Lernmaterial gratis und überall

Leitmedium Das Schulbuch stirbt aus. Sein Nachfolger heißt OER. Diese „open educational resources“ gibt es überall im Netz

Die Szene hatte Symbolgehalt. Vorvergangene Woche lud das Bildungsministerium zu einem Bürgerdialog ein. Es sollte um „Lehren, Lernen & Leben in der digitalen Welt“ gehen. Gegen Ende fragte einer der Bürger, wieso das Ministerium seine eigenen Apps zum Deutschlernen nicht mit den dafür vorgesehenen Lizenzen als „OER“ kenntlich mache, als offenes Lernmaterial. „Der Wert offener Lizenzen ist unbestritten“, sagte der Mann. „Wieso wird hier nicht schon Zukunft gemacht?“

Aus den Köpfen des Podiums stiegen große Fragezeichen auf. OER?! Was ist das? Unruhe, bange Sekunden. „Wer kann da­rauf eingehen?“, fragte Moderatorin Angela Elis unsicher. Schließlich ergriff ein Beamter des Bildungsministeriums das Wort. „Zumindest die Apps, die wir gefördert haben, sind frei zugänglich.“ Als der Frager insistierte, dass die Sprachlern-Apps des Ministeriums aber eben nicht mit einer offenen CC-Lizenz gekennzeichnet seien, unterband die Moderatorin das Thema kurzerhand. (Mitschnitt) Das könne man später besprechen, im kleinen Kreis.

So funktioniert Digitalpolitik. OER (open educational resources) oder auf Deutsch, offene Bildungsmaterialien gelten als Schlüsselinstrument digitaler Schule. Das Mantra heißt: Freie Lernmaterialien werden das Schulbuch ablösen. Leitmedium des Lernens ist künftig OER. Auf Digitalkonferenzen wird das Schulbuch deswegen gern als Teil einer untergehenden Gutenberg-Kultur verspottet. Wer lernt, bitteschön, noch mit bedrucktem Totholz! Die Zukunft sind Wikis, Blogs, Pads – und OER. Das Bildungsministerium hat fast eine Dreiviertelmillion Euro ausgegeben, um offene Lernmaterialien zu erforschen.

Aber beim Bürgerdialog über digitales Lernen kann niemand aus diesem Ministerium erklären, was offene Bildungsressourcen sind. Dabei hatte der Mann mit der OER-Frage völlig recht. Gerade die Flüchtlingswanderung nach Deutschland hatte gezeigt, wie sinnvoll offene Bildungsmaterialien sein können. Wovon hätten sich die Flüchtlinge Wörterbücher und Deutschkurse kaufen sollen? Wer hätte binnen kürzester Zeit 800.000 gedruckte Lernwerke an die Geflüchteten und ihre Sprachlernhelfer bringen können? Mit open educational resources ging das. Weil das Netz ein so blitzschneller Verteilungsraum ist, konnte jedermann von überall her die Deutsch-Lernmaterialien herunterladen. Das berühmteste Beispiel ist das „Refugee Phrasebook“, eine Initiative, die binnen weniger Tage Übersetzungslisten für ein halbes Dutzend Sprachen ins Netz stellte. Wer wollte, konnte sich kleine Hefte als druckbare Formate herunterladen. Auch Lernox ist eine offene Plattform mit Materialien für Deutsch als Zweitsprache. Etwas Ähnliches versucht das DaZ-Handbuch.

Remix and Share

OER oder offene Lernmaterialien können wahnsinnig praktisch sein. Sie haben nicht nur den Vorteil, dass sie frei zugänglich sind, also umsonst. Derjenige, der sie benutzen will, kann sie zugleich bearbeiten und dann weiterverbreiten.

Das ist der eigentlich Clou an ihnen. In der Digitalisten-Szene wird das copy, remix and share genannt. Kopieren, neu arrangieren und teilen. Um diesen Vorteil unfallfrei nutzen zu können, muss man die OER aber als solche kennzeichnen. Daher die Frage nach den CC-Lizenzen. Sie zeigen dem Nutzer an, ob und wie er ein Lernmaterial weiterverbreiten darf, ohne dass er Urheberrechte verletzt. Für Lehrer ist das ziemlich wichtig.

Um das zu verstehen, muss man mit Dieter Weltz reden, einem frisch pensionierten Mathematik- und Physiklehrer. „Früher gab es fast in jeder Schule einen Kopierraum, in dem sich alle aktuellen Schulbücher befanden“, erzählt er. „Wer als Lehrer seinen Unterricht vorbereiten wollte, konnte ihn sich dort zusammenkopieren.“ In Wahrheit gibt es diese Kopierkabinen natürlich häufig immer noch. Dieter Weltz hat bereits vor über 20 Jahren mit dieser Lehrer-Marotte Schluss gemacht. Der Realschullehrer erstellte Lernmaterialien in Form von Arbeitsblättern und Beispielrechnungen – und stellte sie im Netz zur Verfügung. Kein Lehrer musste sich für seine Arbeitsblätter vor der Kopierzelle anstellen. Bei Weltz konnte man sich die Materialien bequem herunterladen. Der Mann aus Ulm ist, obwohl ihn außerhalb der Lehrerszene kaum einer kennt, der Star der open educational resources. Seine Arbeitsblätter, eingestellt bei ZUM (der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V.), wurden 45 Millionen Mal heruntergeladen. Nennt man diese Zahl bei OER-Plattformen oder Start-ups, dann gucken alle ganz ehrfürchtig. Diese Verbreitung wünschen sie sich auch. Aber sie zu erreichen, ist alles andere als einfach.

Das Zauberwort heißt Vertrauen. Auf den Inhalt der Kopierzelle in der Schule können sich Lehrer verlassen. Was sich dort an Schulbüchern befindet, hat eine x-fache Qualitätskontrolle durchlaufen. Die Schulbuchverlage passen ihre Bücher den Lehrplänen an.

Sie lassen sie von den Besten der Pädagogenzunft schreiben. Die Schulministerien der Länder prüfen die Schulbücher. Alles, was in diesem Raum auf den Kopierer gelegt wird, ist also abgesichert.

Aber wie steht es mit den Materialien, die im Netz herumschwirren? Einen Dieter Weltz bringt so eine Frage nicht aus der Ruhe. „Ich habe doch auch meinen Unterricht eigenständig vorbereitet“, sagt er. „Als Lehrer bin ich staatlich geprüfter Experte dafür.“ Und dann verweist er auf die Zahl seiner Downloads. Wenn Lernmaterialien Millionen Male kopiert werden, wie könnten sie dann schlecht sein? Weltz muss diese Frage gar nicht aussprechen.

Kopierzelle zumauern

Aber für jeden der 800.000 Lehrer ist sie essenziell. Wer dem Lehrer seine Kopierzelle mit einem Pool an vielleicht nicht immer taufrischem, aber doch abgesichertem Schulbuchwissen wegnimmt, der zieht ihm auch den Teppich unter den Füßen weg. Die Nerds und die Lehrer 2.0 würden die Kopierräume am liebsten zumauern. Was die Open-Community, wie sich selbst gerne nennt, stattdessen zu bieten hat, ist allerdings noch fluide. Als die Kultusminister Mitte des Jahres zu einer Konferenz über das digitale Lernen luden, wurde ein Schaubild gezeigt, wo und wie man künftig OER zugänglich machen könnte. Die Übersicht ähnelte einem Beitrag für den Wettbewerb um die wirrsten Grafiken der Welt. Auch manche Kultusminister kennzeichnen die Materialien, die sie zur Verfügung stellen, nicht mit den gängigen offenen Lizenzen.

Man kann es also keinem Lehrer verdenken, wenn er beim Übergang vom Kopierraum in die bunte Welt der OER nervös ist. Wer als Lehrer für seine Schüler etwas in einen Blog stellt, kann Überraschungen erleben. War das Foto darauf wirklich rechtefrei? Trudelt die Abmahnung eines Anwalts ein, weil die CC-Lizenz nicht geprüft war?

Offene Lernmaterialien können auch ganz einfach sein. Deanna Jump ist aber damit Millionärin geworden. Die Vorschullehrerin arbeitete viele Jahre für ein kleines Lehrergehalt. Bis sie begann, auf einer Plattform ihre Lehrmaterialien anzubieten – ebenfalls für wenig Geld. Aber Jumps Sprachlernblätter waren so gut, dass ihre Kollegen sie hunderttausendfach herunterluden. Die Lehrerin ist inzwischen ein Star der amerikanischen Lehrerszene, die auf der Plattform teacherspayteachers nach Unterrichtsanregungen sucht.

Wer weiß, vielleicht findet ein ähnliches Portal in Deutschland den Mittelweg zwischen den statischen Schulbüchern und dem komplizierten OER. Bei Lehrermarktplatz können Lehrer ihre Unterrichtskonzepte für ein paar Euro anbieten. „Uns ist der Austausch unter Pädagogen wichtig“, sagt Dominik Dresel von Lehrermarktplatz.de „Unsere Autoren entscheiden selbst, ob sie ihre Werke entgeltlich, unentgeltlich oder auch via CC-Lizenz zur Verfügung stellen.“

der Freitag Bildung 2.0

Dieser Text ist Teil einer Verlagsbeilage der Freitag Mediengesellschaft

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