Koloniale Technik

WO UND WANN DIE ZEIT BEGINNT Der Wettbewerb um den besten ersten Sonnenaufgang des Jahrs 2000

Auf Gisborne treffen jeden Morgen die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages. Das kleine neuseeländische Hafenstädtchen am Pazifik - 32.000 Einwohner, 2400 Sonnenscheinstunden im Jahr, vier Busverbindungen täglich - ist die östlichste Stadt der Welt. Bis zur Datumsgrenze sind es nur zwei Längengrade und ein paar Südseeinseln. Am Neujahrsmorgen genau um 5.45 Uhr geht hier die Sonne des dritten Jahrtausends auf: 180.000 Besucher werden am Strand erwartet, um den magischen Moment mitzuerleben.

Kurz darauf wird in Gisborne der »Beat des neuen Millenniums« angeschlagen, während in Neuseelands Hauptstadt Wellington eine vierzig Tonnen schwere bronzene Millenniumsglocke die Zukunft einläutet. Der Takt der neuen Zeit - er wird von Neuseeland aus vorgegeben.

Gisborne ist der Ort der Verkündigung. Nach Neuseeland zogen alle, die aus den überfüllten frühindustrialisierten Metropolen Mitteleuropas ausbrechen wollten, um am anderen Ende der Welt den Himmel auf Erden zu finden. Seine reiche, unberührte Natur gleiche dem Paradies, seinen Bewohnern biete es Wohlstand, Frieden und Gerechtigkeit, für Investoren und Emigranten ebne es den Weg in eine sichere Zukunft.

Von Neuseeland führt der Weg zurück ins Paradies, es wollte immer schon das Land am Beginn der Zeit sein. Dafür war es Zeit seiner Geschichte im Krieg: gegen die Natur, gegen die betrogenen Urbewohner und vor allem gegen die ablaufende Zeit des Millenniums, die tausend Jahre vor dem letzten Weltgericht. Zwischen 1840 und 1980 war hier jedes dritte Jahr ein Kriegsjahr. Erst zur Jahrtausendwende ist Neuseeland nun endlich wieder da, wo es immer schon am liebsten war: dem Rest der Welt um einen Tag voraus.

Doch dieser Tag ist ein geliehener. Neuseeland ist das Morgenland der Greenwich-Zeit. Auf der Washingtoner Meridian-Konferenz im Oktober 1884 entschieden sich 25 Nationen dafür, den nullten Längengrad genau durch das Royal Observatory von Greenwich bei London zu legen. Von hier aus wurden 180 Längengrade jeweils nach Osten und nach Westen gezählt. Das neue System zog ein Netz von exakten Ortsangaben und Zeitzonen über die Welt, mit dessen Hilfe eine genaue Orientierung ermöglicht wurde. Es war eine koloniale Technik: die Kolonial- und Seemacht England sicherte sich mittels eines überlegenen Zeichensystems seine Herrschaft über den Globus. Die Datumsgrenze selber war historisch gesehen ein Abfallprodukt der Greenwich-Einigung und kam vor lauter Eurozentrismus im Washingtoner Abkommen gar nicht vor. Doch es ist der Datumssprung, der die Phantasie der Menschen beschäftigt - nur der astronomische Universaltag beginnt noch immer um Mitternacht in Greenwich. Greenwich selber ist inzwischen Geschichte. Das berühmte Royal Observatory wurde nach Cambridge verlegt, der Sitz der Koordinierten Weltzeit ging 1955 nach Paris, und jener berühmte Nullmeridian verläuft nach Messungen amerikanischer Militärsatelliten jetzt etwa 100 Meter östlich der alten Messing-Markierung.

Gleichwohl nennt sich Greenwich nach wie vor »Heimat der Zeit« und baut für das Jahr 2000 einen gigantischen Millennium Dome. Es konkurriert mit pazifischen Inselstaaten, die wie Neuseeland mit Festivals, Wettbewerben und Paraden den Countdown zum Jahr 2000 zählen. Das kleine, christlich missionierte Königreich Tonga ist ebenfalls stolz darauf, das Land zu sein, in dem »die Zeit beginnt«. Und die Kiribati-Inseln, früher zu beiden Seiten der Datumsgrenze gelegen, haben ihre östlichen Inseln sogar kurzerhand mehrere Zeitzonen überspringen lassen und deren vorderste in »Millennium Island« umgetauft, um nun mit weitem Abstand - doch unter Inkaufnahme einer erheblichen Zacke in der Datumsgrenze - im Wettbewerb um den Morgen in Führung zu gehen. Ein wenig erstaunlicher Vorgang, wenn man weiß, mit wieviel internationaler Aufmerksamkeit und finanziellem Ertrag die Sieger im Medien- und Touristengeschäft um den besten ersten Sonnenaufgang des dritten Jahrtausends rechnen können.

Wo also beginnt die Zeit? Die Zählung der Tage hat zahlreiche Ursprünge. Das Jahr 2000 ist nichts anderes als der Geburtstag des Stifters der christlichen Weltreligion (der allerdings nach historischen Untersuchungen im Jahre 4 »vor Christus« geboren worden sein soll). Schreiben wir das Jahr 2000, zeigt der jüdische Kalender das Jahr 5760 seit Weltbeginn, der chinesische Kalender das Jahr 4698 seit der Herrschaft Huang Tis, der muslimische Kalender das Jahr 1421 seit Mohammeds Auswanderung nach Medina, usw. Die christliche Zeitrechnung ist bei uns erst im 8. Jahrhundert »nach Christus« durch die Karolinger eingeführt worden, die das Jahr mit dem 1. Januar beginnen ließen und die Zeit nicht länger seit der Erschaffung der Welt zählten.

Galt im Mittelalter noch in jedem Herrschaftsgebiet ein anderer Kalender, so ist die Zeitberechnung seitdem keineswegs einfacher geworden. Die Linearzeit wird in der Physik heute mit einer solchen Exaktheit gemessen, daß noch der Lauf der Erde um die Sonne zu unpräzise ist. Wir täuschen uns, wenn wir die Zeitmessung für ein natürliches Ergebnis von Tages- und Jahreszeiten halten, vom Kreislauf des Lebens unter der Sonne. Die Cäsiumuhr, die Frequenzen mißt, die beim radioaktiven Zerfall des Cäsiumatoms entstehen, hat die Zeitmessung längst von der Sonne unabhängig gemacht. Manche Regeln, die die internationale Atomzeit nun wiederum mit der mittleren Sonnenzeit in Übereinstimmung bringen, sind so komplex, daß sie gar nicht mehr bemerkt werden. Das Jahr 2000 ein Schaltjahr? Auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit, ist die Zahl doch durch vier teilbar. Tatsächlich gilt schon seit der Kalenderreform von 1582 durch Papst Gregor XIII. die Regel, daß Jahre, die durch hundert teilbar sind, keine Schaltjahre sind - mit einer Ausnahme: den Jahren, die durch vierhundert zu teilen sind. Der 29. Februar 2000 ist also ein Tag, den es nur alle vierhundert Jahre gibt, happy birthday!

Ironischerweise gehen sogar die meisten Millenniumsuhren, die den Countdown zum Jahr 2000 zurückzählen, mittlerweile falsch: sie sind nicht auf Schaltsekunden eingestellt, die unregelmäßig eingefügt werden, um die Atomzeit mit der Sonnenzeit in Einklang zu halten.

Und doch soll trotz aller Physik und Geschichte zur Jahrtausendwende die Zeit ein bißchen neu beginnen. Selbst der Papst versprach im Heiligen Jahr einen »neuen Frühling christlichen Lebens«. Das Jahr 2000 wird - so wollen es scheinbar alle - zur Schwelle in eine neue Zeit: es soll die Mühsal des Winters (der Geschichte) überwinden und die Gläubigen von Heidentum und Ketzerei reinigen. Es soll den Menschen der Zukunft schaffen: stark, mutig, kreativ und wieder gläubig. Matthew Dumbrell aus Londons Nobelviertel Hampstead aber hat ein englisches Pfund darauf verwettet, daß die Welt am 11. August 1999 um 12.50 Uhr untergeht - den Millionengewinn will er dann im Himmel anlegen.

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