Lernen, lernen, nochmals lernen

Bildung Jetzt tobt die große Abiturdebatte: Zu viele Schüler legen die Prüfungen ab und bekommen viel zu gute Noten. Alles falsch, weiß unser Experte
Ausgabe 25/2014
Lernen, lernen, nochmals lernen

Bild: Ulrich Baumgarten via Getty

Der Ton ist scharf. „Gleichmäßig strenge Handhabung des Abiturexamens ist das einzige Mittel, um zu erreichen, was Sie selbst, Herr Professor, wünschen, dass Schüler, die ‚nicht auf das Gymnasium gehören‘, beizeiten zurücktreten.“ So schrieb ein Schulrat klagend. Und der angezählte Professor äußerte sich nachdenklich, fragt nach den immer jünger werdenden Abiturienten, rätselt, ob „viele allzu früh von der Schule gelaufen und auch auf der Universität allzu bald sich dem Fachstudium zugewendet hätten“. Und ob am Ende wohl genug Zeit für „die wirkliche Bildung des inneren Menschen sei“? Diese Frage, offenbar ein Evergreen.

Was Sie hier lesen, sind Gesprächsfetzen aus dem 19. Jahrhundert. Sie entstammen einem gelehrten Dialog des Münsteraner Schulrats Paul Sauer, der sich an den Thesen des berühmten Bildungshistorikers Friedrich Paulsen abgearbeitet hat und Zeit seines Lebens nicht müde wurde, nachzudenken, ob das Abitur zu voll, zu leicht, zu früh oder für viel zu viele sei. Die Diskussion über eine „Reform der Reifeprüfung“ ist also weit mehr als 100 Jahre alt, und offenbar kein bisschen veraltet. Sie ist heute exakt die gleiche.

„Abitur für alle!“, schrieb die Welt am Sonntag gerade auf ihrer Titelseite. Und stellte diese ironische Zuspitzung zugleich als „bedenkliches Phänomen“ infrage. Dass so viele das Abi bekommen, dass es immer leichter werde und ihnen die guten Noten obendrein nachgeschmissen würden. Seit dem Jahr 2006 habe sich die Zahl der 1,0-Abiturienten in der Republik um 40 Prozent gesteigert. Diese Entwicklung lasse sich nur so beschreiben: „Aus dem Gymnasium wird die neue Hauptschule und das Abitur der neue qualifizierende Abschluss.“

Das freilich ist keine Zuspitzung, sondern eine lange währende gesellschaftliche Entwicklung. Und eine notwendige obendrein. Die vergleichende Schulstudie Pisa hat sie deutlich verschärft, als sie die deutschen 15-Jährigen vom Thomas-Mann-Olymp auf den harten Boden des Risikoschülers herunterholte. Aber den Trend gab es schon vorher. Eltern wollen, dass ihre Kinder Abitur machen. Das ist so. Und sie wollen nicht mal mehr in Bayern, dass ihre Kinder auf die Hauptschule gehen. Hunderte Hauptschulen hätten dort, im gelobten Land des berufsbildenden Abschlusses und des goldenen Handwerks, geschlossen werden müssen. Deswegen hat der bayrische Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) sie flugs in Mittelschulen umbenannt – um ihnen auf mittlere Sicht die Fusion mit den bayrischen Realschulen möglich zu machen. Genutzt hat die Aktion wenig. Das Schulsterben in Bayern geht munter weiter. Selbst in wacker CSU-regierten Gemeinden macht sich Unmut breit, dass Schüler Dutzende Kilometer übers Land gekarrt werden müssen, um eine Schule zu besuchen. Die soziale Infrastruktur der Vereine, Feuerwehr, Gesangsverein, Fußballklub, ist bedroht, weil Buben und Mädchen zu spät heim ins Dorf kommen.

Dieses bajuwarische Idyll hat aus zwei Gründen das Recht, ein Modell für die Republik genannt zu werden. Erstens: Weil das Idyll stets die theoretisch mögliche Alternative zu den verkommenen Ghettoschulen in den Städten war, eine Utopie der Weggezogenen, dass es eine Heile-Welt-Schule wenigstens „da unten“ noch gibt. Zweitens: Weil es das eben nicht mehr gibt. Nicht nur die Hauptschule funktioniert in Bayern nicht mehr; Schule und Bildung allgemein sind außer Rand und Band.

Gerade finden zwei spektakuläre Prozesse in Bayern statt, die als Karikatur eines aus dem Gleichgewicht geratenen Schulsystems genommen werden können. In Coburg steht ein staatlicher Direktor vor Gericht, weil er allen seinen Abiturienten einen bessere Note schenkte. Und in Schweinfurt muss sich ein Leiter einer Privatschule verantworten, weil er keinem einzigen Schüler das Abitur gab. Alle waren durchgefallen.

Ein Grund zum Jubeln

Die Prozesse versuchen, ein paar lokale Details herausgerechnet, jenen Trend unter Strafe zu stellen, den die Welt am Sonntag auf den Titel gehoben hat: Alle wollen das Abitur! Alle wollen zudem am liebsten ein gutes Abitur! Und niemand glaubt stärker daran als Eltern, die für ihr Kind das Allerbeste wollen. Aber wehe, wenn ein Schulminister auf die Idee kommt, etwas zu reformieren. Dann gehen sie auf die Barrikaden. Keine Experimente! Das Gymnasium muss bleiben! Am besten nur für mein Kind!

Axel Plünnecke reagiert ganz cool, wenn er auf die angebliche Noteninflation angesprochen wird. Plünnecke leitet die Bildungsabteilung des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, er plädiert erst einmal für Entdramatisierung: Die Noten seien kein Drama, sondern im Gegenteil ein Grund zum Jubeln. Sie signalisierten nämlich, dass sich die Gymnasien für ihre neue Klientel öffnen. Zu deutsch: Es ihnen ein bisschen leichter machen. Die Gymnasien, genauer all jene Gesamt- und Gemeinschaftsschulen, die das Abitur anbieten, werden nämlich überrannt von Bewerbern. Deutschland ist gerade dabei, bei seiner grotesk niedrigen Abiturquote gegenüber anderen Staaten aufzuholen.

In der Tat liegt die Abiturquote auf dem Land inzwischen bei 40 Prozent, in den Städten lernt sogar jeder zweite Richtung Hochschulreife. Zur Erinnerung: Als die preußischen Schulreformer Sauer und Paulsen im 19. Jahrhundert stritten, war es nur ein Prozent eines Jahrgangs; in den 60er Jahren, zu Beginn des Wirtschaftswunders, waren es sechs Prozent und heute ist es, wie gesagt, fast jeder zweite. Wir fahren ja auch nicht mehr auf Hochrädern und schreiben nicht mehr Sütterlin. Wieso sollte man also den Zugang zum Abitur, wie es sich die WamS so ein bisschen wünschen möchte, versperren? „Man kann ohnehin nur über die Möglichkeiten aufklären, lenken kann man Schüler nicht“, winkt Plünnecke ab.

Aber der Forscher aus dem arbeitgebernahen Institut in Köln findet trotzdem nicht alles gut. Denn die große Transformation der Qualifikationen von „berufsbildend“ hin zu „hochschulreif“ hat auch eine Reihe von Nebeneffekten, die alles andere als schon beherrscht sind. Kurz gesagt: Keine einzige der Bildungseinrichtungen kommt bislang richtig gut mit dem Ansturm zurecht. Die Gymnasien sind didaktisch immer noch auf Arztsohn und Anwaltstochter gepolt. Den Hochschulen geht es ähnlich. Sie wissen noch nicht, ob sie die Studienanfänger lieber in Brückenkursen aufpäppeln – oder durch rigide Eingangstests abschrecken sollen.

Und die Lehrherren und Ausbildungsmeister? Sie verzweifeln, weil ihnen der große unbewältigte Trend zum Abitur den Nachwuchs stiehlt. Der letzte Berufsbildungsbericht vom April hat ein schrilles Alarmsignal ausgesandt: Es gibt so wenig neue Lehrverträge wie seit 1976 nicht mehr, knapp eine halbe Million Lehranfänger sind es noch. Besonders dramatisch ist, dass die kleinen und Kleinstbetriebe, jene Ausbildungsstätten, die mit Abstand die meisten Jugendlichen zu Facharbeitern ausbilden, heute deutlich weniger Azubis einstellen. Man weiß noch nicht genau, warum das so ist. Aber die Einschätzungen, die man beim DGB und bei den Betrieben hört, sind die immer gleichen: Es ist für die Motoren, also die Handwerksmeister, der dualen, sprich der klassischen deutschen Berufsbildung einfach zu aufwendig geworden, aus der komplizierten Bewerberlage die richtigen herauszufiltern.

Noten sind in dieser Situation ein völlig ungeeignetes Steuerungsinstrument. Noten sind von jeher eine auf den einzelnen Schüler bezogene Wertung; sie sagen etwas über den Fleiß und das Wissen des Einzelnen. Aber zum Vergleich mit anderen in einem föderalen Staat mit 80 Millionen Einwohnern, neun Millionen Schülern und 16 Schulsystemen sagen sie absolut nichts aus. Dennoch krallen sich alle an den Noten fest. Nicht mal das bayrische Abitur, heißt es jetzt, tauge mehr etwas. Warum? Weil der Abiturschnitt Bayerns sich inflationär verbessert habe. Das ist, erstens, Unsinn: Bayerns Abiturienten hatten eine 2,43 im Mittel im Jahr 2006 und eine 2,35 im Jahr 2012. Und zweitens sagt es sowieso nichts. Jeder weiß, dass das Berliner, das Bremer und bayrische Abitur nicht wirklich vergleichbar sind. Dennoch liegt der Schnitt beim weiß-blauen Mittelwert von 2,35; 2,4 in Berlin und 2,45 in Bremen.

Die Radargeräte namens Noten fallen also komplett aus. Aber die Bildungslandschaft veränderte sich in der gleichen Zeit dramatisch. Was kann man also tun? Da kommen alle Experten, egal ob aus dem Bundestag oder Betrieben oder Beratungseinrichtungen, ohne ihn zu kennen, auf den guten alten Satz Friedrich Paulsens zurück: Was ist also „die wirkliche Bildung des inneren Menschen“?

Tatsächlich geht es um den inneren Kompass, um Orientierung im System. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Albert Rupprecht berichtet, wie er in bayerischen Schulen unterwegs ist und dort sieht, wie viel es nützt, die Schüler über die zig Berufe aufzuklären, von denen sie noch nie etwas gehört haben und sie dafür zu interessieren. Axel Plünnecke sagt über die Hochschulen etwas ganz ähnliches: Aufklärung, Orientierung, Hilfe. „Die neuen Studierenden bringen wertvolle Praxiserfahrungen oder interessante internationale Kenntnisse mit. Aber wir brauchen mehr Unterstützung in Form von Brückenkursen.“

Das ist der Clou und zugleich der Unsinn an der Notendebatte. Der deutsche Abiturdurchschnitt hat sich seit 2006 von 2,51 auf 2,43 verbessert. Eine Verbesserung um drei Prozent ins sechs Jahren. Das ist, ehrlich gesagt, keine Noteninflation, das ist bleierne Stabilität. Während in der Bildungsrepublik im selben Zeitraum ein Erdbeben im Gange war und noch immer ist.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Christian Füller

http://christianfueller.com

Christian Füller

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