So viel auszuhalten

Fernsehen Christoph Röhls Film „Die Auserwählten“ bringt die Missbrauchsverbrechen an der hessischen Odenwaldschule nach Hause
Ausgabe 39/2014

Der Mann greift sich den Jungen mitten während der Party in seiner Wohnung. Er scheucht die anderen Jungen aus seinem Schlafzimmer, schließt die Tür hinter sich. Dann drückt er dem 13-Jährigen als Belohnung neue, coole Turnschuhe in die Hand. „Für deine guten Noten.“ Aber Frank will das Geschenk nicht haben. Er wirft es weg. „Du kleiner Scheißer“, sagt der Mann, wirft ihn aufs Bett und packt ihn am Kiefer. „Pass auf, sonst erzähle ich allen, was du mit mir machst.“ Dann gibt er ihm einen Kuss.

Solche Szenen machen Die Auserwählten von Christoph Röhl so außergewöhnlich. Der Spielfilm handelt vom Missbrauch an der Odenwaldschule, und er wird etwas von dem Geheimnis sexualisierter Gewalt in die deutschen Wohnzimmer tragen, zur besten Sendezeit im Ersten. So viel die Nation schon weiß über Missbrauch, an diesem Abend wird sie ihn sehen, spüren – und besser verstehen. Ulrich Tukur führt uns die Doppelgesichtigkeit des Täters vor Augen. Kein Kinderschänder, kein Mörder, der einen Jungen vergewaltigt und umbringt, sondern ein stets jovialer Typ, ein dem Schein nach genialer Pädagoge. Und doch ein Verbrecher, ein Gewalttätiger, der das Geschenk kombiniert mit der Gewalt und der ungeheuerlichen Verdrehung: Was du mit mir machst. Dem Opfer die Mittäterschaft erklären.

Flower-Power

Das spielt Tukur alias Simon Pistorius auf diabolische Weise. In der Wirklichkeit hieß der Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker. „Es gab den Tag-Becker, der in der Sonne stand und glänzte. Und es gab den Nacht-Becker, der den Widerstand brach“, sagt Jochen Weidenbusch. Er war einer von den Jungen, die Becker kennenlernten. Er habe den damals so berühmten Schulleiter fast nur als Verführer erlebt. „Aber ich weiß, dass er später gewalttätig wurde, dass er sich nahm, was er von den Jungs wollte.“

Christian Füller ist Autor von Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte (DuMont, 256 S., 18,99 €)

Weidenbusch ist heute 50 Jahre alt und Lehrer an einer Schule. Er hat sein Leben der Prävention und dem Hinschauen verschrieben, weil er erlebt hat, wie sehr Missbrauch lähmen kann. Er findet Röhls Film ausgezeichnet. Kein Film für Betroffene, sondern einer für alle Menschen.

Weidenbusch sieht die Leistung des Films darin, dass er den Blick auf den Täter richtet. Und auf die Unfähigkeit der Erwachsenen, die sich rund um den Missbrauch herum befinden, „zu sehen und zu erkennen, was da gerade passiert“. Das macht der Film auf eine Weise deutlich, dass es dem Zuschauer den Atem nimmt. Die Schule, die er sieht, war ein Idyll ohne Mauern. Mit einer durch und durch libertären Kultur. Man erlebt die Schüler trinken, rauchen, kiffen. „Hier darf jeder alles“, sagt der Schulleiter zu der Mutter und ihrem lockigen Jungen bei der Anmeldung, „hier wirst du zu nichts gezwungen.“ Aber die Wahrheit ist eine andere, denn man kann der Überwältigung nicht entkommen. Weil der Rektor alle beherrscht. Weil die Lehrer vollkommen verblendet sind von ihrer Ideologie. Die Reformpädagogik, die angeblich kein Kind beschämt, verklebt ihnen die Augen und das Denken.

Eine neue Lehrerin, gespielt von Julia Jentsch, beginnt zu sehen und nachzuforschen und aufzubegehren. Sie ist selbst ein Flower-Power-Mädchen, hat beste Verbindungen nach oben, ihr Vater ist der Staatssekretär, der für die Odenwaldschule zuständig ist. Aber sie dringt in der Schule nicht durch. Die Lehrer erklären ihr, wie sie zu verstehen hat, was da geschieht. „Nacktheit ist bei uns nicht unbedingt Ausdruck von Sexualität“, belehrt sie eine Kollegin, als Jentsch alias Petra Grust einen Lehrer mit einem Schüler im VW-Bus erwischt – Missbrauch auf den Wiesen rund um die Odenwaldschule bei klassischer Musik. Als Jentsch später die Lehrerversammlung auffordert, die sexuelle Gewalt zu beenden, wird sie von ebendieser Lehrerschaft hinausgeworfen. Auch diese Szene gelingt Röhl und seinen Kameraleuten. Hilft den Jungen denn gar keiner?

Die Szene ist ein inhaltlicher und erzählerischer Angelpunkt. Einer der sehr wenigen erfundenen Momente des Films und zugleich der fiktionale Bruch. Denn diesen Aufstand der mutigen Lehrerin, die offen ausspricht, was sie sieht, den gab es nicht. Julia Jentsch ist fiktiv, und das ist das Problem des Films. Es stellt alles irgendwie auf den Kopf. In Wahrheit hat Christoph Röhl, der selbst Ende der 80er Jahre eine Weile an der Odenwaldschule als Aushilfslehrer arbeitete, keinen Spielfilm gedreht. Er hat ein als Fiktion getarntes Dokudrama gemacht. Röhl hat Die Auserwählten als horrible Puppenstube inszeniert, als Kopie der Odenwaldschule, die auch Drehort war.

Marionetten für die Regie

Fast alle Szenen, die in dem Film vorkommen, haben in der Wirklichkeit stattgefunden. Das macht das Geschehen für den Zuschauer vielleicht plausibler. Aber es ist für viele der Betroffenen eine Bedrückung. „Ich habe Angst, mir diesen Film allein anzusehen“, sagt eines der Opfer von damals. Diese Angst ist sehr berechtigt. Denn die vielen Szenen, die der Film zu einem Bild zusammenpuzzelt, bringen für die Zeitzeugen eine Gefahr mit sich: dass sie sich selbst wiederfinden. „Ich habe es nicht ausgehalten“, berichtet eine Betroffene. „Weil ich alle von damals wiedererkannt habe.“ Überspitzt könnte man sagen, der Regisseur benutzt die Betroffenen aus den 70er und 80er Jahren als Marionetten für seinen Film.

Das ist der Job des Regisseurs. Aber es ist dennoch keine Petitesse für einen Missbrauchsfilm. Kein lästiges Detail, das man zugunsten des aufklärerischen Gesamtbilds, das Röhl für den Zuschauer entwirft, einfach so übergehen könnte. Zum Beispiel der Junge aus der Szene mit den Turnschuhen. Im Film heißt er Frank Hoffmann, in der Wirklichkeit ist sein Name Andreas Huckele.

Den Aufstand der Lehrerin, die ausspricht, was sie sieht, gab es nicht

Bild: WDR

Huckele ist der Aufklärer. Er hat mit einer ungeheuren Kraft und Zähigkeit den gesellschaftlich-kriminellen Skandal der reformpädagogischen Tragödie an der wichtigsten deutschen Schule enthüllt. Vergleicht man die Fotos von Huckele und seinem Zimmergenossen von damals mit den Gesichtern der beiden Protagonisten Frank und Erik im Film, weiß man nicht, ob man Casting und Maske loben oder verdammen soll. „Bei der Art, wie dieser Film mit Realität und Fiktion umgeht, trennen sich die Wege von Christoph Röhl und mir“, sagt Andreas Huckele.

Der Ärger lässt sich leicht nachvollziehen. Huckele ist Autor zweier wichtiger Bücher über Missbrauch, er gehört in Deutschland zu den intellektuell führenden Köpfen beim Verstehen sexualisierter Gewalt. Im Film darf er zweimal auftreten: Erst in der Hauptrolle, als 1:1-Kopie eines Opfers, selbst den Klammergriff ums Kinn aus der geschilderten Szene hat er erlitten, nur dass Becker ihm die Zunge in den Hals steckte. Auch der erwachsene Huckele kommt vor – in einer Nebenrolle. Sein Alter Ego ist nun ein wütender, chaotischer, auch kaputter Mann. Den Versteher und Intellektuellen Huckele hat Röhl quasi wegfiktionalisiert.

So ist aus den Auserwählten ein doppeltes Lehrstück geworden. Ein sehr beeindruckender Film über die Mechanismen von Missbrauch. Und zugleich eine cineastische Verwirrung von Fakten und Fiktionen. Die am Ende eine falsche Geschichte in der richtigen erzählt. Dadurch, dass er die Schule selbst als Kulisse wählt und auch das Personal repliziert, ist der Film gefangen. Er kommt aus dem Käfig der Realitäten schwer heraus. Und er läuft stets Gefahr, dass ihm historische Fehler vorgeworfen werden.

Warum etwa ist der Fehler so bedeutsam, dass kein Lehrer es gewagt hat, den Missbrauch offen zu thematisieren? Weil es den Tatraum versimplifiziert. Wenn ein Lehrer damals den Missbrauch als solchen skandalisiert hätte, ohne dass die Taten danach beendet worden wären, wäre die Schule kein Kuschelinternat mehr gewesen. Sondern ein Gulag des Missbrauchs, eine Art Terrorkommune. Das war die Odenwaldschule aber nicht. Diese Schule war, darauf bestehen viele ehemalige Schüler, auch schön. Für andere war sie die Hölle.

Das ist kein Widerspruch, sondern der Trick. Es braucht den schönen Schein, um ein Verbrechen dieses Ausmaßes über 20 Jahre hinweg in einem libertären Umfeld möglich zu machen. Dieser Schein ist die Ideologie der Reformpädagogik à la Landerziehungsheim. Und ein bisschen auch die sexuelle Befreiung der 68er. Hätte man diese süßlichen Ideologien nicht gehabt, wären die Zwangsmittel eines physisch repressiven Systems nötig gewesen. Die totale Institution Odenwaldschule brauchte aber keine Mauern. Sie war ein hochmanipulatives System, für Schüler wie für Lehrer, manipulierte durch das Gespinst der Nähe zum Kind, der Pädagogik auf Augenhöhe und der sexuellen Befreiung. Und den charismatischen Herrn Schulleiter. Der aber war, sagt Andreas Huckele, „nicht Licht und Schatten, er spielte den genialen Pädagogen nur, um die Opfer besser in die Falle locken zu können.“ Schüler, die – wie im Film – den Schulleiter und Vergewaltiger Pistorius/Becker verprügeln, ein Trägervereinsvorsitzender, der den Schulleiter offen zur Rede stellt, eine Lehrerin, die j’accuse sagt, also Anklage erhebt, zerreiße das Gespinst: Das gab es nicht und konnte es nicht geben. Deswegen dauerte die Aufklärung auch 30 Jahre.

Für den Zuschauer ist alles klar. Kann man ihm helfen? Nein, diese Widersprüche muss er aushalten. Der Missbraucher im realen Leben tut ihm ja auch nicht den Gefallen.

Die Auserwählten wird am Mittwoch, 1. Oktober, um 20.15 Uhr in der ARD gezeigt

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