. Deswegen muss man die neuen Schüler nicht gleich wieder rauswerfen. Aber: Das Gymnasium für alle ist kein Gymnasium mehr. Es muss sich radikal ändern.

Das neue Abitur wird nicht mehr geprägt sein von Schulfächern auf Universitätsniveau und Humboldt’scher Persönlichkeitsbildung. Die Sekundärtugenden heute heißen „4K“: Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken. Andreas Schleicher, Chef der OECD-Bildungsabteilung und Pisa-Erfinder, hat die 4K jüngst als neue höchste Bildungsziele ausgegeben. Und so eingängig das Leitmotiv ist – wer wollte Kinder nicht kreativ und kritisch erziehen –, so sehr konfligiert es mit der alten Bildungsidee des Gymnasiums. Viele Studienräte – und nicht nur sie – übersetzen „4K“ ungefähr so: Kollaboration bedeutet „sich immer auf andere zu verlassen“. Kreativität übersetzen sie mit substanzlos. Kommunikative Schüler sehen sie eher als Angeber an. Und kritisches Denken ist in ihren Augen Synonym für „Rumnölen“.

Es stehen sich zwei grundlegend verschiedene Lernkonzepte gegenüber. Die fundamentale Differenz zwischen beiden ist der eigentliche Kulturkampf, der sich gerade abspielt. Er verläuft quer durch die Gesellschaft. Er wird nicht nur in den Feuilletons ausgetragen, sondern er findet jeden Tag zu Hause am Frühstückstisch statt. Dort treffen das Lernkonzept der Eltern und das ihrer Kinder schroff aufeinander: Die Eltern wünschen sich, dass ihr Nachwuchs fleißig ist und sich – im Humboldt’schen Sinne – in Latein, Mathe und Englisch vertieft. Die Kids aber sind lieber oberflächlich. Sie kommunizieren die ganze Zeit. Sie machen sogar ihre Hausaufgaben innerhalb von fünf Minuten – am liebsten im Smartphone auf einer Lernplattform wie Bettermarks oder Rosetta Stone. Jedenfalls stellen sie sich vor, dass Lernen so funktioniert, und sie werden dabei unterstützt von einer digitalen Lerngemeinde, deren heilige Prinzipien heißen: Copy, Remix und Share.

Das große Wehklagen

Dieser kulturelle Konflikt ist nicht gelöst. Er ist Ausdruck einer tiefen Krise, die das Bürgertum selbst teilt. Das kann man gut an der Einser-Schwemme sehen. Sie führt die Diskussion auf ihren dialektischen Scheitelpunkt: Alle wollen gute Noten. Die Eltern sind diejenigen, die am schärfsten darauf drängen, notfalls peitschen sie mit Nachhilfelehrern, Anwälten oder anderen Folterinstrumenten ihren Nachwuchs da durch. Aber genau diese Eltern sind zugleich jene, die das große Wehklagen gegen die vielen Einser-Abiture anstimmen. Die Noteninflation, die die Eltern angefacht haben, zerstört ihren eigenen Fetisch.

Freilich können sie diesen Konflikt noch nicht durchbuchstabieren. Sie verspüren ein Unbehagen gegen die neue Lernkultur. Sie leben die 4K zwar im Beruf längst, aber mit ihrer alten Vorstellung von Lernen, Vertiefen, Fleißigsein haben sie nichts mehr zu tun. Und jetzt sehen sie, dass ihre Lerntugenden und ihr Abitur weggeschwemmt werden von den vielen Einsern.

Außer Jammern ist dagegen kein Kraut gewachsen. Die Vorstellung, dass man sein elitäres humanistisches Gymnasium samt den Sekundärtugenden des 19. und 20. Jahrhunderts wieder reanimieren könnte, ist naiv. Wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass das alte Abi tot ist. Das neue aber können wir noch nicht hochleben lassen. Weil es noch zu amorph ist. Selbst das Zentralabitur, das gerne als Rettung gepriesen wird, kann die Situation nicht ändern. Es wäre ein Kraftakt, der Ferientermine, Abitureigenarten, ja die Schulsysteme planieren müsste – und die Bundesländer überfordern würde.

Da ist auch Kultusminister Dorgerloh wieder ganz bei sich. Er sagt: „Ein Zentralabitur kann und wird es nicht geben.“

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