Wieso, weshalb, warum

Inklusion Eigentlich dürften behinderte Kinder ihre Schule frei wählen. Die Debatte um dieses UN-Menschenrecht aber wird immer brutaler geführt
Ausgabe 32/2014

Betty hat den Stuhl erklommen. Jetzt sitzt sie auf dem erhöhten Platz. Sie hält ein Buch in ihren Händen und liest. Die Klasse ist mucksmäuschenstill. Alle lauschen Betty, aber niemand versteht sie. Denn das zwölfjährige Mädchen, das gerade den „Lesethron“ ihrer Klasse eingenommen hat, kann gar nicht lesen. Sie ahmt es nur nach. Und wird trotzdem hinterher rauschenden Beifall von ihren Mitschülern bekommen.

Betty, die einen Ast zu viel auf Chromosom 21 hat, gehört trotz ihrer schweren geistigen Behinderung zu ihrer Klasse in der Waldhofschule im brandenburgischen Templin. Ganz selbstverständlich. Auch wenn sie mit den anderen Schülern nicht mithalten kann, die vorher ihre Geschichten vorgelesen haben. So sind das Mädchen und ihre Schule sind zum Vorbild geworden. Sie haben den Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung gewonnen, weil sie die erste Schule mit echter Inklusion waren – und eine herausragende dazu.

Inklusion ist ein Wortungetüm. Es bedeutet so etwas Ähnliches wie „Integration behinderter Kinder“, nur noch ein bisschen mehr. Nämlich: Jedes Kind gehört von Anfang an dazu, auch dann, wenn es ein Handicap hat. Das hört sich zunächst einmal sehr sozial und gut an. Aber inzwischen gibt es deswegen einen kleinen Volksaufstand. Schließlich ist der Gewinn des Schulpreises durch die inklusive Waldhofschule bereits ein paar Jahre her. Im Jahr 2010 war das. Inzwischen sollen allerdings prinzipiell alle Schulen einen Thron für Kinder wie Betty errichten. Sprich: Behinderte müssen nicht mehr, wie es bisher üblich war, zwangsweise in eine Förderschule. Kinder mit Handicaps und ihre Eltern können sich jede Schule frei wählen, in die sie gehen wollen.

Im Prinzip ist das so einfach. In der Realität jedoch klappt die Umsetzung nicht immer. Und das hat verschiedene Gründen: Die Schulbehörden weigern sich noch häufig, behinderten Kindern den Zugang zu normalen Schulen tatsächlich zu gewähren. Diese Praxis ist zwar rechtswidrig, denn Deutschland hat im Jahr 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Das bedeutet, diese Konvention ist Gesetz in Deutschland; es macht die freie Schulwahl für behinderte Kinder zu einem Menschenrecht.

Zweitens funktioniert Inklusion zwar in Dutzenden Modellschulen. Längst gibt es neben der Waldhofschule viele andere, die Kinder mit Handicaps erfolgreich mitlernen lassen; die Bertelsmann-Stiftung etwa zeichnet seit 2009 inklusive Schulen mit dem Jakob-Muth-Preis aus. Die Liste der Preisträger ist ansehnlich. Aber die Schule um die Ecke kann Inklusion oft nicht. Dort fehlt es dafür an vielem. Mangelndes Geld, Haltung, Fortbildung – das sind die drei Hauptgründe, die allerorten für die Probleme genannt werden.

Inklusion ist eigentlich eine sehr achtsame und sensible Angelegenheit. Es sind große Emotionen im Spiel. Aber der Ton in der öffentlichen Debatte ist regelrecht brutal geworden, seit auch die Autoren der Feuilletons gemerkt haben, dass Inklusion nicht länger nur ein Wort ist, sondern Wirklichkeit wird. Ein „soziales Experiment“ werde da exekutiert, heißt es. Und dann ist die Rede davon, dass die „Gleichmacherei der 1970er“ wieder da sei. Aber: Dass behinderte Kinder Rechte haben, davon schweigen viele gern. Die UN-Konvention, auf der die Inklusion fußt, wird häufig nicht einmal genannt.

Bruch der UN-Konvention

„Wie kann man so verwegen sein, ein debiles Kind in ein Gymnasium zu geben!“ Die Frau, die das sagt, ist Elternsprecherin eines Gymnasiums. Für sie bricht eine Welt zusammen, wenn sie vom „Fall Henri“ hört. Henri ist ebenfalls ein Down-Kind, und seine Mutter war so frech, das Menschenrecht auf Inklusion für ihren Jungen ernst zu nehmen und ihren Sohn einfach bei der nächstgelegenen Schule anzumelden. Es handelt sich dabei um ein ziemlich exklusives Gymnasium im baden-württembergischen Walldorf. Inzwischen hat sich das Gymnasium entschieden, sich zu weigern, Henri aufzunehmen. Ohne Zweifel ein klarer Bruch der UN-Konvention.

In der nachfolgenden Debatte fühlte man sich ein bisschen an das Jahr 1933 erinnert. Damals wurden in Deutschland die Grundrechte der Bürger abgeschafft. Und nun, im Jahr 2014, wurde Henri sein Menschenrecht verweigert. So einfach ist das. Aber das sich anschließende öffentliche Bedauern galt nicht etwa dem Jungen, sondern „der armen Schule, die ein debiles Kind aufnehmen muss“. Inklusion gerne, schimpft die Elternvertreterin des Gymnasiums Walldorf, die ihren Namen nicht nennen mag. „Aber, bitteschön, nur, wenn das Kind die Voraussetzungen mitbringt!“

Inklusion ins Gymnasium, das ist der Musikantenknochen der hiesigen Schuldebatte. Wie soll das auch gehen: Inklusion inmitten der Exklusivität? Deutschland hat traditionell ein exklusives Schulsystem. Die dreigliedrige Schule wurde lange als geradezu gottgegeben angesehen. Und Förderschulen gehören gar nicht zum allgemeinen Schulwesen, sie sind sozusagen das Kellergewölbe. Sie entwickelten sich historisch aus den Schulen für Schwachsinnige oder Hilfsschulen, die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Sonderschulen umbenannt wurden. Inklusion kann da kopfmäßig eigentlich nicht klappen. Jedenfalls nicht auf Anhieb.

Dabei ist bereits wissenschaftlich bestätigt, dass die Inklusion funktionsfähig ist und für die behinderten Kinder sogar zu besseren Leistungen führt. So haben etwa die letzten Studien der Bildungsforscherin Petra Stanat unter Viertklässlern zeigen können, dass Kinder mit Handicaps in Regelschulen mehr und schneller lernen, als wenn sie Förderschulen besuchen. Sie erarbeiten sich einen Lernvorsprung von einem halben Jahr bis zu einem Jahr. Der Vorteil des inklusiven Unterrichts sei „überraschend groß“, sagte Stanat, die Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ist. Sie selbst habe mit diesen Ergebnissen „nicht gerechnet“.

Die Studie untermauert ältere Untersuchungen des Erziehungswissenschaftlers Hans Wocken. Der hatte festgestellt, dass kognitive Fähigkeiten und IQ von behinderten Kindern in Förderschulen abnehmen. Wocken, der sich selbst als „Botschafter der Inklusion“ bezeichnet und in die deutsche UNESCO-Kommission „Inklusion“ berufen wurde, erlangte einige Berühmtheit, weil er sagte, an Förderschulen herrsche „kognitive Friedhofsruhe“. Er weigerte sich, weiter von Förderschulen zu sprechen, „denn sie fördern nicht“. Der treffende Begriff sei Sonderschulen.

Der kurze Frühling ist vorbei

Die Eltern behinderter Kinder waren zunächst glücklich, als die UN-Konvention ratifiziert wurde. Denn sie beendete ihren Spießrutenlauf durch die Behörden. Falls sie ihr Kind nämlich nicht in das deutsche Sonderschulsystem mit neun eigenen Schulformen (von lern- bis geistig behindert) und über 400.000 Schülern stecken wollten, bekamen sie es mit den Bürokraten zu tun. So war es vor der Konvention. Dann kam eine kurze Phase, in der mit den Behörden ziemlich viel möglich war.

Inzwischen aber ist der kurze Frühling wieder vorbei. Während nämlich die Schulbehörden (mehr schlecht als recht, aber immerhin) beginnen, Inklusion möglich zu machen, bekommen die Eltern nun die ganze Härte ihrer Mitmenschen zu spüren. „Erst haben sie Kinder mit Downsyndrom umgebracht, dann haben sie sie ,in Watte gepackt‘ und de facto in Sonderschulen weggesperrt, jetzt wissen sie nicht mehr, was sie tun sollen“, sagt Petra Dorrmann gerne. Sie spielt auf die Nazis und die Hilfsschulen an. Die Filmemacherin ist wütend, Dorrmanns Tochter hat Trisomie 21. Die Mutter ist es leid – wie so viele Eltern behinderter Kinder. Sie, die so viel kämpfen müssen, sie mögen nicht mehr kämpfen.

Rebecca Saunders hat auch eine Tochter mit Downsyndrom. Sie sagt: „Inklusion ist ein Weg, es geht nur Schritt für Schritt.“ Aber das Recht, dass ihr Kind eine Schule ihrer Wahl besucht, das wird sich Saunders nicht mehr streitig machen lassen. „Ich weigere mich darüber zu diskutieren, ob meine Tochter auf der Straße gehen darf, ohne angeglotzt zu werden. Ob sie auf eine öffentliche Schule gehen darf. Ob sie leben darf. Diese Zeiten sind vorbei.“ Dann läuft ihr eine Träne herunter. Eine. Danach ist sie wieder klar und stark.

Inklusion muss man lernen

An Dorrmann, Saunders und ihren Töchtern kann man sehen, wie kompliziert Inklusion auch da sein kann, wo die Schule die Kinder nicht zurückweist. Die beiden Frauen bringen ihre Töchter auf eine Privatschule, die Inklusion auch sofort zu ihrem Aushängeschild machte. In der Klasse sind zusätzlich ein Sonderpädagoge und ein Schulhelfer. Ideale Voraussetzungen und dennoch stellte die Inklusion alles vorher Dagewesene auf den Kopf. Manchmal fühlen sich jetzt die Mitschüler ungerecht behandelt. „Wenn sich die Trisomie-Kinder falsch verhalten, dann müssten die doch auch ins Silentium“, kritisieren zwei Jungen. Silentium heißt das Nachsitzen an der Schule, es wird zum Beispiel ausgesprochen, wenn jemand dreimal zu laut war.

Aber was ist gerecht? Was ist der Umrechnungsfaktor für Strafarbeiten zwischen normal und behindert? Wenn ein „normales“ Kind dreimal zu laut ist – und das „behinderte“ Kind fünfmal? Inklusion führt jede Normalitätsvorstellung ad absurdum. Das muss man lernen. Und da muss man viel erklären, zum Beispiel, dass der Name Down-Syndrom nicht daher kommt, dass die Kinder immer down, also depressiv, wären. Das dachten die Klassenkameraden der beiden Trisomie-Kinder von Saunders und Dorrmann lange.

Rebecca Saunders hat noch eine andere Wahrheit. Ihre Tochter erträgt den Klassenrat nicht, jene Versammlung am Freitag, bei der die Schüler Demokratie üben. Blöderweise müssen die Schüler dabei immer lange still im Kreis sitzen und einander zuhören. Saunders’ Tochter wirft sich dann schon mal aus Protest auf den Boden, was ihre Mitschüler nervt. „Ich bin wütend, wenn ich höre, wie das passiert“, sagt Saunders. „Dieses Verhalten zeigt sie normalerweise nicht. Offensichtlich frustriert, drückt sie so ihre Langeweile aus – und das interpretieren die anderen Kinder dann als ‚behindert‘. Dabei ist es der Fehler des Lernmodells, nicht des Kindes.“

Wer wissen will, wieso das mit der Inklusion so kompliziert ist, muss sich auch den Fall Sylvia Löhrmann anschauen. Löhrmann ist eine Grüne, die Inklusion schon richtig und gut fand, als die meisten Deutschen noch nicht mal das Wort kannten. Sie hat sogar einmal den Jakob-Muth-Preis für Inklusion überreicht. Seit Löhrmann aber Schulministerin in Nordrhein-Westfalen ist, hat sich das geändert. Jetzt scheint Inklusion für sie keine Herzensangelegenheit mehr zu sein, sondern ein Pokerspiel. Als der Städtetag in NRW im vergangenen Jahr ausrechnete, dass echte Inklusion über 100 Millionen Euro kosten würde, da blockte und trickste das Land. Inklusion, sagte Löhrmann als Ministerin, müssten Kommunen und Schulträger bezahlen. Es handle sich dabei um „keine zusätzliche Aufgabe“.

Aber der Verwaltungsterminus „zusätzliche Aufgabe“ ist auch so ein Wort: In Nordrhein-Westfalen bedeutet es, dass das Land den Schulträgern erst dann zur Hilfe kommt, wenn eine Aufgabe mehr als 4,5 Millionen Euro im Jahr kostet. 100 Millionen gegen 4,5 Millionen. Das ist eine Differenz von 95,5 Millionen. Oder 95,5 Prozent. Und vielleicht beschreibt diese Zahl ziemlich exakt, wie weit die exklusive Normalität derzeit noch von Inklusion entfernt ist.

P.S. An der Schule von Petra Dorrmann und Rebecca Saunders wurde die Zahl der Schulhelferstunden gerade von 25 auf zwölf halbiert. „Die Debatte ist eine Täuschung“, sagt Saunders dazu: „Ohne die Finanzierung kann Inklusion nicht gelingen. Was die Politik sagt und was sie wirklich macht, steht in einem groben Widerspruch.“ Im Moment steht zu befürchten, dass das noch schlimmer wird.

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