Mal wieder eine Bildungsrevolution soll also dieser Herbst bringen. Der Mann, der sie ausruft, spricht von „einem Angriff auf die Eliten“. Das neue Lernen eröffne allen Kindern beste Chancen. Mit Hilfe von Computerlernspielen könne jeder Schüler 50 Prozent mehr lernen als bisher. Und statt Massenbildung gebe es maßgeschneiderte Lektionen. Eine pädagogische Wundertüte.
Das verspricht kein linker Bildungsrevolutionär, sondern Jörg Dräger, Vorstand der gemeinnützigen Bertelsmann-Stiftung. In seinem mit Ko-Autor Ralph Müller-Eiselt vor kurzem veröffentlichten Buch Die digitale Bildungsrevolution (DVA) preist er die Chancen des neuen Lernens. „Der digitale Wandel ist kein Problem, sondern Teil der Lösung für mehr Chancengerechtigkeit.“ Gleichzeitig richtet Dräger sämtliche Projekte der Bertelsmann-Stiftung am neuen Mantra aus: Digitalisierung.
Der Schwenk der Stiftung hat nur nicht etwa das Ziel, dem Gemeinwohl zu dienen. Die Neuausrichtung steht vielmehr für eine neue Kaltschnäuzigkeit im Stiftungswesen. Statt Geld in philanthropische Projekte zu stecken, versuchen besonders Unternehmensstiftungen, die Bildungslandschaft in einen großen Markt zu verwandeln. Profitieren würden davon milliardenschwere Konzerne, die eng mit den Stiftungen verbunden sind.
Sein und Haben
Die neue Offensive der Bertelsmann-Stiftung begann, als die ersten Exemplare von Drägers Digitaler Bildungsrevolution über die Buchladentheke gingen. „Wenn jetzt hunderttausende Menschen die deutsche Sprache lernen sollen und müssen, werden die sich dann wirklich alle in Kleingruppen in einen Klassenraum mit einem Sprachpädagogen setzen können?“, fragte Dräger in einem Interview mit der Welt. Es war eine rhetorische Frage.
In seinem Buch steht keine Zeile über Flüchtlinge. Der ehemalige Hamburger Wissenschaftssenator wollte auf einen anderen Punkt hinaus – aufs Geld. Die Kultusministerkonferenz hatten da gerade ausgerechnet, wie teuer die Flüchtlingskinder für die Schulen werden: 2,3 Milliarden Euro würden allein für zusätzliche Lehrergehälter nötig. Für solche Fälle hat Dräger künftig eine Lösung: Mit Online-Sprachkursen sei das effizienter zu haben – und billiger. „Zu einem vernünftigen Preis könnte es so viel mehr Bildung für viel mehr Menschen geben als bisher.“ Das ist die Hintergrundmusik seiner Ideen: der Markt, das Geld, der bessere Preis.
Für Dräger ist diese wirtschaftsnahe Ausrichtung konsequent. Schon als Berater bei Roland Berger und Wissenschaftssenator war er ein unermüdlicher Effizienz-Reformer. Auch die Bertelsmann-Stiftung verknüpfte stets Lernen mit Unternehmertum. Das war der Geist ihres Gründers, des 2009 verstorbenen Reinhard Mohn. Die NGO Lobbycontrol zählt die Bertelsmann-Stiftung daher schon seit Jahren zu den „einflussreichsten neoliberalen Denkfabriken im Land“. Aber so ökonomisch und profitabel wie bei der digitalen Bildung war die Stiftung noch nie ausgerichtet. Was da passiert, ist kein Angriff auf die Eliten, sondern einer aufs Geld.
Die Stiftung gründete extra eine Abteilung, direkt beim Vorstand angesiedelt, um digitale Bildung voranzutreiben. Über eine Webseite, eigene Veranstaltungen und soziale Netzwerke suchen die Bertelsmänner unter Schulen und Hochschulen nach Digitalisierungskandidaten. Worum es dabei geht, ist leicht zu verstehen. In Deutschland gibt es über 30.000 allgemeinbildende Schulen, digitalisiert sind nur wenige. Der Rest schlummert tief in der analogen Welt. Sie gilt es wachzurütteln. Bisher ist der deutsche Bildungsmarkt deshalb auch nur für Schulbuchverlage halbwegs lukrativ. 350 Millionen Euro stecken jährlich darin. Mit der Digitalisierung wird sich dieser Markt aber vervielfachen. Allein die Ausstattung mit netzfähigen Geräten wie Tablets kostet fünf bis sieben Milliarden Euro.
Und bessere Möglichkeiten der Bildungsdigitalisierung als die Bertelsmann-Stiftung und das von ihr gegründete „Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE) hat wohl keiner. Die Reichweite von Stiftung und CHE ist riesig. In Deutschland dürfte niemand einen so guten Schulverteiler haben wie die Gütersloher Stiftung. Seit ihrer Gründung kümmert sie sich um autonome Schulen, um neue Formen der Evaluierung des Lernens, um Förder- und Ganztagsschulen. Bisher waren das stets Zuschussprojekte. Wenn sich Schulen und Hochschulen aber auf den digitalen Weg machen, ist Payback zu erwarten.
Darauf bereitet sich gerade eine andere Organisation in Gütersloh vor: der Bertelsmann-Konzern. Denn die Bertelsmann SE, wie der Milliardenkonzern in Gütersloh heißt, setzt gerade voll auf „das Wachstumsfeld Bildung“. Schwerpunkt ist dabei das, was Jörg Dräger nicht müde wird, in seinem Buch anzupreisen: Online-Bildungsangebote und die Digitalisierung der Schulen und Hochschulen. „Bertelsmann will mit Bildungsgeschäften mittelfristig eine Milliarde Euro Umsatz erzielen“, sagt Thomas Rabe, Vorstandschef von Bertelsmann. „Wir wollen den Bildungsbereich zu einer tragenden Säule des neuen Bertelsmann entwickeln.“
Die Bertelsmann SE ist zu 77 Prozent in den Händen der Bertelsmann-Stiftung, die laut Satzung ausschließlich gemeinnützige Zwecke verfolgen darf. Die Größe des von den beiden angepeilten Marktes ist aber gigantisch. In den Bildungssektoren, in denen Bertelsmann aktiv werden will, beträgt das Volumen laut Rabe 180 Milliarden Dollar. Um da ranzukommen, kauft der Konzern ein: Universitäten, Lernplattformen, Online-Kurse.
Im Gleichschritt
Wenn man Rabes Bilanzpressekonferenzen nachhört, lohnt es sich stets, in Drägers Werbebuch fürs Digitale mitzulesen. Die Sätze sind austauschbar. Dräger wünscht sich unter anderem „Wagniskapitalfonds für Gründer im Bildungsbereich“. Genauso Rabe. 2012 beteiligte sich Bertelsmann in den USA mit 50 Millionen Dollar an University Ventures, einem Wagniskapitalfonds. Für Bertelsmann-Chef Rabe wichtig, um „mit überschaubarem Risiko führende Education-Plattformen in den Kernmärkten Europa und USA aufzubauen“.
Von den Risiken der Digitalisierung liest man in Drägers Buch kaum etwas. Er ist seitenweise damit beschäftigt, die Vorzüge digitaler Bildung zu preisen. Amerikanische IT-Gründer erscheinen Dräger wie makellose Lichtgestalten. Etwa das Start-up Knewton, das jedes Detail von Lernerfolgen und Defiziten der Schüler erfasst, um ihr Lernen zu optimieren. „Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird“, schreiben Dräger und Müller-Eiselt.
Oder da ist der Deutsche Sebastian Thrun, der in den USA mit seiner Udacity für Furore sorgt. Der Name steht für ein Mittelding aus Universität und Wagemut. Udacity organisierte den ersten MOOC, Massive Open Online Course, also ein Uni-Seminar, das komplett im Netz absolviert wird und für alle offensteht.
Der Chef der Gütersloher Abteilung für Philanthropie lobt Udacity in den höchsten Tönen. Auch die Kollegen von der Gütersloher Abteilung für Profit können viel dazu sagen – sie haben sich bei Thruns Unternehmen kurzerhand eingekauft. Für Bertelsmann-CEO Rabe ist Udacity „einer der innovativsten E-Learning-Anbieter des Silicon Valley“. Über Udacity erreiche man 2,8 Millionen Kursteilnehmer weltweit.
Was Dräger in seinem Buch mit Udacity also treibt, ist nichts anderes als Marketing. Nur: Was ist daran gemeinnützig, wenn die Bertelsmann-Stiftung Werbung für Unternehmensbeteiligungen des Bertelsmann-Konzerns macht? Bezahlt wird diese Werbung auch durch massive Steuernachlässe. Rund 100 Millionen überweist der Konzern jährlich an die Stiftung – und zwar in Form einer steuerfreien Ausschüttung. Die Steuerzahler des armen Nordrhein-Westfalens finanzieren also aufgrund der Steuerfreiheit mit rund 30 Millionen Euro die Unternehmens-PR mit. Gibt es in NRW möglicherweise Schulen, die gemeinnützige Hilfe nötiger hätten als der Konzern mit einem Umsatz von 16 Milliarden Euro?
Jörg Dräger verteidigt im Gespräch mit dem Freitag sein Engagement und das der Bertelsmann-Stiftung. Digitalisierung sei ein globaler Megatrend. „Wer sich damit nicht beschäftigt, nimmt an der Diskussion über Chancengerechtigkeit in der Bildung bald nicht mehr teil.“
Die Bertelsmann-Stiftung ist aber nicht die einzige gemeinnützige Institution, die sich mit der Digitalisierung der Schulen befasst. Die Telekom-Stiftung, unter ihrem alten Vorsitzenden Klaus Kinkel noch sehr auf Mathematik, Naturwissenschaften und Technik fixiert, macht gerade einen ähnlichen Schwenk. Die altmodischen Anstandsregeln aus dem Stiftungsrecht, dass die Stiftung Abstand vom Unternehmen halten soll, scheint die Telekom von jeher wenig zu beachten. Die Stiftung macht ihre Veranstaltungen in Berlin meistens gleich in der Hauptstadtrepräsentanz der Telekom, einem Glaspalast gleich neben dem Auswärtigen Amt.
Im frischen Jahresbericht konzentriert sich die Stiftung auf „Bildung für die digitale Welt“. Vorstand und Kuratorium der Stiftung sind dabei gespickt mit aktiven Managern der Telekom, vom CEO über den Finanz- zum Personalvorstand. Wer dort welches Interesse vertritt, darüber muss man nicht lange grübeln. Wenn es zu einer Digitalisierung der deutschen Schulen kommt, dann sitzt einer ganz sicher als Profiteur mit am Tisch: die Deutsche Telekom. Dann müssen nämlich über 30.000 deutsche Schulen an ein schnelles und stabiles Internet angeschlossen werden. Wer könnte da besser helfen als der deutsche Netz-Marktführer?
Bei der Stiftung erklärt man die Interessenkollision ähnlich wie bei Bertelsmann. „Die Deutsche-Telekom-Stiftung ist eine Bildungsstiftung und kommt daher um das Thema Bildung und Digitalisierung nicht herum“, sagte der Stiftungsvorsitzende Wolfgang Schuster auf Anfrage des Freitag. Das ist nicht falsch. Aber es ändert nichts an der Frage, ob das Beackern der Geschäftsfelder des Konzerns zu den gemeinnützigen Aufgaben der Stiftung zählt. „Die Stiftung verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige und mildtätige Zwecke“, steht in ihrer Satzung.
Bildungsarmut als PR-Tool
Bei den Konkurrenten von der Vodafone-Stiftung geht man das Thema vorsichtiger an. „Wir denken das Thema Digitalisierung anders“, sagt der Geschäftsführer des deutschen Ablegers der Vodafone-Foundation, Mark Speich: „Wir recherchieren ein großes neues Feld, wo wir die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt in verschiedenen Branchen betrachten.“ Nur: Wie lange kann sich die Stiftung eines Global Players wie Vodafone zurückhalten, wenn die gemeinnützigen Konkurrenten so schamlos für die Digitalisierung trompeten? Und auch die Bosch-Stiftung, die feinste und am besten bezahlende Organisation unter den deutschen Unternehmensstiftungen, hält das Eigentum an einem großen Technologie-Unternehmen. Mit ein paar Zukäufen und dem Schul-Know-how der Stiftung, die gerade in Berlin eine neue Schulakademie errichtet hat, wäre auch Bosch in der Lage, beim Milliardengeschäft mitzuspielen.
Für die Stiftungen wäre die Digitalisierung ein Kulturbruch – genau wie bei Musiklabels, Handel, Verlagen, Zeitungen und so weiter. Bisher engagierten sich die Stiftungen gegen Bildungsarmut, auch die Bertelsmann-Stiftung. Permanent lässt sie Studien über Sitzenbleiber, Kinder mit Behinderung und Schulabbrecher anfertigen. Die Stiftung vergibt den Jakob-Muth-Preis für Inklusion. Und sie gibt einen Atlas über frühkindliche Bildung heraus. Die anderen großen Bildungsstiftungen stehen dem nicht nach. Die Bosch-Stiftung organisiert seit 2006 den Deutschen Schulpreis, eine Art reformpädagogischer Bambi. Die Bosch-Kollegen geben zudem viel Geld dafür aus, die schlechtesten Berliner Schulen zu reparieren – das Projekt heißt School-Turnaround. Programme von Hertie- oder Vodafone-Stiftung haben einen ähnlichen Anstrich. Dort werden tausende Euro für Migrantenprogramme gegeben oder Mobbing auf dem Schulhof bekämpft.
Im Moment der Digitalisierung stellt sich aber heraus, dass all das Mitleid mit armen Bildungsverlierern von einer kritischen immer auch in eine Werbebotschaft mutieren kann, dass sich genau an diesem Punkt Gemeinnütziges und Geschäftliches undurchsichtig vermischen. Jede Studie über Bildungsarmut ist ab sofort Digital-PR: Deutschlernen für Flüchtlinge – mit Online-Sprachkursen „zu einem vernünftigen Preis“ zu haben. Unterricht für Kinder mit Handicaps – „digitale Tools erleichtern echtes, inklusives Lernen durch personalisierte Angebote“. Und bei der jüngsten Bertelsmann-Studie über 26 Millionen arbeitslose Jugendliche in Europa schwingt mit: Die haben viel Zeit, die könnten sich im Home-office per E-Learning weiterbilden.
Für die kritischen Leute aus der Stiftungsszene und die Forscher kommt der Sündenfall der Stiftungen nicht von ungefähr. Seit längerem schon macht sich Unbehagen breit – aus strukturellen wie aus klimatischen Gründen. Eine Recherche in der Szene ist aber schwierig, fast keiner will sich mit Klarnamen zitieren lassen. In den Unternehmensstiftungen herrsche das „aristokratische Prinzip“, hört man. Da mögen die jungen, gemeinwohlorientierten Idealisten noch so sehr auf philanthropische Kriterien pochen, das Heft des Handelns haben stets die Stiftungsvorstände in der Hand. „Die klugen alten Männer aus dem Kuratorium bekommst du nie zu Gesicht“, sagt einer, der über Jahre bei einer der renommierten Bildungsstiftungen arbeitete. „Das Geld, das wir gönnerhaft ausgeben, stammt zur Hälfte vom Staat, und an der wirklich großen Ungleichheit ändern wir nichts.“ Was die Vorstände beschließen, hängt nicht von Mildtätigkeit ab, sondern vom Zufall. Manche Stiftung vergibt ein Drittel ihrer Mittel in der Rubrik Verschiedenes. Das sind meistens Projekte, die ein Vorstand nach eigenem Gusto entschieden hat.
Das größte Problem der angeblich gemeinwohlorientierten Stiftungen aber ist die Nähe der Vorstände zum Profit. „Die alles bestimmende Frage in den Unternehmensstiftungen heißt: Was wünscht denn der Vorstand?“, erzählt ein junger Stiftungsmanager. „Und der Vorstand orientiert sich daran: Was erwarten sich eigentlich meine Freunde von der Deutschland-AG?“ Die Aufsichtsräte sind oft direkt mit Unternehmensleuten besetzt – eine ungute Situation, die das Profitinteresse vor die philanthropischen Ideale setzt. Offen darüber zu reden, Ross und Reiter zu nennen, das trauen sich die engagierten Weltverbesserer aber nicht. Wer zu viel von Ethos und dem Urvater aller Stifter, dem Römer Gaius Maecenas, redet, der muss damit rechnen, in der Stifterszene keinen Fuß mehr auf den Boden zu bekommen.
Aristokratisches Prinzip
Das innere Arrangement der jungen Stiftungsleute besteht häufig darin, sich an den großen Empfängen in den prachtvollen Repräsentanzen schadlos zu halten, alle fußläufig voneinander entfernt in Berlin-Mitte. „Es ist eine regelrechte Stiftungsschickeria entstanden, die glücklich damit ist, in Berlin zu netzwerken und bei Hummer und Champagner kluge Vorträge über Bildungsarmut anzuhören.“ So sagt es einer aus der Szene – aber auch er verzichtet lieber darauf, dass die Stiftungsvorstände seinen Namen in der Zeitung lesen.
„Stiftungen sind für die Kapitalkonzentration mitverantwortlich“, hat die Uni Heidelberg herausgefunden. In einer Befragung gaben elf Prozent der Stiftungen als ihre Aufgabe an, ein Unternehmen oder ein Familienvermögen zu schützen. Es gibt etwa 20.000 Stiftungen in Deutschland – aber nur ein paar Dutzend von ihnen sind groß genug, um im nationalen Maßstab wirklich etwas zu bewirken. Bei den kleinen Stiftungen verdienen Steuerberater und Wirtschaftsprüfer als Treuhänder. Und bei den großen Stiftungen bestimmen kleine Zirkel, was mit dem Geld passiert.
Der Geburtsfehler des unternehmensnahen Stiftungswesens liegt in den 1960er Jahren. Damals importierte die BRD dieses philanthropische Modell aus den USA, aber nur halb. Während die Mutternation des gemeinnützigen Engagements längst erkannt hatte, dass man Unternehmensstiftungen Fesseln anlegen muss, unterblieb diese Sicherung in Deutschland. Seitdem wuchert das System.
Beispiel Hertie-Stiftung: Sie war der Musterfall für pervertierte Philanthropie. In einem verschachtelten Modell verbuchte die Stiftung die Einnahmen aus dem Verkauf des Kaufhauskonzerns so, dass am Ende für einen Milliardendeal kaum Steuern anfielen – und auch nichts gespendet wurde. Journalisten und Steuerbehörden kamen dem auf die Spur. Hessens Finanzbehörden schickten der Stiftung daraufhin eine Zahlungsaufforderung über 900 Millionen DM wegen Steuerhinterziehung.
Was als Akt der Reinigung verstanden werden konnte, war gleichzeitig ein Beispiel für die engen Kontakte zwischen Stiftern, Philanthropie-Managern und Staat. In einer freiwilligen Vereinbarung einigten sich die Behörden mit der Stiftung darauf, dass die Hertie-Stiftung erkennbar gemeinnützig agiert – künftig. Seitdem händigt die Stiftung tatsächlich viel Geld aus. Aber der Zahlungsbefehl über 900 Millionen DM wurde nie fällig.
Die Amerikaner hingegen hegten ihre Unternehmensstiftungen damals ein. So darf eine Stiftung nur maximal 20 Prozent eines Unternehmens besitzen. Gleichzeitig wurden Stiftungen vorgeschrieben, fünf Prozent ihres Vermögens wohltätig auszuschütten. Das sind die berühmten Five Percent, die in den USA eigentlich erste Bürgerpflicht sind.
Allein an dieser Hürde kann man erkennen, wie lässig deutsche Stiftungen mit ihrer philanthropischen Pflicht umgehen. Das Fünf-Prozent-Ziel verfehlen deutsche Stiftungen selbst, wenn man nur den Gewinn vor Steuern zum Maßstab macht. Die Bertelsmann-Stiftung betreibt einen Projektaufwand, der rund zwei Prozent des Gewinns vor Steuern des Konzerns beträgt. Bei Bosch sind es ganze 2,3 Prozent, die Telekom-Stiftung kommt noch auf ein halbes Prozent. Vodafone liegt gerade bei 0,14 Prozent mit seiner Ausschüttung in Relation zum Gewinn der deutschen Dependance.
Die finanziellen Verhältnisse der Stiftungen sind, freundlich gesagt, unübersichtlich. „Stiftungen agieren teilweise äußerst verschwiegen“, klagt Marc Eulerich von der Universität Duisburg-Essen. Nicht einmal die Hälfte erstellt eine Kapitalerhaltungsrechnung, obwohl das Sichern des Eigenkapitals eine der gesetzlichen Vorschriften für Stiftungen ist. Zugleich lassen 53 Prozent der Stiftungen ihren Abschluss von Wirtschaftsprüfern ausführen. Das freilich ist nicht etwa Ausweis von Transparenz. Ein solches Testat hilft vielmehr dabei, dass der Staat nicht so genau hinschaut.
Da lohnt ein Blick in den US-amerikanischen Tax Reform Act von 1969 für private Stiftungen. Er liest sich wie ein Weißbuch für die Verwechslung von Profit und Philanthropie, wie sie in Deutschland herrscht. Am wichtigsten war es damals für den Gesetzgeber, „das self-dealing zwischen den Stiftungen und ihren wesentlichen Stiftern zu verhindern“. Steuerbefreite Gelder sollten wirklich nur für gemeinnützige Zwecke zulässig sein. Denn für Stiftungen gilt die mäzenatische Grundregel: Wer sein Geld stiftet, der gibt es damit weg. „Die gestifteten Mittel sind nicht dazu da, das Ansehen des Unternehmens zu mehren – oder womöglich sogar seine Geschäfte“, rügt der Manager einer kleinen Stiftung. Das wäre eine Pervertierung der Stiftungsidee.
Bei Attac ist man hart
Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn es für die Überprüfung des Stiftungsgebarens nicht eine perfekte Bürokratie gäbe. Zum einen die Stiftungsaufsicht, zum anderen die Steuerbehörden. Freilich zeigt sich, dass doppelt gemoppelt nicht etwa besser hält. Die Stiftungsaufsicht erkennt die Stiftung an und überprüft regelmäßig, ob ihr Vermögen auch erhalten bleibt. Ob sich Überschneidungen zwischen dem Unternehmen und der Stiftung ergeben, sieht die Aufsicht nicht. „Wir schauen uns nur die Stiftung an“, sagt ein Mitarbeiter der Bezirksregierung, die für die Bertelsmann-Stiftung zuständig ist.
Die Oberfinanzdirektion wiederum kümmert sich um die Prüfung der laufenden Geschäfte. „Ein wichtiger Prüfungspunkt ist dabei jeweils auch die Einhaltung des Gebots der Selbstlosigkeit nach Paragraf 55 der Abgabenordnung“, teilt die Oberfinanzdirektion mit – und schränkt sogleich ein. Es liege in der Natur der Sache, dass der Zweck einer Unternehmensstiftung vielfach dem Unternehmenszweck zumindest nahestehe. „Das ist gemeinnützigkeitsrechtlich bis zu einem gewissen Grad zulässig.“
Kenner der Stiftungsszene können über solche Ausführungen nur schmunzeln. Das Land Nordrhein-Westfalen könne es sich gar nicht leisten, die Interessenkollisionen der Bertelsmänner allzu penibel zu prüfen. „Dafür ist Bertelsmann zu groß geworden, ein solches Unternehmen vertreibt man einfach nicht“, kommentiert einer.
Dass die Oberaufsicht über Gemeinnützigkeit aber durchaus zubeißen kann, hat das Frankfurter Finanzamt an einem umstrittenen Beispiel gezeigt. Es entzog vergangenes Jahr die Gemeinnützigkeit – und zwar ausgerechnet der globalisierungskritischen Bewegung Attac. Die Begründung: Attac sei nicht konkret gemeinnützig, sondern „allgemein politisch“ tätig. Die Bewegung agiere wie eine Lobby.
Vielleicht sollten die Steuerbeamten aus Frankfurt ihren Gütersloher Kollegen einmal Nachhilfe geben.
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