Im vergangenen Jahr fanden Archäologen im äthiopischen Hochland einen jüngeren Bruder der Urgeschichtsfrau "Lucy". Die entdeckten Schädelfragmente sind rund 2,5 Millionen Jahre alt. Der neue Urmensch wurde "garhi" genannt, was auf äthiopisch soviel heißt wie "Überraschung". In der Entwicklung vom Primaten zum Menschen ließe er sich, schrieb damals das Boulevardblatt BZ, als "ein Wesen im Übergangsstadium" einordnen. Weil der Fund "die Geschichte der Menschheit verändert" und "wenige Monate vor Ablauf des Jahrtausends" gemacht worden sei, titelte die Zeitung: "Der Millennium-Mann".
Der Urmensch ist zum Jahr 2000 wieder in aller Munde - die Archäologie boomt. Genetische Untersuchungen teilten uns kürzlich mit, dass der heutige Mensch
ige Mensch nicht vom Neandertaler abstammen kann. Jüngste Knochenfunde sollen Beweise für urgeschichtlichen Kannibalismus erbracht haben. Und die Kämpfe unter den ersten Menschen schafften es vor wenigen Wochen sogar auf das Titelblatt eines Hamburger Nachrichtenmagazins. Und dann dieser Fund in der Wüste: "Garhi" erwies seinem Namen alle Ehre, denn dass nicht der Messias, sondern der Urmensch zur Jahrtausendwende wiedererschienen ist, war tatsächlich eine Überraschung.Tatort der ChronologieBesitzt das Jahr 2000 also doch eine besondere Bedeutung? Und woher rührt die bleibende Aufmerksamkeit für unsere Ahnen aus dem Morgenland? Nachdem während der Millenniumsnacht keine Zeitsprünge oder sonstige Unregelmäßigkeiten bekannt geworden sind, gibt nun ein Symposion im nordrhein-westfälischen Neandertal Anlass zur ersten Bilanz des dritten Jahrtausends. Vei dem Kongress wird es um das Verhältnis von Zeit und Geschichte gehen. Denn das Neandertal ist nicht nur eine Oase der Prähistorie, sondern auch ein Tatort der Chronologie.Spurensicherung, Rekonstruktion von Phantombildern und Verfolgung anthropologischer Beweisketten bilden die Kriminaltechniken der Wissenschaft. Die historische Sensation des Neandertalers beruhte tatsächlich schon kurz nach seinem Fund 1856 auf dem Zusammentreffen des Urmenschen mit einem seiner akademischen Verfolger. Ihre Berühmtheit haben die Knochenreste dem drei Jahre später erschienenen Werk Die Entstehung der Arten von Charles Darwin zu verdanken. Erst die darin veröffentlichte Evolutionstheorie gab dem Frühmenschen einen Platz im neu errichteten Stammbaum des Menschen. Es war allerdings ein schlechter Platz: der Neandertaler galt als wüster Vormensch, seine Linie als ausgestorben.Den Namen hat der deutsche Urmensch von einem frommen Schulmeister namens Joachim Neander, der im 17. Jahrhundert in einer Grotte Kirchenlieder dichtete. Seine Kompositionen sind noch immer in den Kirchengesangbüchern zu finden. Neander, zu deutsch "Neumann" oder "neuer Mensch", gewann lokale Berühmtheit und wurde Namensgeber einer nahen Ortschaft. So ergab es sich, dass der bis dahin älteste Mensch als "neuer Mensch" bekannt wurde. Ausgerechnet der Prototyp des Antimenschen wurde mit der Vision von einer besseren Zukunft verbunden. Und das ist bis heute so geblieben.Die Falltür der GeschichteIm Jahr 2000 sind archäologische Knochensplitter und idealisierte Traumfiguren erneut miteinander verbunden. Die ursprüngliche Fundstätte des Neandertalers wurde vor wenigen Wochen wiederentdeckt, die Ausgrabungen haben neu begonnen. Doch diesmal wird es vor allem darum gehen, die Phantasien freizulegen, die sich mit dem Neandertaler verbunden haben: dem vermeintlichen Menschen-Ungeheuer, das ebenso die Vergangenheit bewohnt wie literarische Zukunftswelten. In vielen futuristischen Kunstfiguren ist - schon rein äußerlich - der Neandertaler-Mythos wiederauferstanden. Im Science-Fiction-Jahr 2000 feierte der Urmensch schon immer fröhliche Urstände.Die Geschichtsphilosophie des Millenniums hat einen gemeinsamen Ursprung aller Menschen konstruiert, sie hat im Namen des Gleichen die Ungleichheit vertreten. Denn stets galt der Neandertaler, unterlegener Vetter des Cro Magnon-Menschen, als wild und unzivilisiert - nur als Ausgangspunkt menschlicher Evolution. Er wurde in den Schaukästen der Museen zum Fundstück gemacht, zur transparenten Erscheinung, deren Fleisch und Blut auf dem Altar der Reproduktionstechnik geopfert wurden, um uns die Macht über die Geschichte zu geben. Die Geschichte der Zukunft handelt von der Negierung dieses Fremden, Unkontrollierten, Gegensätzlichen - vom selbstgerechten Richten über die Geschichte. Neandertal ist überall.Das Jahr 2000 will die Zukunft besitzen, weil es von der panischen Angst besessen ist, in einer Art Zwangshandlung zum archaischen Ritual zurückzukehren. Mit paradoxem Ergebnis: das Ausgeschlossene kehrt zurück, die Angst wird zur Realität, die Vorgeschichte Wirklichkeit. Der neue Mensch des christlichen Himmelreichs, der Aufklärung oder der Biotechnik - das ist der Neandertaler, der negativ abgebildet ist.Der Sprung ins dritte Jahrtausend sollte die Menschheit erneuern und auf die Zukunft vorbereiten. Entsprechend galt das Attribut "2000" hinter Produktbezeichnungen, Thesenpapieren und anderen Versprechungen als Kennzeichen vermeintlicher Zukunftsfähigkeit, als eine Art himmlisches Siegel für Rechte am Mythos der Zeit. Doch die Jahrtausendwende hat bislang nicht als Pforte zur Ewigkeit gedient, sondern ist zur Falltür der Geschichte geworden. Wenn die Weltgeschichte, wie Friedrich Schiller gesagt hat, das Weltgericht ist, dann ist der Richter sein eigenes Opfer. Die hochgeschraubten Erwartungen an Gerechtigkeit und Frieden im dritten Jahrtausend wollen weniger die Zukunft gestalten als auf der Leiter der Chronologie der Vergangenheit entkommen.Angst vor der Zeit Blicken wir aus dem Neandertal nach Hannover: "Seien Sie dabei, wenn die Welt von morgen Premiere hat! ... Entdecken Sie einen neuen Planeten! ... Erleben Sie die Zukunft - etwas früher als sonst!" An Verheißungen spart die Expo-2000-Stadt nicht. Sie hat alle eschatologischen Register gezogen. Globales Jahrtausendereignis, bessere Wirklichkeit, nie gesehenes Universum - die Expo weiß, dass ihr nur die Überwindung von Raum und Zeit den Glanz der Geschichte verleihen kann. Eine trügerische Hoffnung, die sich davon nährt, den Urmenschen abhängen und alle zu ihm führenden (später missing genannt werdenden) Links entfernen zu können.Oder schauen wir nach London: im Millennium Dome, der drittgrößten Konstruktion der Welt, überblickt niemand die Zukunft, sondern jeder nur die stundenlangen Warteschlangen auf ihre einzelnen Kapitel. Der neue Mensch braucht Selbstbeherrschung, denn die vorweggenommene Zukunft schafft Tatsachen, nicht Möglichkeiten. Deshalb hat Elias Canetti die Ordnung der Zeit "das vornehmste Attribut aller Herrschaft" genannt. Die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft sichert das Bestehende. Sie führt zu nichts anderem als zur Konservierung der Vergangenheit. "Futurisieren ist zukunftsvernichtend", wie Vílem Flusser bemerkt hat. Indem es die Urzeit abqualifiziert, verewigt es ungewollt selbst urgeschichtliche Verhältnisse.Unsere kulturellen Messgeräte stecken voll von der Angst vor der Zeit. Vergänglichkeit und Zukunft sollen wenigstens beobachtet, erfasst und strukturiert werden, wenn sie schon nicht zu kontrollieren sind. Die Zeitmessung wurde deshalb von der subjektiven Erfahrung getrennt. Schon mittelalterliche Bibelgelehrte stellten komplizierte Hochrechnungen über das Alter der Erde und das voraussichtliche Ende der Geschichte auf. Der Durchbruch zur modernen Kalender- und Uhrentechnologie aber kam mit dem Übergang zur Linearzeit im 17. Jahrhundert, gestützt auf die Himmelsmechanik von Kepler und Galilei. Sie säkularisierte den Glauben an die Göttlichkeit der Zeit. Doch die 2000-Gestik kehrt hinterrücks zum archaischen Kosmos zurück.Der Jahrtausendwechsel wollte vergessen machen, dass die Zeit ein Geheimnis bleibt - doch vor allem deswegen wurde er gefeiert. Das dritte Jahrtausend hat versucht, zu seinem Beginn einen Nullpunkt zu schaffen, der die historische Unschuld der Schöpfung wiederherstellt. Der Mythos vom ewigen Kreislauf verband sich mit Endzeitglauben und Zeittechnologie. Doch die Uhrgeschichte ist der Urgeschichte nicht entkommen. Die Überwindung der Zeit ist wiederum gescheitert. Kurzum, nicht homo sapiens sapiens lebt weiter, sondern der Neandertaler. Der Mensch, der ewig leben will, muss sterben; nur wer nicht überlebt, kehrt immer wieder. Das ist das Geheimnis von Übergängen in andere Zeit-Räume.Das Jahr 2000 als ÜbergangsritusLeben, so hat der Ethnologe Arnold van Gennep in einem berühmten Buch über Passagenrituale geschrieben, bedeute "unaufhörlich sich trennen und wieder vereinigen, Zustand und Form verändern, sterben und wiedergeboren werden. Es bedeutet handeln und innehalten, warten und sich ausruhen, um dann erneut, aber anders zu handeln." Ob einer zur nächsten Altersgruppe wechselt, heiratet oder in ein anderes Land zieht, jedes Mal ist er ähnlichen Initiationsriten unterworfen. Denn sich symbolisch von der Zeit zu trennen, heißt, sie zu gewinnen. Auch die alten Zeremonien zum Jahreswechsel folgen diesem Muster - die Zukunft gewinnt also nicht der genoptimierte Klon-Mensch, sondern der übergangene Milennium-Mann der Prähistorie, das "Wesen im Übergangsstadium" (BZ).Die Schwellenrituale im Jahr 2000 erhalten erst im Neandertal ihr wirkliches Gesicht. Wir erblicken am überlieferten Ursprung ein Stück verdrängter Tiefenhistorie. Der Jahrtausendwechsel konfrontiert uns mit einem Erneuerungsritus, dessen Bilanz vom Neandertal aus neu gezogen werden muss. Der wirkliche Ablauf der Geschichte war folgendermaßen: Homo sapiens sapiens hat den Platz an der Spitze der Evolution übernommen. In einem Zwischenstadium hat er seine Vorfahren ermordet. Zuvor war er selbst eine Art "Neandertaler". Diese Wahrheit hat der moderne Mensch verdrängt, weil er glaubte, die Zukunft eigens gewinnen zu müssen. "Der Triumphzug des Menschen", schrieb der Spiegel, zielt "direkt auf die Vernichtung der Neandertaler. Nach dem Sieg erstrahlte die Welt des Menschen herrlicher denn je."Die strahlende Chronologie des Jahrtausendwechsels ruht auf den zermalmten Knochen der prähistorischen Vorfahren Christi. Indem wir uns zum Jahrtausendwechsel Diese Außenstände der Zeitrechnung klar machen, folgen wir selbst zyklischen Zeitstrukturen, Die sich als Übergangsriten verstehen lassen: Die Initianten lösen sich von ihrer Schuld, überwinden Die alte Ordnung und kehren als neue Menschen zurück. Das ist unsere Hoffnung - und das ist schon seit je her unsere Geschichte.Christian Holtorf ist Referent auf dem Internationalen Symposium des Wissenschaftszentrum NRW und der FU Berlin: Neanderthal 2000 - Chronologie der Gegenwart, vom 11. bis 13. Mai im Neanderthal Museum, Tel.: (02104) 979797
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